Читать книгу Wo der Himmel die Prärie berührt - Rebecca Maly - Страница 8

KAPITEL 3

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Es war früher Morgen, und in den Bäumen zirpten die Zikaden einen schrillen Chor, als Mary endlich die Kraft dazu fand, sich aufzusetzen. Einen Moment lang wusste sie nicht mehr, was passiert war, dann erinnerte sie sich wieder. George hatte sie so zugerichtet. War in dem Versuch, sie vor dem Räuber zu retten, über sie hinweggetrampelt.

Ein Messer.

Der Mann hatte ein Messer gehabt, mit dem er ihr beinahe die Kehle aufgeschnitten hatte. Stattdessen war der Bison verletzt worden und der Räuber geflohen. Mary berührte ihre Kehle und ertastete eine Blutkruste. Nur ein Kratzer.

Sie versuchte sich aufzusetzen und sackte sofort mit einem Stöhnen zurück. In ihrem Oberschenkel pochte dumpfer Schmerz, auch ihr Kopf tat weh.

Vorsichtig versuchte sie es noch einmal, langsamer nun.

Im Osten verfärbte sich der Himmel soeben in einen zarten Goldton. Auf den Grashalmen schimmerte Tau wie winzige Perlen. Einige der Perlen waren blutrot. „George!“, schrie Mary und sah im selben Moment die dunkle Lache neben sich. Ihr Herz begann zu rasen. Sie kroch zum Planwagen und zog sich daran hoch. „George! Wo bist du?“

Von Weitem konnte sie Brother sehen, daneben, auf dem Boden, lag George. Die Angst ließ sie ihren eigenen Schmerz vergessen. Sie humpelte über die stoppelige Weide. Sofort drohte ihr der stehende Bison mit gesenkten Hörnern.

Mary ignorierte die Gefahr und sank neben George in die Knie. Ihr tierischer Retter lebte. „Mach mir doch nicht so eine Angst“, wisperte sie.

Vorsichtig tastete sie durch die dichte Wolle. Das Fell war dunkel verkrustet, aber trocken. Groß war die Erleichterung, als sie die Wunde schließlich fand. Sie war nicht lebensgefährlich und hatte sich bereits wieder geschlossen. Mit etwas von der guten Heilsalbe ging es ihm sicherlich bald wieder besser.

„Du hast mich gerettet, danke.“ Mary kraulte den Bison hinter den Ohren, bis der zufrieden grunzte und den Hals lang machte, damit sie ihn unter dem Kinn kratzte. „Später, George“, sagte sie mit wachsender Unruhe und mühte sich auf die Beine.

Ihr Vater hätte längst zurück sein sollen. Sie biss die Zähne zusammen und humpelte zum Wagen zurück. Mit jedem zurückgelegten Schritt fiel ihr das Laufen etwas leichter. Vielleicht war es auch die Angst, die ihr neue Kraft verlieh.

Sie hatte selbst nicht daran geglaubt, den Vater in der Nähe des Planwagens oder darin zu entdecken. Nur gehofft, dass Gott es noch einmal gut mit ihnen meinte.

„Vater?“, rief sie verhalten. Tränen bahnten sich ihren Weg, aber Mary drängte sie zurück. Jetzt zu weinen würde nichts besser machen.

Entschlossen stieg sie auf den Kutschbock und öffnete ein kleines Fach, in dem der Vater einen Revolver aufbewahrte. Er war voll geladen, aber bis auf ein paar Zielübungen nie genutzt worden. Mary machte sich kurz wieder mit der Waffe vertraut. Sie lag schwer und fremd in ihrer Hand, und sie hatte sich eigentlich vorgenommen, den Revolver niemals zu benutzen. Nun schob sie ihn in ihre Rocktasche und machte sich mit weichen Knien auf den Weg. Ob eine Schusswaffe sie gestern hätte retten können? Nein. Das Fach knarrte fürchterlich, zudem hätte sie Licht gebraucht und war aus der Übung.

Hatte der Fremde den Vater gefunden und seine Drohung in die Tat umgesetzt? Es durfte nicht sein! Bestimmt hatten seine Anschuldigungen keinen wahren Kern. Der Vater war vielleicht ein Scharlatan, wie manche sagten, aber ein Mörder war er bestimmt nicht!

Es wurde nun schnell heller, und das fahle Blau des frühen Morgens wich weichen Gelbtönen. Es roch nach Erde und Herdfeuern. Mary verließ die Gemeinschaftsweide und hinkte den Fahrweg hinab, der in die Ortsmitte führte. Hier musste auch der Vater auf dem Weg zum Saloon vorbeigekommen sein. Sorgfältig schaute sie in jeden Winkel, doch bis auf einen streunenden Hund war weit und breit kein Lebewesen zu sehen.

Im Dorfkern waren vor vielen Häusern hölzerne Bürgersteige errichtet worden. Ein Krämer sperrte soeben seine Tür auf und stellte eine kleine Auslage mit Blechgeschirr und Werkzeugen ins Freie.

Zwei Häuser daneben befand sich der Saloon. Die Tür war zugesperrt und ließ sich auch nicht öffnen, indem sie daran rüttelte. Ratlos drehte sich Mary um die eigene Achse, erspähte aber niemanden, den sie nach dem Verschollenen hätte fragen können.

Im Saloon war es still, neben der Tür schlief ein Obdachloser seinen Rausch aus und hatte sich auch durch sie nicht wecken lassen.

