Читать книгу Wo der Himmel die Prärie berührt - Rebecca Maly - Страница 5
KAPITEL 1 Montana, 1867
ОглавлениеIn der Morgendämmerung strich ein Kojote durch das hüfthohe Gras, sein gelbgrauer Pelz war perfekt an die Farbe der trockenen Prärie angepasst. Er verschmolz mit den Halmen, wurde zu einem flüchtigen Schatten im Gräsermeer.
Mary hockte mit gerafftem Rock hinter einem Manzanita-Strauch und beobachtete den vierbeinigen Räuber genau. Der Kojote hatte sie noch nicht bemerkt. Neugierig schnüffelte er mit hocherhobener Nase nach dem Planwagen.
Als sich Mary nun erhob, stieß er ein erschrockenes Bellen aus und stob mit gesträubtem Fell und herabgebogener Rute davon. Sie beachtete das Tier nicht weiter. Von einem einzelnen Kojoten hatte ein junges Mädchen nichts zu befürchten.
Gähnend lief sie zu einem kleinen Wasserlauf und wusch sich hastig. Ihr Magen knurrte schon, seitdem sie mitten in der Nacht davon aufgewacht war, doch nun wurde er richtig laut. Warum nur konnte sie sich nicht einfach an den Hunger gewöhnen wie an andere Fährnisse ihres Lebens auch?
Bis zum Frühstück dauerte es noch eine Weile. So war es stets. Und wie an anderen Tagen würde sie das flaue Gefühl bei den anstehenden Aufgaben begleiten.
In dieser Sache war der Vater streng. Unzureichende Tüchtigkeit wurde mit dem Riemen und fehlenden Mahlzeiten belohnt. Daher säumte Mary nicht und blieb nur so lange am Wasser, wie unbedingt nötig war. Das eisige Nass ließ ihre Wangen und Hände rosig werden. Hastig kämmte Mary ihr kastanienbraunes Haar aus und flocht es neu. Es war dicht und wellig, der Zopf reichte ihr bis hinab zur schmalen Hüfte. Ihr Haar, so fand sie, war das Hübscheste an ihr, der Rest war gefällig, aber mehr auch nicht. Das war vielleicht auch gut so, denn die hübschen Mädchen bekamen immer Probleme. Flach wie ein Waschbrett war sie angeblich, und genauso knochig.
Sie steckte den Hornkamm in die Tasche ihrer Kittelschürze, in der sie auch ein Stückchen trockenes Brot aufbewahrte. Vom Planwagen zog Kaffeegeruch herüber. Hoffentlich ließ Vater ihn nicht wieder anbrennen. Ihm war es gleich, wie bitter das Gebräu wurde, solange es nur wach machte.
Mary lief auf leisen Sohlen durch das hohe Gras. Schopfwachteln piepsten unsichtbar im Gebüsch. Hinter einer Gruppe hartblättriger Eichen entdeckte sie zwei dunkle Schemen. Wie große, von Wind und Regen rund geschliffene Felsen standen die Büffel da. Der vordere hob den zottigen Kopf und entdeckte Mary sofort. Sie hielt einen Moment lang inne, nahm das Stückchen Brot aus der Tasche, legte es lockend in die vorgestreckte Hand.
Langsam ging sie näher, streifte mit den Fingerspitzen durch das Gras, die Warnungen vor gefährlichen Spinnen missachtend. Der Bison hielt beim Fressen inne. Seine kleinen, dunklen Augen musterten sie. Aus dem Maul tropfte dünnflüssiger Speichel.
„Komm, George, komm“, flüsterte Mary und streckte die Hand mit dem Brot weiter aus. Ein warmer Atemstoß, ein feuchtes Maul. Der Bison nahm den Bissen mit der Zunge.
Mary rieb über die breite, wollige Stirn. Warmer, vertrauter Moschusgeruch entstieg dem Fell, an dessen Spitzen sich Morgentau gesammelt hatte. Georges Buckel war höher als sie. Es erschien ihr jeden Tag aufs Neue wie ein Wunder und Geschenk Gottes, dass sie diesem gewaltigen Tier so nahe kommen durfte.
Sie kraulte den Bison hinter dem Ohr, dann haschte sie nach dem dünnen Seil, das am Nasenring befestigt und, damit es nicht beim Grasen störte, um die Hörner gewickelt war.
