Читать книгу Im Schatten der Vergeltung - Rebecca Michéle - Страница 3

1. Kapitel

Оглавление

Trenance Cove, Cornwall, Sommer 1780

Maureen runzelte die Stirn, als es an der Tür klopfte. Sie warf einen letzten Blick auf die Zeilen in dem aufgeschlagenen Buch, das vor ihr auf dem Tisch lag:

... Eine der Maximen Walpoles war, das Bestehende zu sichern, lieber die Missbräuche zu gestatten, die mit dem eingeführten System zusammenhingen, als Reformen zu wagen, welche den Geist der Neuerung hätten erwecken können ...

Erst als es zum zweiten Mal hartnäckig an der Tür klopfte, blickte Maureen unwillig von ihrer Lektüre auf.

»Ja?«

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und die Zofe Nelly trat zögernd ins Zimmer.

»Mylady ...?«

»Ich habe doch gesagt, dass ich nicht gestört werden möchte!« Maureen klappte das Buch mit dem Titel Das Leben und Wirken Robert Walpoles zu und legte es zur Seite. »Was gibt es denn?«

Nelly räusperte sich.

»Lady Linnley ist soeben eingetroffen. Mr. Jenkins hat sie in den Salon geführt.«

Maureen erhob sich.

»Danke, Nelly. Richte Lady Linnley aus, ich bin sofort bei ihr.«

Maureen war über den überraschenden Besuch der Nachbarin nicht sehr erfreut. Sie liebte die Stunde der Muße am Nachmittag, wenn sie in ihrem Zimmer sitzen und in dicken Büchern lesen konnte. Das Personal wusste, dass sie in dieser Zeit nicht gestört werden wollte, aber ein Besuch der vermögendsten und einflussreichsten Frau der Grafschaft durfte nicht ignoriert werden. Nun saß Esther Linnley im Salon, und der Butler Jenkins servierte den Tee. Maureen warf einen bedauernden Blick auf das Buch, dessen weitere Lektüre bis zum nächsten Tag würde warten müssen, denn wenn Lady Linnley sich erst einmal gesetzt hatte, bestand wenig Hoffnung, dass sich die Dame vor dem Dinner wieder verabschieden würde.

Maureen trat vor den Spiegel und glättete ihr widerspenstiges Haar. Einzelne Strähnen der dunkelblonden Locken hatten sich aus den Haarnadeln gelöst und fielen unordentlich in Maureens Stirn und in den Nacken. Mit geübten Handgriffen steckte sie die Frisur wieder fest, strich dann über ihr Nachmittagskleid, das auch ohne Zierrat elegant und dem Anlass entsprechend war. Sie verließ ihr Zimmer und traf am oberen Treppenabsatz auf ihre Tochter, die offenbar auf sie gewartet hatte.

»Mama, ich glaube, die Kutsche der Linnleys ist vorgefahren.«

Maureen sah den erwartungsvollen Glanz in Fredericas eisblauen Augen, und auf ihren Wangen zeigten sich kleine rote Flecken. »Es besteht kein Grund zu übermäßiger Freude«, sagte sie und nickte Frederica beruhigend zu. »Lady Esther beehrt uns mit einem überraschenden Besuch. Sie kam jedoch allein.«

»Ach so.« Fredericas Enttäuschung war offensichtlich. »Es hätte ja sein können ...«

Maureen seufzte verhalten. Sie wusste, ihre Tochter hatte gehofft, George Linnley, den Sohn der Nachbarsfamilie ebenfalls begrüßen zu können. Seit einiger Zeit hatte ihre Tochter aus für Maureen völlig unerfindlichen Gründen ihr Herz an den jungen Sohn der Nachbarn verloren. Maureens wusste nicht, ob sie es begrüßen oder bedauern sollte, dass George Linnley mehr als die übliche höfliche Aufmerksamkeit ihrer Tochter zu schenken schien.

»Du kannst Lady Esther trotzdem begrüßen und den Tee einschenken«, sagte sie und sah ihre Tochter auffordernd an. »Sie würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen.«

»Oh, da fällt mir ein, ich muss heute unbedingt noch ein paar Briefe schreiben«, wehrte Frederica ab, lief schnell die Treppe ins zweite Obergeschoss hinauf und Maureen hörte, wie die Tür ihres Zimmers lauter als nötig ins Schloss fiel. Sie schmunzelte, denn sie hatte Verständnis für Fredericas offensichtliche Ausrede. Sie selbst hätte ebenfalls gern auf Lady Esthers Gesellschaft verzichtet. Als Hausherrin blieb ihr jedoch nichts anderes übrig, als in den Salon zu gehen und die Nachbarin mit freundlicher Miene willkommen zu heißen.

»Wer fragt mich eigentlich, ob mir der Besuch gelegen kommt?«, murmelte Maureen, straffte die Schultern, atmete tief durch, wappnete sich innerlich für das Gespräch mit der klatschfreudigen Lady Esther und betrat unverbindlich lächelnd den Salon. Keine Regung in Maureens faltenlosem Gesicht offenbarten ihre wahren Gefühle. Sie beherrschte das Spiel der aufgesetzten Freundlichkeit perfekt.

