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KAPITEL 2

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Der Vater predigte mit lauter, melodischer Stimme, die mehr für eine Kathedrale gemacht schien als die Scheune, in der sie an diesem Morgen nach einer kurzen Fahrt untergekommen waren. Drei Dutzend Menschen hatten sich versammelt, um Joshua Jerobe zu lauschen.

In dem winzigen Ort gab es noch keine Kirche, er war einfach gewachsen und gewachsen, ohne dass sich ein Geistlicher hierher verirrt und beschlossen hätte zu bleiben. Für Hochzeiten und Taufen mussten die Menschen in den Nachbarort reisen. Hier wurde ihr Vater mit offenen Armen empfangen, und er genoss seinen Auftritt sichtlich.

Mary beobachtete ihn vom Rand der versammelten Menge aus. Die Leute hingen an seinen Lippen, während er von den Sünden und Verfehlungen der Menschen predigte. Ehrfürchtig sahen sie zu ihm hinauf. Ein hagerer Alter lauschte mit offenem Mund, während sich eine Frau in schwarzer, langer Tracht nach jedem zweiten Satz bekreuzigte und ihren Rosenkranz küsste. Für sie war die Predigt wie das rettende Wasser nach einem schier endlosen Marsch durch die Wüste.

Ein wenig versöhnte das Mary mit ihrem Vater. Auch wenn er ein Scharlatan war, so brachte er den Menschen doch Hoffnung und stillte ihre Sehnsucht. Er gab sich nicht als Priester aus, aber er korrigierte auch niemanden, der ihn so nannte. Seine Kleidung war sorgfältig ausgewählt. Schlicht, dunkel, ein weißer Hemdkragen und darüber ein einfaches Holzkreuz, ganz ohne Zier. So stellte man sich einen demütigen Diener Gottes vor.

Der Vater breitete die Arme aus, als wolle er seine Zuhörer segnen, und rief Gottes Güte auf sie hinab. Die Leute rückten zusammen, näher nach vorn, um in den Kreis der schirmenden Hände zu gelangen. Viele hielten die Hände gefaltet, manche beteten mit gesenktem Kopf, die meisten aber starrten auf Vaters Lippen. Er lächelte mit blitzend weißen Zähnen.

„Amen“, klang es vielstimmig. Dann Schweigen.

Vater wartete einige Herzschläge lang. Es war wie ein Ritual. Gerade als das erste leise Murmeln erklang, die ersten Schritte über den hart verkrusteten Schlamm scharrten, breitete er in einer einladenden Geste die Arme aus. „Liebe Leute, hört mich an.“ Konzentriert blickte er einem nach dem anderen in die Augen. „Nur Gott allein kann sich eurer Seelen annehmen, aber für die irdischen Leiden, die Gebrechen und Krankheiten des Leibes gibt es Medizin und stärkende Elixiere. Kräuter aus den Gärten heiliger Mönche, Pillen aus dem Staub von Hostien und Weihrauch. Kommt und seht.“ Er wies zu seiner Linken.

Mary wurde erschrocken klar, dass sie ihren Einsatz verpasst hatte. Hektisch eilte sie zu dem Klapptischchen, auf dem die Waren ausgestellt wurden. Sie setzte ihr schönstes Lächeln auf, doch der Gesichtsausdruck ihres Vaters zeigte, dass es nicht reichte. Tiefe Kerben der Missbilligung hatten sich in seine Mundwinkel gegraben.

Mary zwang sich, nicht an den Abend zu denken, wenn er ihr mit Gürtel oder Rohrstock einbläuen würde, dass sie ihre Aufgabe minutiös auszuführen hatte. Sie würde den Schmerz aushalten, wie sie ihn stets aushielt, und sich fest vornehmen, diesen Fehler nicht noch einmal zu begehen.

Ob je der Tag käme, an dem der Vater nichts an ihr auszusetzen hatte? Sie wünschte sich so sehr, dass er mit Stolz auf sie blickte.

Dafür musste sie den rebellischen Kern in sich zum Schweigen bringen, der immer und immer wieder sein hässliches Haupt hob. Ihr Trotz gehörte sich nicht für eine Frau. Auch in der Bibel stand, dass eine Tochter dem Willen ihrer Eltern zu entsprechen hatte, ganz gleich, wie sie darüber dachte. Gehorsam, das sollte sie sein.

Sie durfte die Verfehlungen des Vaters nicht mehr sehen, geschweige denn danach suchen. Also riss sie sich zusammen und lächelte verkrampft.

Eine Frau betrachtete die Auslagen. Ihre zartgliedrigen, gepflegten Hände verrieten sofort, dass Mary es mit einer bessergestellten Dame zu tun hatte.

„Wie kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes?“

„Mein Kind ist oft wund unter den Windeln, und in letzter Zeit wird die Kleine von Bauchweh geplagt. Hat der Reverend denn etwas dagegen?“

Mary biss sich auf die Zunge und korrigierte die Frau nicht. Stattdessen überlegte sie, was sie der Kundin neben den gewünschten Mittelchen noch verkaufen konnte. An Geld mangelte es ihr ja offensichtlich nicht.

„Hier habe ich eine wundervolle Salbe. Auch Nonnen benutzen seit Jahrhunderten diese Kräuter. Das wird Ihrer Tochter helfen, und auch Ihnen oder Ihrem Gatten. Bei kleinen Verletzungen nach dem Reinigen zweimal am Tag die Salbe auftragen.“ Sie schob ihr das kleine Tiegelchen zu.