George schnaufte missmutig und ergab sich seinem Schicksal. Mary löste die Hobbel, eine Fessel aus zwei Lederriemen an den Beinen, mit der die Tiere in der Nacht keine großen Schritte machen konnten. „Komm, gehen wir, George.“
Der Büffel trottete hinter ihr her zum Planwagen, Brother kam in ungelenken, hüpfenden Schritten nach. Wo George hinging, da folgte er.
„Na, das hat gedauert, Mädchen“, murrte der Vater. Er war ein schlanker Mann, sehnig wie ein Windhund, mit einem spitzen Gesicht und großen, wässrigen Augen. Sein dichter, dunkelblonder Backenbart, auf dessen Pflege er großen Wert legte, lenkte von der wachsenden Glatze ab. Auch an diesem Morgen hatte er direkt einen Hut aufgesetzt. Mary wusste, dass ihr Vater eitel war. Es gehörte wohl zu seinem Beruf als fahrender Barbier und Verkäufer von Salben, Tinkturen und allerlei Wunderdingen, selbst das beste Aushängeschild für seine Produkte zu sein. Doch sie hätte nie gewagt, das zu erwähnen.
Mary machte George am Planwagen fest und begann, Klettensamen und Grannen aus dem dichten Fell zu zupfen. Der Bison schlug mit dem Kopf. Er mochte den Vater nicht. Joshua Jerobe hatte das Gespann in einem Würfelspiel gewonnen. Nach drei Jahren des Herumziehens war es zu seinem Markenzeichen geworden. Nun kannte jeder auf ihrer langen Reisestrecke den Barbier und Heiler mit dem Bisongespann.
Die Tiere mussten stets ihren Dienst tun, auch wenn es bedeutete, dass sie von morgens bis abends schufteten. Joshua Jerobe duldete keine Schwäche, und er sparte nicht mit der Peitsche.
Vom ersten Tag an hatten die Bisons Mary fasziniert. Sie waren über die Jahre Freunde geworden, und sie konnte es nicht ertragen, wenn der Vater bös zu ihnen war. Deshalb murrte sie auch nicht, weil Joshua es mehr und mehr ihr übertrug, sich um George und Brother zu kümmern.
„Setz dich, Mary“, erklang die knurrige Stimme des Vaters. Es war ungewöhnlich, dass sie aßen, bevor sie mit ihren Arbeiten fertig war. Sie sah sich fragend zu ihm um.
Er zog die Nase hoch und spuckte ins Feuer. „Worauf wartest du? Setz dich, oder willst du dort festwachsen? Ich muss gleich noch Waren vorbereiten, dann kannst du anschirren.“
„Natürlich, Vater.“
Sie kniete sich neben das Feuer, goss Kaffee ein und roch sofort, dass er verbrannt war. Der Vater schob ihr eine Schüssel mit Getreidebrei herüber, in den er den Rest der Bohnen vom Vortag sowie einige papierdünne Streifen Speck eingerührt hatte.
Mary aß hastig. Sie war so hungrig, dass sie den faden Geschmack kaum bemerkte.
Joshua und Mary Jerobe hatten sich ihr karges Leben zu zweit gut eingerichtet, ein jeder kannte seine Aufgaben. Das war nicht immer so gewesen. Nach Mutters Tod war der Vater zu einem Fremden geworden. Er litt unter bösen Launen, beschimpfte und schlug seine Tochter, als mache er es ihr zum Vorwurf, dass sie die Grippe überlebt hatte, die ihm die Ehefrau nahm.
Nun, drei Jahre später, verstand Mary, dass ihm die Trauer beinahe den Verstand genommen hatte und er die Wut über das erlittene Schicksal an ihr ausließ. Dass auch sie einen wichtigen Menschen verloren hatte, schien er in seinem Wahn nicht zu bemerken. Sollten sie nicht lieber zusammenrücken und an dem festhalten, was geblieben war? Sie hatten schließlich noch einander, oder nicht?
Mary mochte nicht darüber nachdenken, wie sie selbst empfunden hatte. Von einem Tag auf den anderen war ihre kleine Welt zusammengebrochen. Und doch hatte sie den Kopf nicht hängen lassen. Die Verzweiflung des Vaters war ihr zur Mahnung geworden. Sie durften sich nicht beide verlieren, wenn sie in dieser harschen Welt bestehen wollten.