Lady Esther Linnley musterte sie erwartungsvoll und mit leicht gerunzelter Stirn.

»Maureen, ich hoffe, dich nicht bei einer wichtigen Arbeit unterbrochen zu haben. Ich warte immerhin schon seit einer Viertelstunde.«

Der unterschwellige Vorwurf in ihrer tiefen, leicht männlichen Stimme war unüberhörbar, dabei war es Lady Esther gleichgültig, ob sie ungelegen kam. Sie erwartete, dass sich alle Menschen über ihren Besuch jederzeit freuten. Selbst wenn ihr unsensibles Gemüt bemerkt hätte, dass ihr Besuch Maureens Pläne durcheinanderbrachten – Esther Linnley kümmerte sich nicht im Mindesten darum. Hauptsache, sie fand Gelegenheit, den neuesten Tratsch zu verbreiten.

»Nein, Lady Esther, keineswegs«, versicherte Maureen mit einem zuckersüßen Lächeln. »Wie ich sehe, hat Jenkins bereits eine kleine Stärkung serviert.«

Auf dem zierlichen Chippendale-Tischchen standen eine Kanne Tee, zwei Tassen und Teller sowie eine Platte mit noch warmem Apfelkuchen und kleinen, belegten Gurkenbrötchen. Maureen schenkte erst ihrem Gast, dann sich selbst ein und bot von dem Kuchen an. Lady Esther griff eifrig zu und legte sich gleich zwei Stücke auf den Teller. Erst dann nahm Maureen Platz. Die innere Anspannung war ihr nicht anzumerken. Scheinbar ruhig wartete sie, bis Lady Esther das Gespräch eröffnete, die Dame nippte aber nur am Tee und kostete dann von dem Kuchen.

»Da ist zu viel Zimt drin!«, stellte sie schließlich missbilligend fest. »Er überdeckt den Apfelgeschmack, darauf musst du künftig achten, Maureen.«

Maureen spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg.

»Ich werde es der Köchin ausrichten«, antwortete sie ruhig. Auch nach den vielen Jahren brachte es Lady Esther immer noch fertig, Maureen das Gefühl der Unzulänglichkeit zu vermitteln.

»Kindchen, du wirst es schon noch lernen. Das A und O einer guten Hausherrin ist, das Personal mit strenger Hand zu führen.«

Gönnerhaft tätschelte sie Maureens Hand. Der angeblich zu dominante Zimtgeschmack hinderte sie nicht daran, nach einem dritten Stück zu greifen und sich dieses schmecken zu lassen. Während sie genüsslich kaute, röteten sich ihre dicken Wangen. Überhaupt war an Lady Esther alles rund und rosig. Maureen hoffte, die Nachbarin würde endlich den Grund ihres Besuches nennen. Esther Linnley kam niemals einfach so zu einem Plausch vorbei, zumindest nicht nach Trenance Cove, aber Maureens Geduld wurde heute auf eine harte Probe gestellt.

»Eine große Bitte führt mich heute zu dir«, nahm Lady Esther die Unterhaltung erst wieder auf, nachdem sie noch zwei Sandwiches gegessen und eine weitere Tasse Tee getrunken hatte. Kein Wunder, dass sie so korpulent ist, dachte Maureen und lehnte sich gespannt zurück. »Es geht um unser Gartenfest am kommenden Samstag«, fuhr Lady Esther fort.

Für die ganze Grafschaft bedeutete das Gartenfest der Linnleys das Ereignis des Jahres. Hier galt es, sehen und gesehen zu werden, und soziale Kontakte zu pflegen oder neue zu schließen. Wer auf Linnley Park eingeladen wurde, war gesellschaftsfähig; wer von Esther Linnley gemieden wurde, dem blieben die Türen aller guten Häuser verschlossen. Von ihr anerkannt und in ihre Gesellschaft aufgenommen zu werden, galt mehr als eine Audienz bei der Gemahlin von König George. Unwillkürlich erinnerte sich Maureen an den Tag, als sie das erste Mal Linnley Park betreten und Lady Esther vorgestellt worden war. Es war eine einzige Katastrophe gewesen.

Schnell schob sie die unerfreulichen Erinnerungen an die Vergangenheit zur Seite und sagte mit einem unverbindlichen Lächeln: »Auch im Namen meines Gattens und meiner Tochter kann ich Ihnen versichern, dass wir uns sehr auf das Fest freuen, Lady Esther. Die Festivitäten in Ihrem Haus sind stets eine großartige Abwechslung in unserem beschaulichen Alltag, was allein Ihrer hervorragenden Organisation zu verdanken ist.«

Esther Linnley senkte den Blick und lächelte geziert, als wolle sie den Eindruck erwecken, über das Kompliment peinlich berührt zu sein. Maureen hingegen wusste genau, dass Lady Esther von solch salbungsvollen Worten nicht genug bekommen konnte. Dabei hatte sie es überhaupt nicht nötig, um Komplimente zu bitten, denn die Nachbarin war eine äußerst selbstbewusste Frau und stellte ihre Entscheidungen niemals in Frage. Trotzdem genoss sie es wie ein Bär, der einen Honigtopf ausschleckt, gelobt und in ihren Handlungen bestärkt zu werden. Wollte man von Lady Esther mit Wohlwollen anerkannt werden, tat man gut daran, ihr regelmäßig und ausführlich zu schmeicheln.