Die Frau roch daran und zog dabei ihre Stupsnase kraus. „Angenehm, die nehme ich.“ Mary stellte ein Fläschchen hinzu. Es widerstrebte ihr, zu lügen. Das Mittel gegen Magenreizung war ihnen ausgegangen, seitdem verkauften sie dieses mit Waid eingefärbte Wasser, in dem außer dem Farbstoff nur etwas Kamillenextrakt enthalten war. Zumindest würde es nicht schaden. Sie lächelte noch breiter. „Wenn Ihr Kindchen oft weint, dann nehmen Sie das hier. Einige Tropfen nur helfen gegen Bauchweh. Reiben Sie dazu auch sanft über den Leib, dann wird es schnell besser.“

Die Kundin steckte beides ein. „Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf, Fräulein?“

„Fünfzehn, Miss.“

„Das ist wirklich erstaunlich. Können Sie lesen?“

„Mein Vater hat es mir beigebracht. Er legt viel Wert darauf, dass ich Gottes Wort jederzeit selbst lesen kann, wenn ich des Trostes bedarf.“

„Außerordentlich. Ein Hausmädchen wie Sie könnte ich gebrauchen.“

„Vielen Dank, das ist ein großes Kompliment“, sagte Mary und errötete. Sie wusste nichts mehr zu sagen. Könnte das ihr Leben sein? In einem großen Haus bei einer Rancherfamilie leben und sich um deren Kinder kümmern? Sie mochte Kinder, auch wenn sie auf ihren ständigen Reisen nur selten mit ihnen in Kontakt kam.

„Hat meine Tochter nicht das Richtige für Sie gefunden?“, erklang der brummige Bass Joshua Jerobes. Mary fuhr zusammen und zog die Schultern hoch.

„Nein, Reverend, ich habe bereits alles.“

„Eine schöne Dame wie Sie nutzt doch sicherlich auch Mittel zur täglichen Hygiene. Mary, zeig ihr unsere Seifen und Zahnpolitur.“

„Selbstverständlich, kommen Sie bitte.“

Sie hatten gute Geschäfte gemacht, sehr gute sogar. Der Vater hatte noch zwei Patienten den Zahn gezogen und zum Abschluss einen Mann wieder gehen gelehrt, nachdem er ihm unter lautem Krachen und Knacken den Rücken eingerenkt hatte. Die Leute hatten gejubelt und nach dem kleinen Wunder tüchtig von den Salben und Wässerchen gekauft.

Vaters Laune war gut. Vielleicht waren die Schläge auch deshalb nur milde ausgefallen und Mary fiel das Sitzen nicht allzu schwer. Dennoch hätte sie sich gern eine Decke untergelegt.

Vater schlug sie nie auf die Hände. Die Striemen auf den Fingern vergraulten die Kunden, meinte er.

Sie lagerten auf einer kleinen, eingezäunten Wiese am Westrand der Siedlung. Mary hatte gleich dort drei fette Präriehunde mit der Schleuder erlegt. Die kleinen Tiere waren schnell geputzt, und nun köchelte auf dem Feuer ein würziger Eintopf. Geld war an diesem Tag genug in ihre Taschen geflossen, dennoch waren die Jerobes sich nicht zu schade dafür, das zu essen, was Gottes Schöpfung ihnen schenkte.

Sie hatten Erbsen gekauft, Bohnen und Linsen in vernähten Leinensäcken, dazu Verderblicheres wie Zwiebeln, Rüben, Äpfel und Kartoffeln, die nun ebenfalls im Topf köchelten.

Vater rührte Salbenfett, das er vorsichtig am Feuer erwärmte. Es durfte beim Abkühlen nicht klumpen.

Beim Essen wechselten sie sich mit dem Rühren ab. Schließlich schob der Vater ihr das Töpfchen zu. „Du weißt, was du zu tun hast, Tochter. Enttäusche mich nicht wieder.“

„Gehst du noch einmal fort?“ Sie hatte es schon vor einer Weile geahnt. Immer wenn der Wind den Klang von Fiedeln herübertrug und das Gelächter ausgelassener Menschen, hielt der Vater inne und lauschte. In dem Marktflecken gab es einen Saloon, und der lockte mit Karten und Würfelspiel.

„Warte nicht auf mich.“ Mehr Erklärung würde sie nicht von ihm bekommen. Sie wusste, dass er das gesamte mühsam verdiente Geld mitnehmen würde und war nur erleichtert, dass sie die Vorräte bereits aufgestockt hatten. Manchmal gewann er, meist aber verlor er das Geld.

Joshua Jerobe strich seine Kleidung glatt, klopfte sich den Staub vom Hut und ging mit langen Schritten davon. Mary sah ihm nach. Er lief geschmeidig wie ein junger Mann, dabei war er fast fünfzig Jahre alt. Sie würde vermutlich noch viele, viele Jahre mit ihm herumziehen.

Mary rührte die Salbe fertig und füllte sie ab, dann kehrte sie zurück und stocherte im Feuer, als gelte es, einen Gegner zu besiegen. Die Kohlen spritzten auseinander und sandten einen Funkenregen in den schwarzen Nachthimmel. Wenn ich doch nur wie die Funken diesem Ort entfliehen könnte, dachte sie wehmütig.

Sie hatte sich nie Gedanken über ihre eigene Zukunft machen wollen, dafür tat es zu weh. Der Vater brauchte sie, er würde sie nicht gehen lassen. Würde nicht erlauben, dass sie eine Anstellung fand, wie bei der netten Dame, mit der sie heute gesprochen hatte. Sie blieben auch nie lange genug an einem Ort, um andere Menschen kennenzulernen. Geschweige denn lange genug, damit eine junge Frau Ausschau nach einem Ehemann halten konnte.

Und wer würde sie schon haben wollen? Mary machte sich keine falschen Hoffnungen. Sie war die Tochter eines Predigers, Wunderheilers und Barbiers, der nicht mehr besaß als den Bison-Wagen und das, was darin verstaut war. Sie brachte nicht weiter mit in die Ehe als den schlechten Ruf eines Rosstäuschers.

Alle Männer, die sich davon nicht abschrecken ließen, taugten selbst noch viel weniger und waren völlig mittellos. Da hätte sie sich genauso gut als Gewinn in einem Kartenspiel oder Pferderennen ausloben können.

Nein, unter diesen Bedingungen blieb sie doch lieber einsam. Schlagen tat sie auch der Vater, und der war zumindest kein Trunkenbold.