Vielleicht hatte der Vater einen anderen Rückweg genommen? Zwischen den schlichten Holzhäusern, aus denen die Ortschaft errichtet worden war, gab es überall schmale Laufgänge. Zögernd betrat sie den, der dem Saloon am nächsten lag. Schnell fand sie sich in einer Art Hinterhof wieder. Es gab mehrere Schuppen, dazwischen Holzkisten. Eine kleine Gruppe Hühner scharrte im Staub, und an einer durchhängenden Leine trocknete Wäsche, die sich träge in einer Brise bewegte. Laub und ein wenig Unrat fingen sich in einem Winkel, von dem ein weiterer schmaler Gang abzweigte. Mary ging weiter, getrieben von einem immer stärker werdenden Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein.

Sobald sie den Hof verlassen hatte, schlug ihr beißender Uringeruch entgegen. Sie rümpfte die Nase. Hier erledigten wohl Betrunkene und eventuell auch manche Anwohner ihre Notdurft.

Sofort musste sie an die oft wiederholten Worte des Vaters denken, dass er lieber frei wie ein Vogel umherzog, als sich niederzulassen. Den überall dort, wo sich viele Menschen drängten, blühten Bösartigkeit und gab es Gestank und Krankheit.

Ein Stöhnen ließ Mary zusammenzucken. Wie von selbst umschloss ihre Hand den Revolvergriff in der Rocktasche.

„Wer da?“, rief sie. Ihre Stimme klang dünn, unsicher und viel höher als sonst. Sie fühlte ihr Herz bis hinauf in den Hals klopfen. Als alles still blieb, wagte sie sich weiter vor.

Lag dort jemand? Ein Betrunkener? Ein Wilder gar? In dem Winkel war es so dunkel, dass sie kaum etwas erkennen konnte. Der Mann trug nur einen Schuh. Seine Kleidung war so fleckig und voller Straßenstaub, dass die Farbe nicht mehr zu bestimmen war. Er lag zwischen mehreren abgerissenen Flugblättern, die der Wind hierhergetrieben hatte, und den zersprungenen Überresten eines kleinen Fässchens.

„Mister?“ Dieses Mal klang Mary nicht mehr ganz so unsicher.

Der Kerl regte sich, dann sah sie sein rot und blau geschlagenes Gesicht. „Vater? Oh mein Gott, Vater, was ist mit dir?“

Er öffnete das linke Auge zu einem Schlitz, das rechte war derart zugeschwollen, dass er damit wohl tagelang nicht mehr würde sehen können.

„Mary“, krächzte er.

Sofort war sie bei ihm, nahm seine Hand und wisperte allerlei beruhigenden Unsinn, dass sie nun bei ihm war und alles wieder gut würde.

Wer hatte Vater so zugerichtet? Wie lange lag er schon hier?

„Komm, ich helfe dir auf.“ Sie fasste ihn unter den Armen.

Er keuchte, dann biss er die Zähne zusammen und grollte vor sich hin wie ein verwundeter Bär. Mary versuchte, ihn nicht merken zu lassen, wie sehr er ihr wehtat, wenn er sein Gewicht auf sie stützte. Wie sollten sie nur die ganze Strecke zurück zum Wagen schaffen, wenn es den Vater schon alle Kraft kostete, aufrecht zu stehen, wobei er eine Hand gegen die Häuserwand stützte, während er die andere auf Marys Schulter gelegt hatte?

„Du blutest, Vater.“

„Messer“, erwiderte er nur. „Wird mich nicht umbringen. Gehen wir.“

Sie bahnten sich langsam ihren Weg durch den erwachenden Ort. Die Menschen schenkten ihnen kaum Beachtung, hatten allenfalls Mitleid für Mary. Auf Fremde mochte sie wie eine Tochter wirken, die ihren betrunkenen Vater nach einer durchzechten Nacht heimbrachte. Den Wunderheiler würde in diesem Zustand wohl kaum jemand wiedererkennen, so dreckig wie seine Kleidung war. Vater hielt den Kopf gesenkt, den wiedergefundenen Hut tief ins Gesicht gezogen, als fürchte er auch in dieser Situation noch um seinen Ruf.

Zum Glück war kaum jemand unterwegs, und diejenigen, die um diese Uhrzeit auf der Straße waren, sahen betreten in eine andere Richtung. Vermutlich war es besser, dass man nicht weiter auf sie achtete. Falls Vaters Peiniger noch in der Nähe war, würde er sonst womöglich wieder angreifen.

Mary zweifelte nicht daran, dass sie vom ein und demselben Mann attackiert worden waren. Er musste den Vater später in den Nacht noch gefunden haben und glaubte womöglich, sein Ziel, ihn umzubringen, bereits erreicht zu haben.

Mit schlurfendem Schritt und zahlreichen Pausen erreichten sie schließlich den Planwagen. Mit großer Erleichterung sah Mary, dass George wieder auf den Beinen war und fraß. Wenigstens dem Bison ging es besser.

Der Vater ließ sich neben einem großen Speichenrad auf den Boden sinken und presste eine Hand auf die Stichwunde. Mit der anderen wies er unwirsch auf den Kutschbock. „Bring mir meine Waffe, Mädchen.“

Mary wusste im ersten Moment nicht, wie sie reagieren sollte. Vater hatte ihr zwar beigebracht, wie man schoss, ihr aber zugleich untersagt, den Revolver je ohne seine Erlaubnis anzufassen. Sie wollte nicht, dass er auch noch böse auf sie wurde. Also ging sie zum Kutschbock, stieg hinauf, öffnete die Klappe und nahm zugleich den Revolver unauffällig aus der Rocktasche. Als sie wieder beim Vater ankam, waren dem die Augen zugefallen.

Erschrocken rüttelte sie an seiner Schulter. „Du musst wach bleiben.“

„Ja, ja“, murrte er und nahm die Waffe an sich.