»Zu meiner Freude hat der Bischof von Exeter sein Kommen zugesagt.« Lady Esther legte eine kleine Pause ein und beobachtete Maureen aus halb geschlossenen Lidern. Sie lechzte förmlich nach einer angemessenen Reaktion, und Maureen tat ihr den Gefallen.

»Wirklich? Das ist ja wunderbar und eine große Ehre für Sie!«

Lady Esther nickte zufrieden und fuhr fort: »Es ist natürlich unmöglich, dass Lady Seelwood den Stand mit den Handarbeiten betreut. Ich möchte sie an meiner Seite wissen, um den Bischof gebührend zu begrüßen und ihn herumzuführen. Sie müssen den Verkauf allein bewältigen.«

Es war Tradition bei diesen Gartenfesten Decken, Sets und Taschentücher zum Verkauf anzubieten, und den Erlös der Kirchengemeinde zu Gute kommen zu lassen. Auch Maureen und ihre Tochter hatten fleißig Taschentuch um Taschentuch bestickt – eine Arbeit, die beide zwar nicht besonders mochten, aber notwendig war, denn jede Dame der Gesellschaft beteiligte sich an dieser Aktion. In den letzten Jahren hatten Maureen und Lady Ann Seelwood den Verkaufstand betreut. Die Frau des Parlamentsabgeordneten aus Truro war zwar jünger als Maureen, wurde von Lady Esther jedoch hoch geschätzt, da Lady Seelwoods Onkel mütterlicherseits kein Geringerer als ein Viscount mit weitläufigen Gütern in Mittelengland und einem großen Vermögen war. Maureen fühlte Bitterkeit in sich aufsteigen. Lady Esther würde niemals auf die Idee kommen, sie, Maureen, für die Begrüßung des Bischofs auszuwählen. In den vergangenen Jahren hatte sie gelernt – hatte es lernen müssen –, ihre Meinung oder gar ihre Wünsche für sich zu behalten, darum sagte sie höflich: »Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, Lady Esther. Ich komme sehr gut allein zurecht.«

Was das bedeutete, wusste Maureen. Sie würde den ganzen Nachmittag am Rande des Gartens stehen und nur ab und zu mit ein paar älteren Damen belanglose Worte wechseln.

Lady Esther beugte sich vor und tätschelte mit ihren beringten Fingern Maureens Hand.

»Ich wusste, auf dich ist Verlass, Kindchen. Ach, ich denke, jetzt, wo mir diese große Last von den Schultern genommen ist, könnte ich noch eine Tasse Tee vertragen.«

Kindchen! Wie Maureen diese Anrede hasste! Schließlich hatte sie selbst schon eine fast erwachsene Tochter, aber sie schwieg und goss das goldbraune Getränk in die zierliche Tasse. Niemals würde sich Lady Esther dazu herablassen, selbst einmal nach der Kanne zu greifen, dachte sie und hoffte, die Nachbarin würde, nachdem sie ihr Anliegen jetzt vorgebracht hatte, bald aufbrechen. Dann könnte ich noch eine Stunde lesen, bevor Philipp zum Dinner kommt, dachte Maureen. Lady Esther hatte offenbar noch etwas auf dem Herzen, denn sie lehnte sich bequem zurück und trank langsam und genüsslich den Tee. Sie wirkte entspannt und heiter, und die Genugtuung war ihrer Stimme anzuhören, als sie erneut das Wort ergriff.

»Wir erwarten einen weiteren wichtigen Gast zu dem Gartenfest. Dir kann ich es ja verraten, obwohl es noch nicht publik werden sollte, aber die Nichte eines Vetters von Lord Linnley wird den Rest des Sommers auf Linnley Park verbringen. Sie ist eine wahre Schönheit, die ihresgleichen sucht, für eine Dame angemessen gebildet und mit großem musikalischen Talent. Wenn sie das Pianoforte spielt und singt, dann schweigen sogar die Vögel. Darüber hinaus ...« Esther Linnley senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, kniff die Augen zusammen und beugte sich vor, »... stammt sie aus einer außerordentlich angesehenen Familie. Weißt du, Kindchen, ich muss langsam daran denken, George vorteilhaft zu verheiraten. Er ist jetzt Mitte zwanzig, und ich möchte bald den zukünftigen Erben von Linnley Park im Arm halten. Die junge Dame ist geradezu perfekt für meinen Sohn.«

»Oh!«

Diese Mitteilung überraschte sie nun doch, obwohl Maureen über eine Verbindung zwischen ihrer Tochter und George Linnley nicht glücklich gewesen wäre. Warum, konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen. Sie mochte den jungen, ernsthaften Mann einfach nicht und spürte instinktiv, dass er nicht der richtige war, Frederica auf Dauer glücklich zu machen. Wie jede Mutter wünschte sich Maureen für ihr Kind nur das Beste, George Linnley zählte ihrer Meinung aber nicht dazu. Die Nachricht, Lady Esther habe bereits eine Braut für ihren Sohn ins Auge gefasst und eine Beziehung zwischen George und Frederica offenbar nie in Erwägung gezogen, kränkte Maureen dennoch. Auch Esther Linnley konnten die regelmäßigen Treffen zwischen ihrem Sohn und Frederica nicht entgangen sein, außerdem hatten sie beim letzten Weihnachtsball fast den ganzen Abend zusammen getanzt. Seit dem Abend lief Frederica mit verklärtem Blick herum und wenn sein Name fiel, zuckte sie zusammen und errötete. Ihre Tochter war zum ersten Mal verliebt, und Maureen fragte sich, wie sie auf die Nachricht, George würde eine andere Frau heiraten, reagieren würde. Sie wusste, wenn sich Esther Linnley etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann würde das auch so geschehen. Die Frau bekam immer ihren Willen.