Mary zog die Nase hoch und stieß den Stock tief in die Glut, bis er Feuer fing. Mit der Spitze malte sie Muster in den Nachthimmel. George, der nur wenige Schritt neben ihr graste, hob irritiert den Kopf, schüttelte seine mächtige Mähne und schnaubte. Feuerschein spiegelte sich einen Moment lang in seinen kleinen, intelligenten Augen.

Das war es also, ihr Leben. Und eine Änderung war nicht in Sicht.

Vor dem Schlafengehen hängte sie Kräuter zum Trocknen auf, brachte das Lager in Ordnung und sah nach den Tieren. Gähnend betrat sie schließlich den Planwagen, breitete auf dem Boden zwischen Kisten, Säcken und einem Tischchen mit Destillationsapparaturen ihre Decken aus. Der Vater schlief an warmen Tagen unter dem Wagen, und sie konnte nur hoffen, dass er sich auch heute dazu entschied.

Die Nächte in der Wildnis waren Mary vertraut. Sie fürchtete weder Puma, Bär noch Wolf. Keines der Tiere wagte sich an den beiden ausgewachsenen Büffeln vorbei. In der Nähe von Ortschaften oder Goldgräberlagern lauerten andere Gefahren. Dieser Marktflecken war ihr wie ein angenehmer Ort erschienen. Einer, der nicht einmal einen Gesetzeshüter brauchte. Hier schien es nur Farmer, Krämer, einen Fassmacher und einen Hufschmied zu geben.

Mit leiser Wehmut, weil sie wohl niemals ein solches Dörfchen ihr Zuhause nennen würde, schlief sie ein.

George stampfte mit den Hufen und schnaubte. Erst wusste Mary nicht, warum sie das geweckt hatte, dann schnaubte der Büffel wieder, und sie erkannte am Klang, dass Gefahr drohte.

In einem Baum stieß ein Nachtvogel einen schrillen Ruf aus. Die Luft war voller Zikadengesang, doch da war noch mehr. Rascheln. Etwas näherte sich.

Mary setzte sich langsam auf und drückte sich die Hand auf die Brust, doch ihr panisch rasendes Herz ließ sich von solch einer hilflosen Geste nicht beruhigen.

Jetzt hörte sie die Schritte ganz deutlich. Dort kam jemand, und es war nicht der Vater. Ihn hätte sie unter hundert anderen erkannt.

Der Fremde näherte sich dem Wagen. Er durfte sie nicht hier finden. Männer waren Raubtiere, das hatte der Vater ihr immer eingebläut. Das Sicherste war, ihnen nicht allein zu begegnen. Hier würde niemand ihre Schreie hören, niemand zu ihrer Rettung eilen, und der Vater würde bestimmt erst in einigen Stunden zurückkehren.

Auf bloßen Füßen huschte Mary zum Wagenende, an dem eine kleine Treppe lehnte. Würde sie es noch unbemerkt hinausschaffen? Sie hielt inne. Ihr panisches Herz dröhnte mittlerweile so laut, dass es ihr schwerfiel, etwas anderes zu hören als sein stetes, rasendes Hämmern. Zwischen den Leinenbahnen erahnte sie die Wiese, die in bläulich leuchtendes Mondlicht getaucht war. Ein Schemen bewegte sich gleich in der Nähe.

Nein, hier kam sie nicht mehr heraus. Sie drehte um. Achtete sorgsam darauf, nicht auf die knarrenden Stellen zu treten, wo die alten Holzbohlen ein Eigenleben entwickelt hatten.

Rasch an dem Tischchen mit der Glasapparatur vorbei, über die Truhe mit der Kleidung und jener mit Vorräten und Kochutensil. Dann endlich umfassten ihre Hände den Kutschbock. Ganz vorsichtig stieg sie über die Rückenlehne und hinauf auf das Sitzbrett.

Im gleichen Moment wurde hinten die Plane zur Seite gerissen und glattes Metall blitzte auf. Kurz erahnte sie ein bärtiges, aber recht junges Gesicht, hager und mit wildem Blick, dann duckte sie sich hinter die Rückenlehne und hielt den Atem an. Vielleicht würde der Gauner sie nicht bemerken. Sie für ein Ding halten, wenn sie nur ganz und gar stillhielt. Ihr Unterkleid war milchweiß und leuchtete im Mondlicht grell, aber wenn sie nur stillhielt …

Der Wagen bewegte sich. Der Fremde musste nun im Inneren sein. Die Bohlen knarrten unter seinem Gewicht, dann erklang ein leises Klirren, Glas zerbrach, Stoff raschelte.

„Jerobe, du verdammter Mörder, wo versteckst du dich?“, grollte der Fremde. Es klang, als trete er ihre Decken zur Seite.

Ihr Vater ein Mörder? Der Fremde musste sich irren.

Truhen wurden geöffnet, er wühlte darin, kam dem Kutschbock immer näher. Er war gründlich. Mary zweifelte nicht daran, dass der Fremde auf seiner Suche bis zu ihr nach vorne vordringen würde.

Sie musste fort, so schnell wie möglich.

Allein konnte sie es nicht mit dem Räuber aufnehmen. Vater musste kommen und ihn verjagen, wenn der Kerl dann noch da war.

Direkt hinter ihr krachte es. Die gesamte Glasapparatur ging zu Bruch. „Du wirst keine anständigen Menschen mehr vergiften, verdammter Quacksalber!“, erklang es hinter ihr. Der Eindringling war so nah, dass sie ihn atmen hörte.

Mary hielt es nicht mehr aus. Vorsichtig ließ sie sich vom Kutschbock gleiten, bis ihre bloßen Füße struppiges Spätsommergras berührten. Es pikste und raschelte unter den Sohlen.

Eine Bewegung. „Halt, Jerobe.“

Sie hielt nicht inne, sondern duckte sich unter der Hand hinweg, die sie zu packen versuchte, und sprang. Kauernd kam sie neben dem großen Speichenrad auf. Gerade als sie loslaufen wollte, wurde sie zurückgezerrt. Stoff riss, und sie fiel der Länge nach hin. Dann war sie plötzlich wieder frei.

Der Kerl hatte sie nicht festgehalten, sie war nur hängengeblieben! Sofort war sie wieder auf den Beinen und hetzte los.