„Ich hole Verbandszeug, du blutest.“

Er widersprach nicht, und schon das zeigte ihr, wie schlecht es um ihn stand. Momente später lag er ausgestreckt im Spätsommergras. Sie hatte seine Kleidung zur Seite geschoben. Alles war voller Blut, altes und frisches gemischt, verklebt mit Stofffetzen und Dreck. „Meine Güte, wer hat dir das nur angetan?“, murmelte Mary, während sie die Verletzung vorsichtig reinigte, auch wenn sie genau wusste, wer ihrem Vater aufgelauert hatte.

„Kannte ich nicht. Irgendein Geisteskranker.“

„Vater, der Mann war auch hier, er hat nach dir gesucht.“

Zum ersten Mal sah Joshua Jerobe seine Tochter richtig an. Mary bemerkte das Erschrecken in seinen Augen. „Er hat nach dir gefragt, ich habe ihm nichts verraten, das schwöre ich.“ Sie wischte heftiger über die Wunde als beabsichtigt, während sie beinahe lautlos weinte.

„Es hätte nichts geändert, gefunden hat er mich ja doch. Hat er dich unsittlich berührt?“, fragte der Vater scharf.

Mary schüttelte schnell und heftig den Kopf. „Nein, nicht dass ich wüsste. Er hat mir ein Messer an den Hals gedrückt, mich beinahe umgebracht. Wenn George nicht gewesen wäre …“

Sie wischte sich die Wangen trocken, straffte die Schultern. Es war vorbei, kein Grund, sich weiter bang zu machen. Tränen würden die Vergangenheit auch nicht ungeschehen machen.

„Das Vieh hat wirklich einen Narren an dir gefressen.“

„Er ist verletzt.“

Der Vater fluchte. „Schwer? Wir sollten hier schleunigst verschwinden.“

Also war der Fremde noch immer hinter ihnen her. Wenn er nun herausfand, dass sein Opfer nicht gestorben war … „Wird er wiederkommen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Gib mir das!“

Mary zögerte, ihm die Nadel und das Rosshaar zu reichen, das sie zum Nähen der Stichwunde verwenden wollte. „Wäre es nicht besser, wenn ich …“

Die Ohrfeige kam schneller, als sie es vom Vater in seinem geschwächten Zustand erwartet hatte. „Seit wann widerspricht eine Tochter ihrem Vater?“

„Es tut mir leid, verzeih. Ich bin durcheinander.“

Verbissen schloss er die Wunde mit wenigen Stichen. Sie lag tief am Bauch, fast schon an der Leiste. Hätte der Fremde die dort verlaufende große Ader getroffen, wären dem Vater nur noch wenige Minuten Lebenszeit geblieben. Aber er hatte Glück gehabt und war fidel genug, um seine Tochter zu schlagen. Mary fragte sich, ob ein anderer Mann sich wohl erkundigt hätte, wie es ihr ging. Ihr womöglich Trost zugesprochen hätte. Stattdessen brannte ihre Wange wie Feuer.

„Darf ich nach George sehen?“

„Du spannst an.“

Mary sah ihn ungläubig an, Protest zu äußern wagte sie nicht noch einmal.

„Nun stier nicht wie eine dumme Kuh. Wenn er noch laufen und fressen kann, kann er auch arbeiten.“

„Ja, Vater.“

Um dem Bison wenigstens noch etwas Rast zu gönnen, packte sie zuerst ihr Hab und Gut zusammen und verstaute alles im Wagen. Erst dann versorgte sie George und spannte an.

Der Vater bestand darauf, selbst auf dem Kutschbock zu sitzen und die Zügel in den Händen zu halten. Sofort trieb er die Büffel unter viel Peitschenknallen in einen zügigen Trab, doch Mary machte sich keine Illusionen. Selbst ein Reiter auf einem nur mittelmäßigen Pferd würde sie nach einem halben Tag Vorsprung noch mühelos einholen.

Der Fremde schien nicht von der Art, die leicht aufgab. Wenn er wirklich glaubte, den Mörder seiner geliebten Frau zu jagen, würde er nicht eher Ruhe geben, bis er sie gerächt hatte.

Es würde mit dem Tod eines der beiden Männer enden, und vielleicht auch mit ihrem eigenen. Mary lehnte sich zur Seite und sah zurück. Der Wagen zog eine dichte Staubfahne hinter sich her, die zwischen den Sträuchern waberte, die beiderseits des Weges wuchsen. Sie meinte, Schemen in dem gelblichen Dunst zu erkennen, aber das konnte nicht sein, oder? Die Angst spielte ihr Streiche.

„Werden wir verfolgt?“, fragte der Vater mit schlohweißem Gesicht.

„Ich glaube nicht.“

„Du glaubst?“, fuhr er sie an, drückte ihr die Zügel in die Hand und lehnte sich mit der Pistole in der Hand zur Seite.

***

Seit zwei Tagen brannten die Kessel Tag und Nacht. Von früh bis spät klang das Hämmern von Äxten aus dem Wald. Timothy schleppte armdicke Baumstämme über mittlerweile ausgetretene Pfade zur Küste. Viel mächtiger wurden die Fichten hier nicht, vermutlich waren sie trotzdem uralt.

Die Sommer so hoch im Norden währten nur einige Wochen, doch dann brannte die Sonne so wie heute von einem strahlend blauen Himmel, und das beinahe Tag und Nacht. Die Büsche waren voller Vögel, von denen Timothy keinen mit Namen kannte. Ihre hellen Rufe irritierten ihn. Die gesamte Natur irritierte ihn. In jedem Winkel, auf jedem Fleckchen lebte etwas und regte sich. Auf dem Boden krochen und krabbelten Insekten umher, in den kleinen, bronzefarbenen Wasserpfützen zuckten winzige Kreaturen. Mit jedem seiner Schritte schreckte er wohl Hunderte von ihnen auf.