»Sie sehen mich überrascht, Lady Esther«, sagte sie bedächtig und überlegt, denn sie musste ihre Gedanken aussprechen. »Wir glaubten, ein gewisses Interesse Ihres Sohnes für Frederica zu erkennen.«

»Frederica? Etwa deine Tochter?«

Es geschah äußerst selten, dass Esther Linnley ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hatte, jetzt jedoch sah sie Maureen derart überrascht, fast schon entsetzt an, dass Maureen ihre Schultern straffte und bestimmt sagte: »Ja, ganz recht, Sie kennen Frederica doch. Obwohl meine Tochter für eine Ehe natürlich noch viel zu jung ist, und …«

Lady Esther stieß einen überraschten Laut aus und schnitt Maureen das Wort ab.

»Aber Kindchen, wie kommst du nur auf einen solch absurden Gedanken! Du weißt, wie sehr Lord Linnley und ich dich schätzen gelernt haben, aber eine Verbindung unseres Hauses mit eurer Familie ...« Um ihre Worte zu unterstreichen, schüttelte sie vehement den Kopf. »Du bist doch vernünftig genug, um einzusehen, dass eine solche … Liaison fern jeglicher Realität ist. George ist der Erbe eines großen Vermögens, nicht zu vergessen seine angestrebte politische Karriere. Er braucht eine Frau mit untadeligem Ruf an seiner Seite, und bei deiner Vergangenheit ...«

Die unterschwellige Verachtung in ihren Worten machten Maureen zornig. Nur mit Mühe wahrte sie noch die Kontenance, lediglich ihr rechtes Augenlid zuckte nervös. Obwohl sich Lady Esther seit Jahren damit rühmte, sich um die arme Maureen Trenance stets wie eine leibliche Mutter gekümmert zu haben, wusste sie doch nicht im Entferntesten, was in Maureen wirklich vorging. Auch wenn Maureen eine Verbindung zwischen George Linnley und ihrer Tochter nicht anstrebte, regte sich Trotz über den deutlichen Hinweis, Frederica wäre keine passende Partie.

»Unsere Tochter ist ein bezauberndes und liebenswürdiges Mädchen«, sagte sie deshalb mit einem scharfen Unterton. »Frederica genoss eine erstklassige Erziehung in einem französischen Pensionat und verfügt über alle Kenntnisse, die eine gute Ehefrau ausmachen. Darüber hinaus hat sie eine großzügige Mitgift zu erwarten. Auch unsere Familie besitzt ein nicht unerhebliches Vermögen, wie Ihnen bekannt sein sollte. Zusätzlich kann sie mit einer jährlichen Apanage von zweitausend Pfund rechnen, und ihrem Ehemann fällt Trenance Cove zu, wenn Philipp nicht mehr ist. Wir haben ja keinen Sohn, wie Sie ebenfalls wissen.«

Lady Esther schnappte nach Luft, ihre Wangen färbten sich tiefrot. Widerspruch war sie nicht gewohnt, und Geldangelegenheiten derart deutlich anzusprechen, und sei es im engsten Freundeskreis, war ein unverzeihlicher Fauxpas. Selbstverständlich wurde vor einer Heirat die Mitgift von den jeweiligen Familien ausgehandelt, das geschah jedoch hinter verschlossenen Türen und man sprach nicht öffentlich darüber.

Abschätzend musterte Lady Esther Maureen, als würde sie sie heute zum ersten Mal sehen.

»Wie ich sehe, bekommt deine einfache Erziehung die Oberhand, und das nach den vielen Jahren, in denen ich mir redlich Mühe mit dir gegeben habe. Ein weiterer Beweis, wie wenig deine Tochter geeignet ist, Herrin eines angesehenen Hauses wie das unsrige zu werden«, sagte sie kalt und eindeutig verärgert. In Anbetracht ihrer Korpulenz stand Esther Linnley erstaunlich schnell auf und fuhr hochmütig fort: »Es ist Zeit für mich zu gehen. Ich muss noch wichtigen Personen die Einladungen überbringen. Schließlich erwarten wir auf unserem Fest die Elite nicht nur des cornischen Adels, sondern von ganz Südengland.«

Wie gnädig, dass ich überhaupt eingeladen werde, dachte Maureen zynisch. Niemals würde Lady Esther sie als ihresgleichen behandeln, das zeigte sich auch in der vertrauten Anrede, während Maureen die offizielle Form und Anrede wählen musste.