„Halt!“

Sollte er rufen, so viel er wollte, sie würde bestimmt nicht stehen bleiben. Mit beiden Händen hielt sie den zerfetzten Unterrock fest. Dürres Präriegras raschelte um ihre Knie, Schritte hetzten hinter ihr her und kamen näher. Er war schnell, schneller als sie!

Ein Schlag traf Mary in den Rücken, und sie stürzte der Länge nach hin. Ihre Wange stieß gegen trockene, hart verkrustete Erde.

Sie wurde an der Schulter gefasst und auf den Rücken gedreht.

Mary schrie, trat und kratzte, dann berührte kaltes Metall ihre Kehle, und sie wurde mit einem Mal ganz still, als sei ihr sämtliches Leben aus dem Leib gewichen. Die Hand mit dem Messer zitterte, sie spürte es durch den Stahl.

„So ist’s brav“, sagte der Fremde leise, während er sich auf sie setzte und mit seinen Knien ihre Arme festklemmte, als würde er ein Kälbchen bändigen.

Mary starrte ihn an. Was würde nun passieren? Würde er ihr das Messer an die Kehle pressen, seinen Willen mit ihr haben und sie dann ausbluten lassen? War es die bessere Entscheidung, weiterzuschreien und den Mann damit zu zwingen, sie gleich zu ermorden? War ein rascher Tod vielleicht das bessere Schicksal?

Mary war überrascht, dass sie zu derlei klaren Gedanken fähig war, nachdem sie noch Augenblicke zuvor so sehr von Panik beherrscht gewesen war, dass es nur die Angst gegeben hatte.

Gefasst blickte sie dem Tod ins Antlitz. In den blauen Augen des Fremden las sie keine Lust, kein Begehren. Vielmehr war dort Trauer zu sehen und alles überlagernder Hass.

„Ich sollte dich umbringen, wie Jerobe meine Frau umgebracht hat. Aber ich bin kein Mörder, nicht wie er. Sag mir, wo er ist, und ich lass dich gehen.“

„Ich … nein“, stotterte Mary. Sie würde ihren Vater nicht verraten.

Das Messer ritzte ihre Haut. „Muss ich erst ungemütlich werden? Wo ist er?“

„Mein Vater hat Ihnen nichts getan, ich weiß nicht, wo er hin ist, ich habe geschlafen“, schrie sie ihm ins Gesicht. Vor ihren Augen verschwamm alles, die Tränen ließen sich nicht mehr aufhalten.

„In den Ort?“ Er glaubte ihr nicht.

Doch sie hätte nicht antworten können, selbst wenn sie gewollt hätte. In ihrer Kehle war ein Stein, genau unter der Stelle, wo er das Messer hindrückte. Kein Laut schaffte es jetzt mehr daran vorbei. Er würde sie so oder so umbringen, da war Mary sich sicher. Es gab nichts, was sie tun, nichts was sie sagen konnte, um ihrem Tod zu entgehen.

Ihr Herz, das kurz zuvor noch so schnell geschlagen hatte, als wolle es ihr aus der Brust springen, wurde langsamer. Eine geradezu gespenstische Ruhe überkam Mary, und sie blickte ihrem Mörder gefasst in die Augen. „Gott steh mir bei“, sagte sie leise.

Das Messer an ihrer Kehle zitterte stärker. Jetzt gleich würde es so weit sein. „Ein letztes Mal, wo ist Joshua Jerobe?“

„Ich weiß es nicht.“

Der Mann stieß einen Fluch aus. Es lief nicht, wie er es sich vorgestellt hatte. Ein Rascheln ließ ihn aufhorchen. Kam der Vater zurück? Er durfte nicht in die Falle laufen. Mary musste ihn warnen.

„Hilfe!“, schrie sie aus Leibeskräften und strampelte mit den Beinen. Ihre Arme waren noch immer hoffnungslos unter den Knien des Fremden festgeklemmt, aber sie konnte ihm die Knie in den Rücken rammen und ihn so etwas aus dem Gleichgewicht bringen. Das Messer ritzte ihren Hals.

„Sei still, verdammt! Willst du unbedingt sterben?“

Nein, eben das wollte sie nicht, und sie dachte nicht daran, sich einfach umbringen zu lassen wie ein Lamm auf der Schlachtbank. Nun konnte sie auch eine Hand bewegen. Sie kniff dem Mann ins Bein und schrie weiter, so laut sie konnte. Dann presste er ihr eine Hand auf den Mund. Seine Haut roch nach Tabak und Leder. Mary warf den Kopf hin und her, doch ihr Angreifer war so viel stärker als sie.

Plötzlich hielt er inne. Der Boden vibrierte unter schweren Hufen, und sie wusste, wer ihr zu Hilfe eilte.

Mary biss dem Mann in die Hand, Sehnen rutschten unter ihren Zähnen zur Seite, dann schmeckte sie Blut. Der Mann zuckte weg.

„George!“, kreischte sie, sobald ihr Gesicht wieder frei war. Kein Zweifel, der Büffel kam zu ihrer Rettung. Auf der eingezäunten Weide waren seine Beine nicht gehobbelt, und er war schnell, schnell wie ein Pferd. Das Mondlicht zeichnete seinen Umriss nach. Den mächtigen Buckel, die gebogenen, spitzen Hörner. Er hielt den Kopf zum Angriff tief gesenkt.

Der Mann riss in einer verzweifelten Geste das Messer hoch.

George nahm die Waffe gar nicht wahr, vermutlich verstand er nicht einmal, dass sie ihn verletzen konnte.

Nun hatte Mary Angst um das treue Tier. „George, nein!“

Es gab einen fürchterlichen, knirschenden Knall, und der Mann wurde von Mary heruntergeschleudert. Scharfe Hufe trafen sie an Schulter und Arm, als der Bison mit einem Sprung über sie setzte und den Fremden erneut attackierte. Dieser flog mehrere Schritt weit und rettete sich schließlich seitwärts rollend unter dem Zaun hindurch.

Mary setzte sich auf und sah ihn davonrennen.