Noch immer schmerzte jeder Gedanke an Mutter Amalia, deren Aufgaben sie klaglos übernommen hatte und mittlerweile sogar gut beherrschte.
„Sind die Banner bereit?“, fragte der Vater und riss sie damit aus den Gedanken.
„Gewaschen und gestärkt.“
„Gutes Mädchen.“ Er hatte einen kleinen Klappspiegel vor sich aufgebaut und schmierte sich nun die Zähne mit einer von ihm entwickelten Mischung aus Salbei, Bleichmittel und Salz ein. Kräftig rieb er mit einem faserigen Stöckchen darüber.
Marys Laune sank. Er würde erwarten, dass sie sich ebenfalls mit diesem widerlichen Gebräu behandelte, von dem ihr noch stundenlang die Lippen brennen würden. Unser Lächeln ist unser Kapital, würde er dann wieder sagen.
Und recht hatte er. Jedes Mal, wenn sie an einen neuen Ort kamen, war die Mixtur eine ihrer besten Einnahmequellen. Vater war Barbier und, wie böse Zungen es nannten, ein Quacksalber.
Er zog Zähne, rasierte Gesichter, öffnete Furunkel und renkte Glieder ein. Gelegentlich kurierte er nicht nur den Durchfall der Kinder eines Farmers, sondern Pferd und Hund gleich mit. Dazu verkauften sie eine große Auswahl von Salben, Tinkturen, Kräutern und Heilwässerchen. Als Besonderheit predigte Vater auch noch aus der Bibel und bot im Anschluss Wundermittel gegen jegliches Leiden an. Läppchen, Holzstückchen und Bruchstücke von Hostien, deren Wirkmächtigkeit vom Kontakt mit einer Heiligenfigur stammten. Was selbstverständlich ausnahmslos erstunken und erlogen war. Es gab keine Heiligen, niemand segnete die Stoffstückchen, und die Hostien buk Mary selbst.
Auf der Seite des Wagens war ein großer Zahn aufgemalt, weiß und eben, wie er sein sollte. Wie das Lächeln der Jerobes.
„Warst du schon einmal in John’s Grove, Vater?“
„Nein, und nun trödeln wir nicht länger, es gilt, Geld zu machen.“
„Ja, Vater.“
Mary wusch eilends das wenige Geschirr und verstaute es, dann putzte sie die beiden Bisons heraus und schirrte sie an. Sie trugen umgearbeitete Pferdetrensen, der Rest bestand aus Vorderzeug, das auch Ochsen gepasst hätte. Das Leder war geölt und poliert. Bunte Bänder und Kupferglöckchen lenkten zusätzliche Aufmerksamkeit auf das ungewöhnliche Gespann.
Brother schüttelte unwillig das zottige Haupt. Er hasste das enervierende Bimmeln.
Mary war sich sicher, dass die Tiere den Feiertagsschmuck auch mit dem Aufenthalt in einer Siedlung verbanden, was für sie meist ein unangenehmes Erlebnis war. Jeder wollte die Tiere anfassen, wofür Joshua Jerobe ebenfalls Geld verlangte.
Im Planwagen klimperte und klirrte es, als Vater die letzten Tinkturen in kleine Fläschchen umfüllte. Wenn Mary dem Vater bei der Herstellung half, enthielt sie sich jedes Kommentars. Vieles von dem, was aus Kräuterextrakten und Mineralen hergestellt wurde, war sicherlich wirksam und nützlich, aber bei den Wundermitteln kam mehr zum Einsatz. Zu den Geheimrezepturen gehörten Pilze, verbranntes Horn und Knochen, Bisonwolle, kleine Frösche, glänzende Käferflügel – nach den Biestern musste sie oft von morgens bis abends suchen - sowie manchmal etwas von ihrem Haar, viel öfter aber Urin. Angeblich steigerte Jungfrauenurin bei Männern die Potenz und bei Frauen die Fruchtbarkeit. Schon beim Gedanken daran, wie die Gutgläubigen die Tinktur tranken, verzog Mary den Mund.