»Herzlichen Dank für die freundliche Einladung, auch im Namen meines Mannes und unserer Tochter. Wir wissen es zu schätzen, bei dem größten gesellschaftlichen Ereignis des Jahres dabei sein zu dürfen«, erwiderte Maureen diplomatisch. »Selbstverständlich werde ich Ihnen zur Hand gehen, wo ich nur kann.« Sie hatte die richtigen Worte gewählt, um Lady Esther wieder versöhnlich zu stimmen.

Wohlwollend und verzeihend lächelte Esther Linnley und ließ sich von Maureen in die Halle und von dort nach draußen begleiten. Sie hatte bereits in ihrer Kutsche Platz genommen, als sie das Wort nochmals an Maureen richtete.

»Auf Grund deiner lächerlichen Vorstellung, es könnte sich eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen unseren Familien ergeben, habe ich fast vergessen zu erwähnte, dass Bracken Hall einen neuen Besitzer hat. Es handelt sich um einen allein stehenden älteren Herrn. Zwar nicht von Adel, er soll jedoch freundlich und umgänglich sein, und vermögend muss er ebenfalls sein, wenn er den Besitz gekauft hat. Ich überlege, ihn ebenfalls zum Fest einzuladen, obwohl er mir noch nicht die Aufwartung gemacht hat. Man muss sich aber um solche Menschen kümmern, das gebiert schon die Christenpflicht. Ich hoffe, sein Auftreten entspricht unseren Ansprüchen. Nun, vielleicht ist er ...«

Es interessierte Maureen wenig, wer dieser Mann war und wie er sich benahm, aber sie heuchelte Interesse. Lady Esther hatte wie immer in ihrer unnachahmlichen Art abrupt das Thema gewechselt. Maureen hoffte, dass sie sich jetzt nicht weiter über die Nachbarschaft auslassen würde, Lady Esther hatte aber offenbar keine weiteren Neuigkeiten und verabschiedete sich. »Auf Wiedersehen, Kindchen!« Sie schenkte Maureen ein huldvolles Lächeln, nichts erinnerte mehr an ihren vorherigen Zorn.

Ein Diener schloss den Schlag, auf dem das Wappen der Linnleys prangte.

»Auf Wiedersehen, Lady Esther.« Maureen brachte es nicht fertig, Lady Esther für ihren Besuch zu danken. Für heute hatte sie genug geheuchelt. Erst nachdem das Gefährt das steinerne Tor von Trenance Cove passiert hatte, ließ Maureen ihrem Ärger freien Lauf und krauste die Stirn. Ihre Tochter nicht gut genug für die Linnleys? Ha! Es war genau umgekehrt! Frederica war viel zu schade für diesen schmalbrüstigen, bleichgesichtigen George! Auch wenn er zehnmal so reich gewesen wäre – er war das Ebenbild seines schwachen, rückgratlosen Vaters. Es war nicht etwa so, dass Maureen David Linnley nicht mochte, im Gegenteil, sie zog seine Gesellschaft der Lady Esthers vor. Es war allgemein bekannt, dass David Linnley selten eine eigene Meinung hatte oder die gar vertrat. Er richtete sich in allem, was er tat oder sagte, immer nach seiner Frau. Maureen fragte sich oft, wie zwei derart unterschiedliche Menschen hatten heiraten können.

Wahrscheinlich handelte es sich um eine von den jeweiligen Eltern arrangierte Ehe, eine übliche Vorgehensweise in ihren Kreisen. Maureen wünschte zwar eine gute Partie mit finanzieller Sicherheit für ihre Tochter, Frederica sollte in erster Linie aber glücklich werden. Sie und ihr Mann Philipp würden Frederica niemals in eine Ehe mit einem Mann drängen. Frederica sollte selbst entscheiden, wem sie einmal ihre Hand reichen wollte. Darüber hinaus kannte Maureen das eigenwillige Wesen ihrer Tochter, die sich ohnehin zu nichts zwingen lassen würde. In dieser Beziehung war Frederica ihrer Mutter sehr ähnlich. Bereits als Kind war Frederica lebhaft und ungeduldig gewesen, mochte es nicht, sich stundenlang mit einer Aufgabe oder gar Handarbeit still zu beschäftigen, und Maureen hatte ihre Tochter nie zu etwas gezwungen. Sie selbst fand es auch nicht anregend, stundenlang ein Altartuch mit biblischen Motiven zu besticken. Obwohl Maureen ihre Tochter von ganzem Herzen liebte, verschloss sie nicht die Augen vor der Tatsache, dass Frederica gern ihren Willen durchsetzte, was ihr bei ihrem Vater mit schmeichelnden Worten und einem koketten Augenaufschlag auch spielend gelang. Bisher hatte es sich aber nur um belanglose Dinge gehandelt, die einem jungen Mädchen wichtig waren, wie hübsche Kleider oder bunte Haarbänder. Allerdings besaß Frederica einen Charakterzug, der schon in jungen Jahren erkennen ließ, dass sie bei einem schwachen Mann schnell den nötigen Respekt verlieren konnte. Sie brauchte einen Partner, der ihr gewachsen war und ihr die Stirn bot. In Maureens Augen war George Linnley ein solcher Schwächling. Er war gewohnt, von Lady Esther gegängelt zu werden und ging jeder Konfrontation aus dem Weg. Wenn die Zeit der ersten Verliebtheit erst einmal vorbei war – und dieser Zeitpunkt kam in jeder Ehe früher oder später, dass wusste Maureen aus eigener Erfahrung –, würde Frederica beginnen, George zu bevormunden. So, wie Lady Esther es mit ihrem Mann tat. Obwohl Lady Esther sie und ihre Tochter unverhohlen beleidigt hatte, war Maureen froh, dass eine Verbindung zwischen Frederica und George Linnley nun endgültig ausgeschlossen schien.