Ihr war übel und schwindelig. Nun begann auch ihr Kopf wehzutun. Vermutlich hatte George sie auch dort getroffen.

Der Bison rannte noch einmal gegen den Zaun an, der unter dem Ansturm gefährlich knackte, dann kehrte er schnaubend um.

Drohend ließ er den Kopf hin- und herpendeln, während er auf Mary zulief. „Komm her, guter Junge“, sagte sie und streckte die Hand aus. Als sie schließlich ihre Finger im dichten Fell vergrub, wurden die augenblicklich nass. Warmes Blut floss ihr die Hand hinab über den Arm.

„George!“

Der Bison schwankte, dann wandte er sich ab und ging mit langsamen Schritten davon.

***

Unter dem festen Segeltuch zeichnete sich der Körper deutlich ab. Timothy hatte in der Nacht kein Auge zugetan, sondern bei der Leiche seines Vaters gesessen und zugesehen, wie sie sich langsam veränderte. Wie die Haut erst blass wurde und dann wächsern, wie sich an den Unterseiten der Arme und Beine dunkle Flecken bildeten.

Vaters Augen hatten sich immer wieder geöffnet, und jedes Mal wirkten sie fremder, jedes Mal fiel es ihm schwerer, sie wieder zu berühren, um sie erneut zu schließen.

Schließlich hatte er zwei runde flache Kiesel auf die Lider gelegt. Einen weißen und einen rostroten. Er musste diese Steine ungefähr im Alter von acht oder neun Jahren bei einem seiner wenigen Landgänge gesammelt haben. Timothy erinnerte sich noch gut an den langen Strand voller Kiesel, Findlinge und ausgeblichener Hölzer. Gebogen wie ein Halbmond ragten Felsbänke auf beiden Seiten ins Meer. Sie waren am Strand spazieren gegangen, während auf dem Schiff Reparaturen durchgeführt wurden, und hatten nach einem Flüsschen mit Trinkwasser gesucht.

Timothys kindliche Sammelleidenschaft brachte seinen Vater zum Lachen. Gemeinsam hatten sie schließlich zehn Kiesel mit an Bord genommen. Es war ein zähes Ringen gewesen, die richtige Auswahl zu treffen, und eine wunderschöne Erinnerung. Nun würden zwei der Steinchen seinen Vater auf der letzten Reise begleiten.

Timothy fühlte sich gefasst, als die Seeleute kamen, um die Leiche an Deck zu bringen, doch er wusste, dass er nur erstarrt war wie Packeis bei Wintereinbruch. Der Schmerz folgte ihm schon jetzt so dicht auf den Fersen wie sein eigener Schatten. Und wie seinem Schatten, so würde er auch der Trauer nicht entrinnen können, ganz gleich, wie schnell er rannte, wie gut er sich ablenkte oder versteckte.

Zwei Federn und ein Perlenband schmückten die schlichten Leinenwickel. Die eine war von einem Seeadler, die andere von einem Albatros.

Timothy wünschte, der Vater hätte eine traditionelle Trauerfeier bekommen können, wie sie die Cree der nördlichen Stämme abhielten. Er wusste, wie so etwas ablief. Familie und Freunde hielten mehrere Tage bei der Leiche Wache. Es gab Musik und Tanz, und die Menschen erzählten sich Geschichten über den Verstorbenen. Es war eine Zeit der Trauer, aber auch der Freude, denn der Geist des Toten war nun frei von irdischen Sorgen und Leiden und ging zum Schöpfer.

Auf sich allein gestellt konnte Timothy nur den Verlust spüren. Hatte er genug getan, um Vaters Geist die Reise zu erleichtern? Er hatte ihm sämtlichen Tabak mitgegeben, den er finden konnte, sowie seine liebste Pfeife und fast ungetragene Mokassins für den Weg.

An Deck empfing sie schneidende Kälte, obwohl sie nun südwärts in die Hudson Bay einfuhren, wo es mehr Grönlandwale geben sollte. Wind heulte in der Takelage und trieb eine Mischung aus Regen und salziger Gischt in ihre Gesichter. Die Mannschaft war dennoch vollständig an Deck versammelt. Blasse, ausgezehrte Gesichter, wohin man sah.

Dort standen die Harpuniere und der Tätowierer Achachak, die für Timothy über die Jahre zu einer Art Familie geworden waren. Mit der Leiche seines Vaters vor sich fragte er sich nun, wem von ihnen er nicht trauen konnte. Wer von ihnen konnte seinen Onkel Jacob umgebracht haben? Oder hatte sich der Vater nur in eine Vermutung verrannt, weil er nicht wahrhaben wollte, dass sein Bruder ein Trinker geworden war?

Eine Bö riss ihn beinahe von den Beinen und wehte das Tuch von Vaters Gesicht. Die Augen standen wieder offen, als sende der Geist ihm eine Botschaft. Timothy erschrak. „Ich werde gehen, Vater“, sagte er leise.

In Timothy sträubte sich alles dagegen, der Windspirit den Rücken zu kehren, aber er wagte es auch nicht, den letzten Willen des Verstorbenen zu ignorieren.

Vater hatte ihn gerettet. Er war stets für ihn da gewesen und hatte sicherlich auch mit seinen letzten Worten nur das Beste für den Sohn im Sinn gehabt.

Während der Kapitän eine kurze Ansprache hielt, sah Timothy vor seinem inneren Auge Erinnerungen vorbeirasen. Er spürte den Regen kaum, der immer stärker fiel und vom Wind angefacht über Deck peitschte. Er hörte die Worte nicht, die Noah Anteo ins Himmelreich begleiten sollten.

Sie hatten den Leichnam auf ein Brett gelegt und dieses am Achtersteven auf die Reling gestützt. Timothys Hände ruhten auf der Brust des Vaters. Einzig unter seinen Fingern war das Leinen noch trocken.

„Amen!“, riefen die Seeleute und Walfänger im Chor.

Timothy sah sich um.

Einige gingen bereits, bevor die Seebestattung zu Ende war. Das war respektlos. Timothy versuchte sich zu merken, wer es war, aber es gelang ihm nicht. Zu groß war der Moment.