Schon jetzt vermisste er die Ruhe des Meeres, die Einfachheit.

Schweiß rann ihm von der Stirn, alles juckte. Mücken und Fliegen umschwirrten ihn, als sei er die einzige Nahrungsquelle weit und breit. Es war wie ein Fluch, dass ausgerechnet während ihres Landgangs der Wind ausblieb.

Timothy versuchte die Quälgeister mit der Hand zu vertreiben, während er sich energisch in den Riemen warf, den er quer über Brust und Schulter gelegt hatte. Der Baumstamm rumpelte hinter ihm her, blieb immer wieder an knorrigen Wurzeln und Zweigen hängen, die dicht über dem Boden ein enges Geflecht bildeten, zäh und unzerreißbar wie Stahlseile.

Die Bucht war angefüllt mit schwarzem Rauch und dem Gestank des Walspecks. Unter drei riesigen Kupferkesseln prasselten Feuer. Als Brennmaterial nutzten sie Holz, Flechten und die ausgelassenen Speckstücke. Der Qualm war beißend.

Die ältesten Fettstücke waren vier Monate alt und ranzig. Die Haut stank nach Verwesung. Es war eine widerliche Plackerei. Hatte Timothy zuvor noch leise vor sich hin geflucht, weil ihm die körperlich anstrengendere Arbeit zugeteilt worden war, so wollte er nun nicht mehr mit den Trankochern tauschen.

Er zog seine Last zum Holzlagerplatz, wo er bereits drei andere Baumstämme abgeladen hatte, legte den Zugriemen ab und begann, die Stämme mit Axt und Säge in handliche Stücke zu zerteilen.

Die Mannschaft hatte sich weit über den Strand verteilt. Nachdem sie monatelang auf der Windspirit zusammengesperrt gewesen waren, schien nun ein jeder froh, zu den Kameraden auf Abstand gehen zu können.

Timothy hatte seine Hängematte aus dem Schiff geholt und zwischen zwei Bäumen aufgespannt, darüber hing zum Schutz vor der Witterung ein gewachstes Leinentuch. In der Nacht legte er sich einen zerschlissenen Stoffstreifen übers Gesicht, damit ihn die Mücken nicht auffraßen. Ungefähr die Hälfte der Männer hielt es wie er und war der Enge der Mannschaftsquartiere entflohen.

Vaters wenige Habe lag auf dem Boden unter seinem Lager. Zwei größere Beutel enthielten alles, was sie gemeinsam besessen hatten. Timothy nutzte die freien Stunden, um auszuwählen, was er behalten und was weggeben sollte. Nun, am dritten Tag, war es erledigt und er würde sich wie die meisten Kameraden mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigen. Jeder Seemann konnte mit Nadel und Faden umgehen. Wer erst einmal gelernt hatte, große Segel zu flicken, der nahm es auch mit gerissenen Hosen auf.

Timothy zerteilte einen ganzen Baumstamm, dann schlug er die Axt in den nächsten, stapelte die Scheite und trug ein Bündel zum Feuerplatz.

„Hierher, Kleiner“, rief ihm Oyans zu, ein hagerer Matrose, der Timothy, so lange er denken konnte, unangenehm gewesen war. Er und sein Kumpan hatten damals Onkel Jacobs Leiche entdeckt, weshalb der Vater ihn vermutlich stets mit düsterem Blick bedachte.

Oyans stank aus dem Mund, der ein einziges Trümmerfeld abgebrochener und fauler Zähne war. Was ihn aber nicht davon abhielt, ein Großmaul zu sein, das jeden anging und sich über alle lustig machte, die es ihm nicht sofort mit der Faust vergalten. Sein steter Begleiter war Lester Bay, ein Glatzkopf von schwer zu schätzendem Alter mit kantigem Gesicht und einem Schnurrbart, dessen dünne, herabhängende Spitzen einen traurigen Eindruck machten. Wo Oyans laut war, war Lester Bay wortkarg, dafür kaute er schmatzend Kautabak und bleckte hin und wieder gelbe Biberzähne.

In den Häfen sammelte sich wirklich jeder Abschaum, dachte Timothy und erinnerte sich dabei an Vaters mahnende Worte, dass man alles Übel der Welt konzentriert in nur einer Hafenspelunke finden könne. Bay und Oyans gehörten zweifellos dazu.

Plötzlich wünschte sich Timothy, er hätte das Holz woanders hinbringen können. Eine unangenehme Spannung setzte sich zwischen seinen Schultern fest. Es fühlte sich fast ein wenig wie Angst an.

Das war doch absurd. Er hatte Jahre mit diesen Kerlen verbracht, und nun scheute er sich davor, ihnen einige Minuten unter die Augen zu kommen? Er dachte an die Warnungen seines Vaters, und einen Moment lang kam es ihm vor, als würde dieser an seiner Seite gehen. Timothy blinzelte. Da war nichts. Nur ein Tagtraum.

„Na los, beweg deinen hübschen Arsch hier rüber!“ Oyans lachte gackernd.

„Ihr habt es gut, sitzt den ganzen Tag nur herum.“ Er ließ den Armvoll Holz fallen. Eine plötzliche Bö drückte ihm genau jetzt schwarzen Qualm ins Gesicht. Er musste husten.

Die Männer lachten, und Oyans hielt ihm eine Flasche hin. „Hier, Junge.“

Mit tränenden Augen griff er danach, setzte an und nahm einen viel zu großen Schluck Branntwein. „Verflucht!“, krächzte er und gab den Schnaps zurück, bevor er japsend nach Atem rang. Vater hatte ihm stets verboten, das Zeug zu trinken. Jetzt wusste er auch, warum. Es schmeckte widerlich und brannte einem die Kehle weg.