Beim Dinner drehte sich das Gespräch um das bevorstehende Gartenfest. Maureen berichtete von Lady Esthers Besuch, erwähnte aber vor ihrer Tochter mit keiner Silbe, was die Nachbarin ihr bezüglich Georges Zukunft anvertraut hatte. Die kleine Missstimmung zwischen ihr und Lady Esther behielt sie ebenfalls für sich, Philipp hätte sie nur wieder gebeten, sich künftig mehr zusammenzunehmen.

»Hoffentlich regnet es nicht«, seufzte Frederica mit sorgenvoller Miene. »Glaubst du, Mama, die Schneiderin hat mein Kleid bis Samstag fertig?«

Maureen lächelte verständnisvoll.

»Sicher, Kleines, morgen ist doch schon die letzte Anprobe. Du wirst in dem Kleid wie eine Prinzessin aussehen.«

»Auf einem Gartenfest der Linnleys regnet es niemals«, mischte sich Philipp Trenance ein. »Da dieses Jahr der Bischof erwartet wird, wird Petrus es nicht wagen, auch nur eine Wolke am Himmel aufziehen zu lassen.« Er lachte über den kleinen Scherz. Liebevoll sah er seine Tochter an. »Ich bin überzeugt, dass du das schönste Mädchen auf dem Fest sein wirst.«

Frederica warf dem Vater einen dankbaren Blick zu. Maureen fühlte einen Stich der Eifersucht über die Eintracht von Vater und Tochter. Zwischen den beiden bestand eine besondere Verbindung, die sich tagtäglich in kleinen Gesten und Blicken äußerte. Maureen liebte ihre Tochter nicht weniger, aber Philipp und Frederica schien ein unsichtbares und unzerstörbares Band zu verbinden, während sie mit ihrer Tochter oft heftige Diskussionen auszutragen hatte.

»Frederica, du kannst mir am Stand helfen«, sagte Maureen, wohl wissend, sich Fredericas Unmut zuzuziehen. Das Mädchen runzelte auch sofort unwillig die Stirn.

»In der äußersten Ecke des Gartens? Aber Mama, dahin verirren sich doch nur die alten Frauen, um stundenlang Tratsch und Klatsch auszutauschen. Da ist es doch sterbenslangweilig! Es werden so viele interessante Leute auf dem Fest sein, und ich möchte mich amüsieren.«

Maureen zog eine Augenbraue hoch, was ihrem Gesicht einen Ausdruck von Strenge verlieh.

»Du willst doch nur in George Linnleys Nähe sein«, brachte sie Fredericas Gedanken auf den Punkt. »Wenn ich dir einen Rat geben darf: Du solltest keine allzu tiefen Gefühle aufkommen lassen. Dein Vater und ich können doch davon ausgehen, dass dein Verhalten bisher untadelig war und nichts geschehen ist, das dich kompromittieren könnte?«

Frederica errötete, dann senkte sie den Blick und stocherte lustlos auf ihrem Teller herum.

»Aber ich habe doch gar nichts getan ...«

Philipps kräftige Hand legte sich auf Maureens Arm.

»Es kommt alles so, wie es kommen muss, meine Liebe. Jetzt wollen wir nicht mehr darüber sprechen, sondern uns auf das Fest freuen.«

Maureen war indes nicht bereit, so einfach nachzugeben. Sie wollte Frederica beschützen, sie davor bewahren, ihr Herz an den falschen Mann zu verlieren. Maureen wusste, Philipp hätte nichts gegen eine Vermählung mit George Linnley einzuwenden, schließlich würde er eines Tages ein beträchtliches Vermögen erben. Es ärgerte sie, dass Philipp gegenüber den Fehlern des jungen Mannes anscheinend völlig blind war.

»Frederica ist zu jung ...«, begann sie erneut und wurde von ihrer Tochter unterbrochen.

»Ich weiß selbst, was ich zu tun und zu lassen habe!« Das Mädchen sprang auf und warf ihre Serviette auf den Tisch. Unglücklicherweise landete sie mitten in der Soßenterrine, und die Spritzer verteilten sich auf der weißen Damastdecke. »Wenn ich mich richtig erinnere, Mama, warst du kaum älter als ich, als du Papa geheiratet hast. Mir ist der Appetit vergangen, ich gehe ins Bett.«

Hoch erhobenen Hauptes verließ Frederica das Speisezimmer. Für einen Moment erwartete Maureen, Frederica würde hinter sich die Tür laut ins Schloss fallen lassen, aber Frederica beherrschte sich im letzten Augenblick.