Nun würde er seinen Vater gehen lassen müssen, für immer.

Die Männer warteten auf sein Zeichen.

Er atmete tief ein und aus, dann nickte er und hob die Hände. Das Brett wurde angekippt, und die Leiche rutschte hinab in die See. Noah Anteo wurde von graugrünen Wellen verschlungen, nur um im nächsten Moment wieder aufzutauchen.

Timothy stützte die Hände auf die Brüstung und stieß einen kehligen Schrei aus, in dem all sein Schmerz lag.

Er stand dort, bis der Leichnam zu einem winzigen hellen Fleck geschrumpft war. Regen troff ihm aus dem strähnigen Haar und rann von seinem Gesicht. Die Dämmerung zog herauf und brachte eine dunkle Wolkenwand mit sich. So dicht kroch sie dahin, dass es aussah, als würden Wogen und Wolken einander berühren.

Vielleicht war es für Vaters Seele auf diese Weise leichter, sich vom Leib zu lösen und zum Schöpfer aufzusteigen, dachte Timothy und empfand das heraufziehende Unwetter als etwas Tröstliches.

Die Männer ließen ihn allein. Niemand kam zu ihm, um ihm sein Beileid auszusprechen. Timothy war einerseits froh darum, denn er hatte schon jetzt Mühe, die Fassung zu wahren. Ein falsches Wort, und es wäre vorbei damit. Andererseits gab es ihm das Gefühl, Noah Anteos Tod bedeute den anderen gar nichts.

An Deck wurden Lampen entzündet. Noch war das Tagwerk nicht beendet, und sie mussten sich beeilen, wenn sie ihre Beute noch vor Aufzug des Sturms verarbeiten wollten.

Timothy beugte sich steuerbord über die Brüstung. Dort war noch immer der Wal befestigt, der seinen Vater umgebracht hatte. Der gewaltige Kopf zeigte zum Heck, sodass er das aufklaffende Maul und die große, heraushängende Zunge sehen konnte. Fast die Hälfte der Speckschicht war schon abgezogen.

Die Männer hatten ein Behelfsgerüst herabgelassen, das nur aus einigen Latten bestand. Auf den Brettern stehend konnten sie die kostbaren Barten mit Äxten aus dem Maul schlagen. Das war oft auch Timothys Aufgabe, da er sich besonders geschickt auf dem glitschigen, schwankenden Kadaver und den öligen Brettern bewegte.

Wieder kam es ihm so vor, als blicke das Tier zu ihm hinauf. Timothy war dem Wal nicht gram, so sehr er seiner zornigen Verzweiflung auch eine Richtung geben wollte. Vater hatte Wale gejagt, seitdem er ein junger Mann gewesen war, und akzeptiert, dass die Tiere irgendwann auch sein Ende sein würden.

Aber so früh? Es kam ihm so ungerecht vor. Noah Anteo war längst nicht langsamer, nicht alt geworden, und Timothy noch lange nicht gut genug, um seinen Platz einzunehmen.

Mit einem Schmatzen löste sich ein weiterer, mehrere Schritt langer Streifen Fett vom Walkörper. Seilwinden quietschten, und das Stück stieg schwankend in die Höhe.

Timothy hatte nicht bemerkt, wie Achachak zu ihm getreten war. Nun legte dieser ihm eine Hand auf die Schulter. „Er wird immer über dich wachen, Junge.“

Timothy nickte schnell. „Ja, ich weiß.“ Nun geschah es doch. Hastig wischte er sich mit dem Jackensaum über die Wangen. „Ich beschäme ihn.“

„Das tust du sicher nicht. Geh hinunter und leg dich hin. Erinnere dich an die guten Dinge. Du hast so viele gute Erinnerungen.“ Der grauhaarige, drahtige Cree blickte ihn aufmerksam an, während er sich auf die speerlange Stange seines Abflensmessers stützte.

„Ich will nicht dort hinunter gehen.“

„Der Kapitän hat dir den Rest des Tages freigegeben.“

„Ich kann nicht, Achachak.“

„Verstehe, Junge. Dann komm.“

Timothy gab sich einen Ruck. Er wollte nicht länger als Einziger herumstehen und nichts tun, er wollte auch nicht länger mit seinen Gedanken allein sein. Also eilte er zur Winde, schnappte sich Haken und Messer und half den Kameraden dabei, das Fett anzulanden.

Sie zerteilten es in Blöcke und verstauten es im Schiffsbauch. Die Lager waren schon fast bis oben gefüllt. Den untersten Schichten entströmte bereits der beißende Geruch von ranzigem Fett. Drei oder vier der kleineren Grönlandwale noch, dann würden sie Kurs auf die Küste nehmen, um irgendwo tief in der Hudson Bay zu ankern und dort den Fang zu verarbeiten.

Und der Vater würde es nicht mehr erleben.

In der Nacht wälzte Timothy sich in seiner schmalen Koje hin und her. Der Sturm ließ das Schiff knarren und ächzen und heulte im Takelwerk. Als er kurz vor Sonnenaufgang schließlich abflaute, fühlte sich Timothy, als sei er verprügelt worden. Alles tat weh. Seine Augen waren verkrustet, als habe er im Schlaf geweint. Vermutlich hatte er das auch. Nur nicht darüber nachdenken.

Rasch wusch er sich, so gut es eben ging, an einem Eimer Salzwasser das Gesicht und schabte sich mit Vaters Rasiermesser den Flickenteppich aus Stoppeln vom Gesicht. Die Cree hatten fast keinen Bartwuchs. Auf seinen Wangen würde wohl nie mehr als ein paar einzelne, dünne Haare sprießen, aber damit hatte er sich abgefunden.

Timothy wischte das Messer trocken. Nun brannte ihm das Salzwasser im Gesicht. Er strich mit den noch nassen Fingern sein halblanges Haar zurück und setzte eine Filzkappe auf. Schwere Stiefel sowie Jacke und Hose aus speckiger Robbenhaut sorgten dafür, dass er auch in der schneidenden Kälte des Nordens nicht fror.