Lester Bay schlug sich begeistert auf die Oberschenkel. Das würde Timothy für die nächsten Wochen auf dem Schiff zum Gespött machen, und er würde viel, sehr viel von dem widerlichen Zeug trinken müssen, um die Scham auszubügeln. Er seufzte tief. „Hat der Kapitän Schnapsrationen verteilt?“ Das tat er äußerst selten, damit die Männer sich nicht betranken. Nicht nur Onkel Jacob, sondern auch manch anderer Matrose hatte ein unrühmliches Ende gefunden, weil er bei schwerer See betrunken aus Krähennest oder Wanten gefallen war.

„Hat er, damit uns nicht langweilig wird.“ Bay hielt ihm erneut die Flasche hin, und wider besseres Wissen griff Timothy zu. Entschlossen, die Scham auszubügeln, kippte er einen ordentlichen Schluck herunter. Wieder fühlte es sich an, als würde flüssiges Feuer durch seine Kehle rinnen, doch diesmal war er darauf vorbereitet. Den Hustenreiz unterdrückte er erfolgreich und verzog den Mund zu einem grimmigen Lächeln. Hitze breitete sich in seinem Bauch aus und wich schnell einer angenehmen Taubheit.

Das war etwas ganz anderes als das Gefühl nach zu viel Dünnbier. Angenehmer. Heilsversprechend. Als könne er in der klaren Flüssigkeit seinen Schmerz verschwinden lassen.

Irritiert gab er die Flasche zurück. „Ich hab noch zu tun“,

sagte er schnell.

„Natürlich, Kleiner, aber heute Abend trinkst du mit uns. Geh zum Kapitän und fordere deine Ration, du bist alt genug.“

Der Kapitän, ein bärbeißiger Mann von fast sechzig Jahren, hatte ihm nicht nur seine Schnapsration ausgehändigt, sondern auch das Heuergeld, das sein Vater auf dieser Fahrt bis zu seinem Tod verdient hatte, dazu noch einen Bonus.

Er bot an, beides bis zum nächsten Hafen zu verwahren, doch Timothy hatte abgelehnt.

Am Abend saß er allein an einem kleinen Feuer neben seiner Hängematte und nähte das Geld sorgsam in den Saum einer Jacke und in den Boden seines Seesacks ein. Der Himmel zeigte noch immer ein zartes Blau. Im Sommer wurde es auf diesem Breitengrad nie richtig dunkel.

Timothy saß dicht am Rauch. Die Mücken tanzten in Schwärmen und hätten sich wohl nur zu gern auf ihn gestürzt, doch mittlerweile roch er wohl so sehr nach Qualm, dass es selbst diesen unersättlichen Biestern den Appetit verdarb. Seine Augen tränten, trotzdem warf er noch etwas feuchtes Moos nach.

Auf einem flachen Stein briet Walspeck, der durch den Rauch eine interessantere Note bekam. Der Schiffskoch hatte unter der Mannschaft frisch gebackenes Brot verteilt. Ohne Hefe waren es nur zähe Fladen, aber Timothy meinte, lange nichts so Gutes mehr gegessen zu haben.

Die Schnapsflasche stand unangetastet neben dem Feuer und lockte. Seit dem kurzen, angenehmen Rausch am Nachmittag dachte er darüber nach, sich entweder zu betrinken oder den Alkohol zu verkaufen. Er war ein kostbares Gut und zum Wegwerfen zu schade.

Timothy sträubte sich dagegen, darüber nachzudenken, was der Vater von ihm erwartete. Seine Trauer war Trotz gewichen. Traute Noah ihm denn nicht zu, sich allein auf dem Schiff zu behaupten? Er war schließlich siebzehn Jahre alt und längst kein Kind mehr. Wer die Arbeit eines erwachsenen Mannes tun konnte, der sollte auch wie einer behandelt werden, oder nicht?

Was sollte er in einer fremden Hafenstadt anfangen? Auf einem Schiff kannte er sich aus, an Land taugte er wohl nur dazu, einer von den Schauerleuten zu werden. Trägern, die dazu angeheuert wurden, Schiffsladungen zu löschen. Vater, wenn du mich siehst … Ich kann dir beweisen, dass ich es auf der Windspirit schaffe. Ich würde dich stolz machen und nicht eher ruhen, bis ich ein geachteter Harpunier bin.

Er blickte auf den Speer mit der funkelnden Stahlspitze, der seinem Vater gehört hatte. Der Vater hatte letztlich nicht gewollt, dass Timothy in seine Fußstapfen trat. Aber warum hatte er ihm dann in jeder freien Minute beigebracht, wie er den schweren Speer zu werfen hatte?

Vielleicht war er nicht mehr ganz bei Sinnen, als er mir das Versprechen abrang, überlegte er und wusste doch, dass es nicht stimmte. Es war der letzter Wunsch des Vaters gewesen. Timothy horchte tief in sich hinein und musste sich eingestehen, dass er vor allem eins hatte: Angst. Davor, das letzte Vertraute zu verlieren, was ihm geblieben war, und davor, an Land nicht zurechtzukommen.

Er könnte Vaters letztes Heuergeld darauf verwenden, ein neues Leben zu beginnen. Es würde ihm durch die ersten Monate helfen, selbst wenn er in Schwierigkeiten geraten sollte.

Prüfend strich Timothy über den Saum im Seesack. Das Geld war nicht zu fühlen. Sein Geheimversteck sah wie eine gewöhnliche Ausbesserungsarbeit aus. Zufrieden mit seinem Werk trennte er den abstehenden Faden durch und verstaute sein Nähzeug sorgfältig.