»Sie hat recht, du warst in ihrem Alter, als du deine Familie verlassen und mit mir fortgegangen bist«, stellte Philipp sachlich fest. »Es ist erschreckend, wie schnell die Zeit vergeht. Unsere Tochter ist eine kleine Schönheit geworden, und wir werden uns langsam an den Gedanken gewöhnen müssen, dass sich die Verehrer die Klinke in die Hand geben werden.«

»Aber nicht George Linnley!« Maureen schob ihren Teller zur Seite. Ihr war der Appetit vergangen.

»Ich verstehe wirklich nicht, was du gegen den jungen Mann einzuwenden hast.«

Maureen schüttelte missbilligend den Kopf. »Meine Empfindungen sind in diesem Fall unwesentlich. Frage dich lieber, was Lady Esther von dem Gedanken hält, Frederica als ihre Schwiegertochter in die Arme zu schließen. Nämlich gar nichts! Sie gab mir heute mehr als deutlich zu verstehen, dass ein Linnley niemals eine Trenance heiraten wird. Sie hat für ihren geliebten George schon längst eine reiche Erbin auserkoren. Wir werden sie auf dem Gartenfest kennenlernen.«

Erstaunt bemerkte Philipp: »Ich dachte immer, unsere Familien sind in Freundschaft verbunden.«

»David Linnley ist jedermanns Freund, der mit ihm belanglose Konversation betreibt und ihn sonst in Ruhe lässt. Außerdem hat er in der Angelegenheit, wen sein Sohn zur Frau nimmt kein Wort mitzureden. Lady Esther führt das Regiment, und George Linnley ist genau wie sein Vater ein Schwächling und ein Versager.«

Philipp seufzte und fuhr mit einer Hand durch sein dichtes, blondes Haar. Nur bei offiziellen Anlässen trug er eine der modischen gepuderten Perücken.

»Lady Esther wird niemals vergessen, nicht wahr?«

In seiner Stimme lag so viel Hoffnungslosigkeit, dass Maureen zusammenzuckte. Sie wünschte, Philipp würde sie in die Arme nehmen und ihr versichern, ihm sei das Gerede der Nachbarn gleichgültig. So, wie er es früher getan hatte, aber diese Zeiten waren schon lange vorbei, und Maureen konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann die Veränderung eingesetzt hatte. Was war aus ihrer bedingungslosen Liebe geworden? Ein höfliches Miteinander, aus der sich die Leidenschaft langsam, aber sicher davonstahl. Sie durfte aber nicht undankbar sein. Sie hatte ein schönes Heim, frei von finanziellen Problemen und – das war das Wichtigste von allem – eine gesunde und bezaubernde Tochter. Philipp erhob sich, Maureen stand ebenfalls auf und machte einen Schritt auf ihren Mann zu. Leicht berührte sie ihn am Arm.

»Philipp?«

Er beachtete die Geste nicht, ging zum Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus.

»Vielleicht sollte ich Frederica mit nach London nehmen, wenn ich das nächste Mal in die Stadt muss. Das passende Alter, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden, hat sie erreicht. In Cornwall weiß doch jeder über dein Leben Bescheid, und wer nicht, der wird von Lady Esther so schnell wie möglich aufgeklärt. Für Frederica wird es nicht leicht werden, einen Mann ...«

Er brach ab, aber Maureen wusste, mit welchen Gedanken er sich beschäftigte. Jedes seiner Worte hatte sich wie eine Messerspitze in ihr Herz gebohrt. Ihre Vergangenheit, an der sie selbst keine Schuld trug, würde sich auch auf ihre Tochter auswirken. Solange Frederica ein kleines, niedliches Baby und später ein entzückendes Kind mit einem wachen Verstand gewesen war, hatte niemand Anstoß an der Herkunft ihrer Mutter genommen. Jetzt war aus Frederica Trenance eine junge Frau im heiratsfähigen Alter geworden, die eine gute Mitgift zu erwarten hatte. Trotzdem würde kein Angehöriger des Hochadels Frederica zur Frau nehmen. Auch wenn Maureens Abstammung vielleicht nicht überall bekannt war, wäre es doch unehrenhaft, die Vergangenheit einem Anwärter auf Fredericas Hand zu verschweigen. Maureen konnte sich den Eklat gut vorstellen, der unweigerlich folgen würde, wenn jemand anderer, wahrscheinlich Lady Esther, die betreffende Familie über die nicht standesgemäße Partie aufklären würde. Es lag weder in Maureens noch in Philipps Interesse, Frederica reich zu verheiraten. Beide wollten sie das Glück ihrer Tochter, und wenn Frederica dies an der Seite eines Kaufmanns finden würde, würde Philipp zwar nicht besonders begeistert sein, sich aber nicht gegen eine derartige Verbindung stellen. Wahrscheinlich hatte Philipp recht, und Frederica sollte ihren Vater für ein paar Wochen nach London begleiten. Dort hätte sie die Gelegenheit, nicht nur eine andere Gegend als Cornwall kennen zu lernen, sondern auch andere Menschen. Menschen, die nichts von der Abstammung ihrer Mutter wussten und dem Mädchen unvoreingenommen begegneten.