Zuletzt legte er Vaters Amulett an, das dieser wiederum von seinem Vater geerbt hatte. Es war ein rautenförmiges Stück Elfenbein, in das winzige Symbole eingekerbt waren, deren Bedeutung ihm nicht geläufig war. Schon damals hatte die Sippe ihr nomadisches Leben aufgegeben und sich bei einem Handelsposten der Hudson Bay Company niedergelassen. Timothy berührte das Amulett kurz mit dem Mund, dann schob er es sich zum Schutz unter die Kleidung.

Als er in die Messe kam, waren viele Tische bereits besetzt. Dicht an dicht hockten Matrosen und Walfänger auf schmalen Bänken, vor sich einfache Holzschüsseln. Auf der Windspirit hatten sie es verhältnismäßig gut getroffen, denn Claus, der Koch, verstand sein Handwerk. Ihm gelang es, selbst aus den eintönigsten Zutaten noch etwas Annehmbares zuzubereiten. Als kleiner Junge hatte Timothy ihm oft geholfen. Die Hühner versorgt, die in engen Käfigen ihr Dasein fristeten und Ei um Ei legten, bis sie in der Suppe endeten. Daneben hatte er einfache Küchenarbeiten verrichtet, Töpfe und Böden geschrubbt.

Wie fast jeden Tag, so gab es auch heute Walfleisch, dazu frische, scharfe Zwiebeln und Linsenbrei. Auf dem Tisch stand ein Brett mit rohem Walspeck, von dem jeder so viel essen durfte, wie er wollte.

Da ihnen vor einer Woche das Trinkwasser schlecht geworden und es auch durch die reichliche Zugabe von Natron nicht mehr zu retten gewesen war, tranken sie an diesem Morgen Dünnbier.

Timothy holte sich seine Ration ab und setzte sich schweigend an den erstbesten freien Platz.

Am Tisch hatten sich die Harpuniere versammelt. Als er sich nun setzte, verstummten ihre Gespräche. Timothy hoffte, dass die anderen ihn einfach in Ruhe lassen würden. Einer klopfte ihm kurz auf die Schulter, sagte aber nichts.

Das reichte schon, damit die Trauer wieder ihr hässliches Haupt hob und ihre Fänge in ihm versenkte. Vorgestern noch hatte Vater neben ihm gesessen und gemeinsam mit den anderen Harpunieren gescherzt und Anekdoten erzählt. Ob auch nur einer der Männer hier ahnte, wie sehr er ihn vermisste?

Timothy trank einen großen Schluck Dünnbier. Auch das wurde schlecht. Es wurde wirklich Zeit, dass sie diese Fahrt beendeten. Das gebratene, würzige Walfleisch überdeckte den schalen Geschmack mühelos. Doch es war zäh, und er kaute lustlos darauf herum. Mit dem Linsenbrei war es auch nicht besser. Aber er aß, weil er wusste, dass er es sonst später bereuen würde. Wer keinen vollen Bauch hatte, fror schnell und verlor seine Kraft. Kraft, die er brauchte, wenn er sich mit Arbeit betäuben wollte.

„Tim?“, sprach ihn einer der Harpuniere an, ein rothaariger, massiger Kerl namens Fergusson mit einem wilden Bart und struppigem Lockenkopf, der ihn immer an einen Löwen erinnerte. Der einzige Harpunier auf der Windspirit ohne indianisches Blut in den Adern.

Timothy sah auf, wischte sich den Mund ab. „Was denn?“

„Tut mir leid, Junge, aber ich soll dir vom Kapitän ausrichten, dass du die Kabine räumen musst. Ab heute Abend beziehst du eine Hängematte im Logis wie der Rest der Mannschaft.“

„Geht klar“, erwiderte er leise. Etwas anderes hatte er nicht erwartet. Nur die höheren Ränge und die Harpuniere hatten kleine Kabinen. Mit Vaters Tod hatte er seinen Platz verloren.

„Gibt es einen neuen Harpunier?“

Fergusson brummte verneinend. „Von unseren Leuten ist keiner gut genug, um deinen Vater zu ersetzen, sagt der Boss. Er heuert einen neuen im nächsten Hafen an. Aber bis wir ankommen, ist noch viel zu schaffen.“

Bis dahin hätte er mich dort wohnen lassen können, dachte Timothy, sagte aber nichts, nickte nur und widmete sich mit noch weniger Appetit seinem Essen.

Die nächsten sieben Tage flogen nur so dahin. Sie fuhren unter vollen Segeln hart am Wind. Die letzten Ausläufer des Sturms trieben die Windspirit vor sich her und machten es leicht, die Grönlandwale zu jagen. Timothy hetzte immer dahin, wo er gebraucht wurde, die Wanten hinauf und wieder hinunter. Reffte und hisste Segel bei eisigem Wind oder enteiste die Seile und Leinen, an denen die Gischt ständig zu neuen Zapfen gefror. Bis zum Mittag dieses Tages waren sie nur vereinzelten Eisbergen begegnet. Als sich nun eine ganze Schar dieser frostblauen Riesen am Horizont abzeichnete, fand ihr wildes Rennen ein Ende.

Die Hälfte der Segel wurde heruntergeholt und würde so bald nicht mehr gebraucht. Sie legten das feste Tuch sorgsamer zusammen als sonst und zurrten es an den Mastbäumen fest.

Die Windspirit bewegte sich geschickt durch das eisblaue Trümmerfeld, das in den nächsten Wochen weiter schrumpfen würde. Timothy entdeckte vereinzelte Robben und weiße Belugawale, die wie Geister durch das schieferfarbene Wasser zogen. Sie schienen vor dem großen Schiff keine Angst zu haben, doch er wusste, dass die Indianer dieser Gegend den Belugas mit dem Kanu nachstellten. Es waren nördliche Cree. Vaters Sippe war nie so weit ins Eismeer vorgedrungen. Seine Familie hatte zwar an der Küste gelebt, aber vor allem Rentiere und Schneehasen gejagt, bis sie sich gemeinsam mit mehreren anderen Familien bei dem Handelsposten niedergelassen hatten, an dem sein Vater aufgewachsen war.