Er aß etwas, trank einen Schluck vom Schnaps und fühlte sich dabei rebellisch wie ein Aufständischer. Dann nahm er sein Schnitzmesser und ein Stück Bein zur Hand. Der Vater hatte ihm diesen Zeitvertreib beigebracht, mit dem sich auch etwas Geld verdienen ließ. Sie fertigten Schachfiguren und Steine für andere Spiele.

Mit dem wärmenden Schnaps im Blut widmete er sich einem einfachen Bauern, denn schon jetzt fühlte er sich nicht so sicher mit dem Messer wie sonst.

Timothy hatte soeben den Bauern fertig geschnitzt, als er sie hörte. Schwere Schritte arbeiteten sich durch das flache Küstenbuschwerk. Alarmiert sah er auf. Dort kamen Oyans und Lester Bay, Arm in Arm und eindeutig angetrunken. Der schweigsame Lester trug eine Flasche in der Hand, während Oyans mit ausufernder Gestik erzählte.

„Hey da, da ist er ja!“

Timothy hatte bis zum letzten Moment gehofft, dass sie zu einem anderen Feuer wollten, aber nein, auf ihn hatten sie es abgesehen.

„Na, Junge, hast deine Ration also bekommen? Nur anständig, dass du mit uns teilst, nachdem wir am Nachmittag so großzügig waren“, erklärte Oyans mit einem breiten Grinsen voller schwarzer Zahnstummel.

Lester Bay sagte nichts, griff ganz selbstverständlich nach Timothys fast voller Flasche, trank einige große Schluck und setzte sich dann mit einem Grunzen dicht neben seinen unfreiwilligen Gastgeber.

Oyans blieb stehen, wobei er tüchtig schwankte, und begann, eine seiner Frauengeschichten zu Besten zu geben. Timothy hörte sie wohl schon zum hundertsten Mal, und wie die anderen der Mannschaft zweifelte er stark daran, dass auch nur eine einzige davon der Wahrheit entsprach.

Diese handelte von einem hübschen jungen Mädchen mit großem Hintern, das immer ganz herrlich quiekte, wenn Oyans es von hinten nahm. Angeblich hatte sie sich unsterblich in ihn verliebt und wollte ihn unter einer einzigen Bedingung heiraten. Er musste sesshaft werden. Doch Oyans Liebe zur See war größer, deshalb hatte er sie verlassen.

Timothy glaubte ihm kein Wort. Er hatte zwar selbst noch kein Mädchen gehabt, aber wenn ihn eine Frau liebte und er sie, wäre es eine Schande, sie zu verlassen. Außerdem, wer hätte schon Oyans haben wollen, einen zahnlosen alten Widerling?

Der Seemann schwadronierte noch eine Weile über den prallen Apfelhintern, doch Timothy hörte ihm nicht weiter zu. Wehmütig richtete er seinen Blick ins Feuer.

Sollten die beiden sich doch zügig mit seinem Schnaps betrinken, so wichtig war ihm das Zeug nicht. Hauptsache, sie ließen ihn bald wieder in Ruhe. Wenn Vater hier wäre, hätten sie sich nicht mal in die Nähe gewagt.

Aber sie schienen gar nicht daran zu denken. Lester Bay legte ihm die Hand auf den Oberschenkel und drückte ihm die Flasche an den Mund. „Rein damit, sonst ist gleich nichts mehr da.“

Timothy wollte ablehnen, doch die Flasche stieß schmerzhaft gegen seine Schneidezähne, und er öffnete reflexartig den Mund. Als er die Flasche endlich mit den Händen wegschieben konnte, hatte er so viel getrunken, dass er meinte, ersticken zu müssen.

Das Lachen der beiden drang kaum an seine Ohren, so sehr war er mit dem Krampf beschäftigt, der ihn würgte. Seine Lunge brannte unbeschreiblich. Jemand schlug ihm auf den Rücken, doch das half kaum, wenn es das überhaupt sollte. Denn schon im nächsten Moment wurde er an den Schultern gefasst und die Flasche erneut an seinen Mund gesetzt.

Timothy musste schlucken, wenn es nicht wieder in seine Lungen geraten sollte. Er wehrte sich nach Leibeskräften, trat, boxte um sich, doch die beiden waren viel zu stark, und außerdem sah er nichts. Qualm war ihm in die Augen geraten, sie tränten wie verrückt.

„Lasst mich, ich will nicht!“ Er schrie, dann schloss ihm ein Faustschlag den Mund, und er spuckte Blut.

„Ihr Anteos haltet euch wohl für was Besseres“, knurrte Lester Bay und griff ihm ins Haar. Er zerrte Timothys Kopf herum und musterte ihn aus nächster Nähe. „Ich kannte mal einen Jungen wie dich. Der war sich auch zu fein, um mit uns zu trinken. Er sah dir sogar ähnlich.“ Er strich ihm mit zwei rauen Fingern zuerst sacht über die Stirn und bohrte sie im nächsten Moment tief in seine Wange.

Timothy war starr vor Angst. War seinem Onkel genau dasselbe zugestoßen? Er bäumte sich auf und schrie.

Bay riss seinen Kopf an den Haaren zurück, legte ihm den anderen Arm um die Kehle und drückte zu.

Als Timothy wieder zu sich kam, lag er zusammengekauert neben dem Feuer. Alles tat ihm weh und er fühlte sich, als würde der Boden versuchen, unter ihm wegzurutschen. Die Flasche, die ausgeleert vor ihm lag, kroch zur Seite und sprang dann wieder zurück.

Auf der anderen Seite des Feuers schliefen Lester Bay und Oyans. Lesters Hose hing ihm bis zu den Knien hinab. Aus seinem offenen Mund rann Speichel, und er schnarchte fürchterlich.