Es war Mittag, als sie mit großem Lärm und Getöse in John’s Grove einzogen. Es war ein Straßendorf, wie es seiner unzählige gab. Eingebettet in Buschland, weiche Hügelketten und Weideland reihten sich Blockhäuser und das eine oder andere aus gefügten Feldsteinen aneinander. Es gab eine kleine Kirche mit weißgetünchter Fassade und einem etwas abseits errichteten Glockentürmchen, das auf Mary ein wenig verloren wirkte. Wie ein Hund, der vor die Tür gejagt worden war.
Sie lenkte das Bisongespann im Stehen vom Kutschbock aus. Brother drängte sich wie immer ein wenig zur Deichsel hin, näher an seinen Kameraden George, der den Einzug in den Ort gelassener vollzog. Mary zupfte an den Leinen und war sich des Aufsehens, das sie erregte, voll bewusst. Ein zartes, dünnes Mädchen in einem unscheinbaren Kleid, den Kopf mit einem weißen Tuch bedeckt wie eine brave Quäkerin, lenkte ein Gespann halbwilder Tiere. Und das offensichtlich mühelos.
Der Vater ging in seinem dunkelbraunen Anzug voraus, ein großes, schlichtes Kreuz um den Hals, auf dem Kopf einen Zylinder, der ihn aussehen ließ wie einen gelehrten Herrn.
Er schlug mit großer Geste auf eine umgehängte Trommel. Seine Stimme war geschult wie die eines Predigers, und genauso klang er auch, als er ankündigte: „Joshua Jerobe und sein Büffelgespann sind in eurer Stadt, liebe Leute, verehrte Damen, geschätzte Herren! Schmerzt der Zahn? Ist der Rücken verrenkt? Jerobe wird es richten! Magenschmerzen, Pein im Kopf, Flatulenzen? Im Nu ist das vorüber, habt ihr erst einmal die richtige Pille, das richtige Wässerchen. Kommt her, liebe Leute, kommt her!“
Auf einen Wink ihres Vaters fuhr Mary einen Bogen auf dem Dorfplatz und hielt an, während ihr Vater weitere Produkte anpries und die Menschen auf die Straße geströmt kamen. Dieser Ort war wie so viele andere zuvor. So wie auch jeder Tag war wie der andere.
Die Leute arbeiteten viel und hart, und vom täglichen Einerlei gab es bis auf Markttag und Kirchgang keine Abwechslung. John’s Grove hatte vermutlich noch nie Besuch von Gauklern oder einer fahrenden Menagerie erhalten. Die Jerobes waren also eine echte Attraktion.
Schnell waren der Stand aufgebaut und die Ware ausgestellt. Der Vater richtete unterdessen seinen Arbeitsplatz unter freiem Himmel ein. Mary nannte es den Folterstuhl. Ein schweres Möbel mit allerlei Riemen und Spangen, mit denen der leidgebeutelte Patient ruhiggestellt wurde. Wie immer kamen jene zuerst, die am meisten litten und sich keinen anderen Rat mehr wussten, als sich einem fahrenden Barbier und Wunderheiler anzuvertrauen. Und es kamen jene, die sich am Leid anderer ergötzen wollten.
Vater legte seine Werkzeuge aus, die zum Zähneziehen, für den Aderlass und das Schienen von Knochen nötig waren, daneben fanden Klistiere, Messer, Salbentöpfchen und Verbände Platz. Seine einstudierte Nummer ließ ihn ein wenig so wirken wie einen Folterknecht, der seinen Opfern vor dem peinlichen Verhör die Daumenschrauben zeigte.
Ein Väterchen, gebeugt und die Hand auf die geschwollene Wange gedrückt, hielt sich bislang im Hintergrund, doch Mary ahnte, dass sie den ersten Patienten vor sich sah. Die meisten Leute hatten ganz zurecht Angst vor der Behandlung.
„Tretet näher, gute Leute, treten näher. Scheut euch nicht, hier wird euch mit Gottes Hilfe wohlgetan!“, rief Mary und breitete einladend die Arme aus. „Die erste Behandlung des Tages ist umsonst!“
Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Der Alte mit dem schmerzenden Zahn drängte sich überraschend energisch nach vorn. „Ich, fangen Sie mit mir an, Mister!“
Der Vater legte ihm eine Hand auf die Schulter und führte ihn mit gewinnendem Lächeln zu dem Behandlungsstuhl.