Am frühen Abend liefen sie eine geschützte Bucht an, denn die Laderäume waren nun zum Bersten voll. Sie lagen tief im Wasser, was das letzte Stück der Fahrt noch gefährlicher machte.

Die Männer schwiegen angespannt, während der Maat lotete. Langsam schoben sie sich weiter zur Küste hin. Je näher sie herankamen, desto besser, denn den Tran würden sie am weiten Strand kochen und in Fässer abfüllen. Alles musste mit den kleinen Beibooten dorthin gebracht werden. Sie würden rudern, bis sie vor Erschöpfung an den Riemen einschliefen.

Timothy erinnerte sich an jeden einzelnen Landgang seines Lebens, denn es waren nur wenige gewesen. Als Kind hatten sie ihn zwar geängstigt, aber da war auch immer die Faszination für die fremden Buchten und Wälder gewesen. An Land wurde ihm anfangs immer übel, die Welt hörte nicht auf zu schwanken. Damals hatten sich die Männer über ihn lustig gemacht, mittlerweile wusste er, dass es ihnen nicht anders erging als ihm.

Wenn sie in Häfen einliefen, war er mit der Wachmannschaft an Bord geblieben. Timothy hatte jedes Schauermärchen geglaubt, das der Vater ihm von den verruchten Hafenstädten erzählte. Dort in den Häuserschluchten musste sich ein ehrlicher Mann vorsehen. Mit dem Sold einer langen Fahrt in der Tasche wurde ihm schnell die Kehle durchgeschnitten.

Als sie nun die erste Fuhre ins Beiboot luden und an Eisschollen vorbei an Land ruderten, hatte Timothy kaum Bedenken. Vor Landgängen, die fern von Häfen stattfanden, hatte der Vater ihn nie gewarnt.

Timothy sah der Abwechslung erwartungsvoll entgegen. Auf der Windspirit erinnerte ihn alles an seinen Verlust. Dieser Ort nun war fremd und neu. Vor ihnen lag eine weite, einsame Bucht. In der Luft hing der intensive Duft von Nadelbäumen. Dürre Fichten und Kiefern reihten sich als lichter Wald aneinander. Beerensträucher wuchsen bis hinab auf den steinigen Strand.

Schon jetzt sirrten die ersten Mücken um ihre bloßen Gesichter und Arme. Das dürften einige furchtbare Tage werden, dachte Timothy und drückte sich energisch in die Ruderbank.

Im Gleichklang hoben sich sechs Ruder aus dem Wasser und stießen wieder hinein. Niemand musste ihnen den Rhythmus vorsagen, sie waren schon seit Jahren eingespielt. Sobald sie auf diesem Boot waren, verschmolzen sie zu einem Leib, einer Seele. Nur Vater, der immer mit seiner Harpune im Bug gestanden hatte, jede Woge mit den Knien abfedernd, fehlte.

Timothy saß wie alle mit dem Rücken zum Land. Als er die Brandung hinter sich hörte, wie sie zu einem Brüllen anschwoll und den gläsernen Klang feiner Eiskristalle mit sich trug, blickte er konzentriert zum Steuermann. Der war aufgestanden und hielt die Ruderpinne mit beiden Händen.

„Backbord, Jungs, Backbord!“

Timothy gehorchte bereits, noch bevor der Befehl ganz in seinem Kopf angekommen war.

„Steuerbord, Ruder hoch!“

Das Beiboot schrappte an einer flachen Eisscholle vorbei. Der Zusammenstoß hob den hölzernen Rumpf etwas an, dann glitten sie von der Scholle weg.

„Weiter, schneller!“ Sie pullten. Auf beiden Seiten wuchs eine Welle, trug sie mit sich. Gischtfetzen lösten sich, dann setzte der Rumpf knirschend auf. Timothy war sofort von Bord, fasste das Boot mit beiden Händen und schob es weiter an den Strand. Sie beeilten sich, damit die nächste Welle sie nicht bis zur Hüfte durchnässte.

Dies war die erste Ladung, und noch arbeiteten sie mühelos. Doch mit der Zeit würden sie langsamer werden.

Sofort schulterten die Männer das Gepäck und trugen es weiter den Strand hinauf. Alle Seemänner schwankten, hatten das Meer noch im Blut. Timothys Magen krampfte beinahe augenblicklich. Er biss die Zähne zusammen, heftete den Blick auf die Schultern des Vordermanns und stapfte stur weiter.

Der Harzgeruch des Waldes war so intensiv, dass er ihn im ersten Moment als abstoßend empfand. Die dürren Bäume bogen sich unter dem Ansturm der Böen. Unter seinen Stiefeln knirschte Kies. Wo er hintrat, riss eine dünne Schicht aus Moos und Flechten.

Einer nach dem anderen luden sie ihre Fracht ab und kehrten torkelnd zum Boot zurück. Nicht weit von ihnen landeten weitere Beiboote an.

Timothy musterte die anderen Männer. Kaum einer von ihnen war weniger verschlossen als er selbst. Vor wem hatte der Vater ihn warnen wollen? Er fasste einen Entschluss. Er würde die Zeit des Landgangs nutzen, um so viel herauszufinden, wie er konnte, und dann einen Entschluss fassen. Entweder er ging im nächsten Hafen mit den gefüllten Tranfässern von Bord oder die Windspirit würde weiterhin sein Zuhause bleiben. Schon jetzt fühlte es sich fürchterlich an, den letzten Willen seines Vaters in Zweifel zu ziehen.

Ein Stechen wuchs in seinem Rücken, das nicht von der Anstrengung herrührte. Es waren Blicke, die sich wie Dolche in ihn bohrten. Timothy fühlte sich wie erstarrt. Drohte ihm jetzt schon Gefahr? Als er sich schließlich umdrehte, ging jeder der Männer einer Beschäftigung nach, niemand blickte in seine Richtung.

Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass jemand auf ihn lauerte.

Wo der Himmel die Prärie berührt

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