Timothy kannte nur noch einen Gedanken: Weg von hier, nur weg! Diese Ungeheuer durften nicht merken, dass er verschwand. Er rollte sich auf die Knie und wäre beinahe ins Feuer gefallen. Die Bäume um ihn herum verknoteten ihre Stämme zu Wellenmustern.

„Weg“, keuchte er, stützte sich erst auf alle Viere, raffte dann seine Habseligkeiten zusammen und stolperte davon.

Die Welt bestand aus tanzenden Schemen.

Timothy ging dorthin, wo es am dunkelsten war. Dort würde er sicher sein.

***

George war lahm und stolperte mit hängendem Kopf neben seinem Kameraden her. Brother, der die Hauptlast des Wagens zog, war am Ende seiner Kräfte. Selbst mit Gewalt waren die Bisons nicht schneller vorwärtszubewegen.

Es war höchste Zeit, dass sie sich einen Platz zum Übernachten suchten.

Schon seit einer Weile fuhren die Jerobes durch einen lichten Wald, der beinahe unvermittelt inmitten sanfter, von Präriegras bedeckter Hügel aufgetaucht war. Nun breiteten schiefe, verwitterte Eichen ihre Zweige in alle Richtungen. Dennoch fiel zwischen den kleinen Blättern viel Licht hindurch, sodass am Boden Gras und Kräuter gediehen. Um diese Jahreszeit waren sie fast alle gelb und verdorrt. An einem umgestürzten Baum hatten sich rollende Büsche aufgetürmt. Mannshoch hatten sie sich ineinander verhakt. Die untersten der merkwürdigen Gewächse hatten bereits wieder Wurzeln gebildet und trieben aus. Für sie war die Zeit des Reisens vorüber. Mary faszinierten die Sträucher, die besonders nach einem trockenen Sommer in Massen über die Prärie trieben, doch heute hatte sie kein Auge dafür.

„Dort ist eine alte Fahrspur“, rief sie.

Der Vater schreckte hoch. Seit dem Mittag fielen ihm immer wieder die Augen zu, doch vor seiner Tochter schien er die zunehmende Schwäche nicht eingestehen zu wollen.

„Gottes Gnade“, brummte er und lenkte das Gespann nach links. Es ging sanft bergab in ein kleines, weites Tal. Die Vegetation wurde grüner. Mary begann die Hoffnung auf einen kleinen Wasserlauf zu hegen, der diese Oase speiste.

Bald endete die Fahrspur auf einer gerodeten Lichtung, die bereits wieder von mehrjährigen Schösslingen überwuchert wurde. Mit dem Rücken zu einer kleinen Erhebung stand ein kleines, einfaches Farmhaus. Es bestand wie so viele in dieser Gegend aus einem gemauerten Sockel von Feldsteinen mit aufgehenden Holzwänden in Blockbauweise. Das Dach war mit gespaltenen Schindeln gedeckt und an einer Stelle verbrannt.

„Was hier wohl geschehen ist?“

„Unwichtig, solange sich Tür und Fenster zusperren lassen, bleiben wir. Dieser Ort ist gut für einige Tage Rast.“

Mary wusste, dass es besser war, den Mund zu halten, und nickte nur. Ihr Vater hatte endlich nachgegeben. Seit dem Morgen drängte sie darauf, anzuhalten, damit er sich auskurieren konnte. Bis zu diesem Moment hatte er davon nichts wissen wollen.

Beim Anblick der Hütte wurde ihr das Herz leicht. Genau auf so einen Ort hatte sie gehofft, vielleicht noch mit einer freundlichen Farmersfamilie, die ihnen Obdach gewährte. Dort hätte es der Fremde sicher nicht gewagt, sie erneut zu attackieren. Aber auch dieses Haus war gut und in ihrer augenblicklichen Lage eindeutig eine bessere Wahl, als im Freien zu kampieren, was ihr sonst nichts ausmachte.

Eine Schar wilder Truthähne floh glucksend durch das halbhohe Gras zwischen einigen flachen, seltsam symmetrischen Hügelchen hindurch. „Sind das Gräber?“ Mary huschte eine Gänsehaut über den Rücken.

„Ja, was auch erklären dürfte, warum hier niemand mehr wohnt.“

Schlagartig kam ihr der Ort nicht mehr so heilsversprechend vor wie noch Momente zuvor.

Der Vater zügelte das Gespann neben einem eingehegten Bereich, der wohl einmal ein Gemüsegarten gewesen war.

Vielleicht hatte er die Indianerpfeile vor ihr entdeckt und nichts gesagt, das wäre typisch für Joshua Jerobe gewesen.

Nachdem Mary den ersten bemerkt hatte, sah sie immer mehr der Geschosse. Die Federn waren bereits zu einzelnen Borsten verwittert oder ganz verschwunden. Sie staken überall. In der Nähe der Fenster, im Zaun, teilweise auch auf dem Boden.

Ein Indianerangriff.

Die Wilden hatten ihr Ziel erreicht. Die Siedler waren tot oder geflohen. Mary wusste nicht einmal, welcher Stamm in dieser Gegend hauste. Waren die Indianer später vertrieben worden? Wenn nicht, wie oft kontrollierten sie wohl ihr Gebiet?

Bestimmt sind wir längst wieder fort, bevor sie wiederkommen, versuchte sie sich zu überzeugen, aber ganz daran glauben mochte sie nicht.

Sie hatten Glück mit ihrer Unterkunft. Es gab einen Pferch, Wasser und ausreichend Gras für die Bisons. Das Blockhaus war in gutem Zustand, sah man einmal von dem Loch im Dach, den Mäusen in den Schränken und der großen Kolonie von Präriehunden ab, die unter dem Haus ihre Tunnel gegraben hatten. Sie feuerten den Herd an und setzten mit wenigen Handgriffen die Tür instand. Die beiden Fenster waren so schmal, dass sich nur ein Kind zwischen den Sprossen hindurchzwängen könnte.