Drei Jungen, die im wachsenden Publikum standen, stießen sich gegenseitig an und machten schlechte Scherze. „Gleich schreit der alte Dempsey wie ein abgestochenes Schwein, wollen wir wetten?“
Mary hasste Jungen wie diese. Ihr Spott machte es den Menschen, die ohnehin schon litten, noch schwerer. Doch sie wusste ein Mittel gegen solche Burschen. Vater durfte sie nur nicht dabei erwischen.
Die Gelegenheit war günstig. Aller Augen waren auf den Alten gerichtet, der sich nach kurzer Inspektion des entzündeten Zahns auf dem Stuhl festschnallen ließ und dabei vor Angst zitterte.
Mary nahm eine Schleuder und einen Stein aus der Kittelschürze und schätzte die Entfernung ab.
„Quiek, quiek, schrei doch!“, keifte der Anführer der drei, dann schrie er plötzlich selbst schrill auf und presste mit hochrotem Kopf die Hände zwischen die Beine. Als er sich mit Tränen in den Augen nach dem Übeltäter umsah, hatte Mary die Schleuder längst wieder in der Tasche verschwinden lassen und stapelte an ihrem Verkaufsstand Tiegelchen mit Warzensalbe. Ein Grinsen konnte sie sich dennoch nicht verkneifen. Noch ein dummer Spruch, und dem Nächsten tun die Nüsse weh, dachte sie grimmig. Sie hatte noch niemals danebengezielt.
Mary war geübt mit der Schleuder. Der Vater hatte es ihr schon in jungen Jahren beigebracht, um Präriehunde, Wachteln und mit etwas Glück den einen oder anderen Wüstenhasen zu erlegen.
Manchmal zogen sie lange durch unbewohnte Gegenden, und da war jeder kleine Jagderfolg ein Segen. Das war auch schon so gewesen, als die Mutter noch gelebt hatte. Damals reisten sie noch mit einem Pferdegespann von Ort zu Ort. Mutter hatte es nicht gern gesehen, wenn Mary auf die Pirsch ging, doch da die Ehe der Jerobes keinen Sohn, sondern nur ein Mädchen hervorgebracht hatte, akzeptierte sie es. So bekam Mary Übung mit der Schleuder.
Ein Junge, nur wenige Schritt von ihr entfernt, der sich im Gegensatz zu einer hektischen Wachtel kaum vom Fleck rührte, war für sie ein sicheres Ziel.
Vater setzte die Zange an, und der alte Mann begann zu schreien. Mary fühlte, wie sie sich anspannte, auch wenn sie sich eigentlich längst daran gewöhnt hatte. Sie wusste, was nun von ihr erwartet wurde. Schnell füllte sie ein Glas mit selbstgemachtem Kräuterschnaps.
In diesem Moment riss Vater dem Alten mit einer dramatischen Geste den Zahn heraus. Es folgten ein langgezogener Schrei, saftige Flüche und eine Welle von Gestank.
Die Zuschauer applaudierten, während Joshua Jerobe den schwärzlichen Zahn herumzeigte und jeden darauf hinwies, dass er ihn perfekt, mitsamt der Wurzel, entfernt hatte.
Dem alten Mann liefen Blut, Speichel und Eiter aus dem Mund. Er war kreidebleich, die Augen glasig, aber das Schlimmste hatte er überstanden.
„Mister, Mister, spülen Sie den Mund aus und spucken Sie die verderbten Säfte aus. Hier haben Sie Wasser.“ Mary drückte ihm ein Wasserglas in die Hand und machte zugleich die Lederriemen los, mit denen der Patient fixiert war. Das alte Väterchen trank, gurgelte und spuckte, dann ließ es sich mit einem Seufzen in den Stuhl zurücksinken.
„Besser?“
Er nickte nur.
„Dann haben Sie hier noch etwas Kräftiges. Einen guten Kräuterschnaps, den kann ich zur Nachbehandlung sehr empfehlen. Den ersten Schluck gurgeln und ausspucken, den zweiten können Sie gern trinken.“
Er nahm das Glas mit beiden Händen und setzte es gierig an. Es musste fürchterlich in der Wunde brennen, doch der Alte bekam eine rosige Gesichtsfarbe, gurgelte lange und spuckte aus. „Teufel noch eins“, knurrte er, dann setzte er das Glas wieder an und trank es leer.
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