In diesem Häuschen waren sie so sicher, wie sie nur sein konnten.

Mary breitete auf dem Boden die Schlafdecken aus, denn im Bett eines Ermordeten würde sie wohl keine Ruhe finden. Den Vater kümmerten ihre Bedenken nicht. Er ließ sich nach einem schlichten Mahl auf das vormalige Ehebett sinken und fiel fast sofort in einen tiefen Erschöpfungsschlaf.

Joshua hatte sich tapfer gehalten, doch Mary trieb die Sorge um. Seine zunehmende Schwäche war ihr nicht verborgen geblieben. Seit dem Abend plagte ihn Fieber. Während er nun schlief, war sein Gesicht mal gerötet, dann wieder leichenblass.

Sie hatte seine Wunde versorgt, aber mehr konnte sie nicht tun. Daher war sie in der Abenddämmerung nach draußen gegangen und hatte sich auf die Veranda gesetzt.

Das schwindende Licht zeichnete die sieben Gräber als schwarze Hügellandschaft. Nur vier davon waren mit Kreuzen markiert. Sie lagen direkt nebeneinander, die drei weiteren erhoben sich mit etwas Abstand.

Mary stellte sich vor, dass darin Indianerleichen begraben lagen. Heidnische Wilde, die ihren heimtückischen Angriff mit dem Leben bezahlt hatten.

Vater hatte für Ureinwohner nichts als Verachtung übrig. Er war der Überzeugung, dass sie den überlegenen Weißen nichts entgegenzusetzen hätten. Die Konflikte waren nicht mehr als ein letztes Aufbäumen vor der Vernichtung. In seinen Augen hatten sie es nicht besser verdient. Sie seien faul, hätten nie gelernt, wie anständige Christenmenschen für ihren Unterhalt zu arbeiten. Alles, was sie konnten, war plündern, rauben und morden oder in den Städten und Marktflecken um Almosen betteln.

Am besten, sie bekämen jeder eine pockenverseuchte Decke geschenkt, dann wäre das Problem aus der Welt, hatte sie den Vater schon häufiger sagen hören. Dann schämte sie sich für seine Worte. So sollte kein guter Christenmensch über Gottes Schöpfung sprechen, und der Vater war überzeugt, dass er ein ebensolcher war.

Mary hätte gern einmal einen Indianer kennengelernt. Vielleicht eine Frau? Keinen von denen jedenfalls, die ihre Pfeile im Holz der Hütte und vermutlich auch in diesen Gräbern hinterlassen hatten.

Ein Rascheln ließ sie aufhorchen. Die Geräusche, die von den beiden Bisons verursacht wurden, konnte sie mühelos überhören, so vertraut waren sie ihr. Ganz langsam griff Mary nach ihrer Schleuder und einem Stein. Da Vater mit dem Revolver am Bett schlief, hatte sie die primitiven Jagdwaffen gewählt. So fühlte sie sich zumindest ein wenig sicherer.

In den Bäumen begannen Nachtvögel und Zikaden ihren Gesang. Mäuse huschten durch das Unterholz, piepsten schrill. Mary meinte, sogar ihre winzigen Füße über den Sand trippeln zu hören.

Sie blinzelte. Die Dämmerung hatte einen dunklen Blauton angenommen. Über ihr funkelten erste Sterne am Himmel. Einer nach dem anderen leuchtete auf, als ginge dort oben jemand umher und entzündete Lichter am Firmament.

Mary kam sich klein und verloren vor. Sie zog die Beine an und zupfte den Rocksaum über die Füße. Die Verletzung des Vaters ängstigte sie. So weit weg von Hilfe oder gar einem Arzt konnte sie schnell den Tod bedeuten.

Der Stich war tief gewesen, ganz gleich, wie sehr der Vater ihn auch herunterspielte. Vielleicht waren innere Organe verletzt, auf jeden Fall drohte Wundbrand, gegen den Mary machtlos war. Nun rächte es sich, dass viele der Heilmittel, die sie verkauften, tatsächlich Scharlatanerie waren.

Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was geschah, wenn das Schlimmste eintrat, und doch wurden ihre Gedanken wie in einem Strudel immer wieder zu diesem Punkt gezerrt. Zum Tod des Vaters.

Dann wäre sie ganz allein auf der Welt. Sie wusste nicht einmal, wo sie sich befand und wohin sie als Nächstes reisen wollten. Vater traf derlei Entscheidungen stets für sich und ließ sie niemals die Karten sehen. Sie wäre verloren.

In diesem Moment fasste Mary einen Entschluss. Wenn sie all dies überstanden, dann würde sie nicht mehr hilflos sein wie ein Kind, das am Rocksaum seiner Mutter hing. Sie war beinahe eine erwachsene Frau. Andere führten in ihrem Alter bereits einen eigenen Haushalt, während sie wie eine ausgerissene Blume dem Wind überlassen war.

Vater musste ihr beibringen, was sie zum Überleben brauchte. Und falls er vorher starb, würde sie es selbst herausfinden müssen oder an ihrem Unwissen zugrunde gehen.

Wieder ein Rascheln. Marys Gedanken waren wie weggefegt. Dort kam etwas. Ein Schemen bewegte sich durch die bleierne Schwärze zwischen den Bäumen. Er kam vom Fahrweg her. Hatte der Fremde sie bereits eingeholt? Ihre Hände zitterten, als sie nach einem kleinen Steinchen für ihre Schleuder tastete.

Wo der Himmel die Prärie berührt

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