Philipp Trenance hatte einen Sitz im Oberhaus inne und verbrachte regelmäßig Zeit in der Hauptstadt. Die Familie besaß ein kleines, elegantes Stadthaus am Hanover Square. Den Parlamentsposten hatte er von seinem Vater geerbt, und er bedeutete ihm sehr viel, denn mit ihm saß bereits die fünfte Generation der Trenance im Oberhaus. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte Maureen ihren Mann oft nach London begleitet, diese Reisen aber eingestellt, als Frederica heranwuchs. Sie wollte das Mädchen nicht über Wochen in der Obhut einer Nanny lassen, sondern sich selbst um es kümmern. Außerdem hatte sich Maureen in der eitlen und verlogenen Welt des Hochadels, der verächtlich auf alle weniger Privilegierten herabsah, nie wohlgefühlt. In Cornwall blieben ihr regelmäßige Begegnungen mit einer Gesellschaft, zu der sie nie richtig gehören würde, auch nicht erspart, Maureen hatte aber mehr Gelegenheit, sich zurückzuziehen. Sie war glücklich auf Trenance Cove, glücklich mit ihrer Tochter und nach wie vor glücklich mit Philipp, auch wenn die Schmetterlinge im Bauch längst ausgeflogen waren.

»Du hast mich auch geheiratet«, flüsterte sie und lehnte ihre Stirn an seinen Rücken. »Gegen alle Widerstände hast du mich zur Frau genommen. Es hat dich nicht gekümmert, was deine Familie und Nachbarn zu unserer Verbindung sagen würden.«

Philipp drehte sich um, hob mit zwei Fingern ihr Kinn und sah sie mit einem traurigen und zugleich sorgenvollen Blick an.

»Wir waren so jung! Wenn wir damals gewusst hätten, was uns im Leben erwartet, was uns abverlangt wird ...« Wieder ließ er den Satz unvollendet, und erneut wusste Maureen, dass er seine Entscheidung, eine Ehe mit einem Mädchen aus der untersten Gesellschaftsschicht einzugehen, die zudem noch Ausländerin war, schon längere Zeit in Frage stellte. »Es ist unsere elterliche Pflicht, Frederica vor ähnlichen Erfahrungen zu bewahren«, fuhr er bekümmert fort.

Maureen schluckte und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie verletzt sie war. Noch heute stand ihr die offene Ablehnung ihres Schwiegervaters vor Augen, der sich für seinen einzigen Sohn und Erben ein vermögendes Mädchen aus gutem Hause gewünscht hatte. Es dauerte Jahre, bis das Personal Maureen als Herrin akzeptierte. Wie oft wurde hinter Maureens Rücken über ihren schottischen Akzent gekichert! Bevor Lady Esther sich ihrer angenommen und sich erbarmt hatte, aus Maureen eine Dame zu machen, wurde die Familie Trenance von allen angesehenen cornischen Familien gemieden. Es gab keine Einladungen, keine Besuche, und niemand gab Maureen die Chance zu beweisen, dass sie zwar einfacher Abstammung, im Herzen und im Charakter trotzdem ein guter Mensch war.

Maureen schuldete Lady Esther Dankbarkeit, dass die Dame sie unter ihrer Fittiche genommen hatte. Sie hatte sich sehr bemüht und alles getan, um ihren geliebten Philipp nicht zu enttäuschen. Er durfte sich durch die Heirat mit ihr auf keinen Fall seine Zukunft verbauen. Bald schon merkte Maureen, dass es für Lady Esther nur einen einzigen Grund gab, warum sie sich um Maureen kümmerte: In dem unbedarften, einfachen Mädchen hatte sie eine Person gefunden, die sie beherrschen und nach ihrem Belieben formen konnte. Esther Linnley hatte versucht, Maureen zu manipulieren und zu einer folgsamen Anhängerin ihrer Meinung zu machen. Sie duldete auch keinen Widerspruch. Auch wenn Maureen oft anderer Meinung war, wagte sie niemals, diese zu äußern, denn von Lady Esther lernte sie binnen weniger Monate, wie eine Dame zu sprechen und sich zu bewegen hatte, wie man elegant und trotzdem sicher die Teetasse und den Teller mit Kuchen in den Händen balancierte, wie man zwanglose Konversation betrieb und wie man einen so großen Haushalt wie Trenance Cove führte und sich dem Personal gegenüber mit Strenge, aber auch Höflichkeit durchsetzte.

Ja, sie hatte Esther Linnley wirklich viel zu verdanken, empfand aber auch Bitterkeit. Nach außen war sie zu einer Puppe geworden, die so funktionierte, wie es von ihr erwartet wurde. In ihrem Inneren war sie aber immer noch die Maureen, die als Kind barfuß über die Heide gelaufen und im Stall zwischen den Schafen geschlafen hatte. In der letzten Zeit gab es immer wieder Situationen wie heute, in denen Philipp ihr indirekt zu verstehen gab, dass er ihre überstürzte Heirat bereute. Nein, er würde es ihr niemals ins Gesicht sagen, immerhin war er ein Gentleman, sein Verhalten sprach jedoch für sich. Wo war das Feuer ihrer ersten gemeinsamen Jahre geblieben? Wann hatten sie zuletzt miteinander eine leidenschaftliche Nacht verbracht? Wann hatte er ihr zum letzten Mal gesagt, wie sehr er sie auf seinen Reisen vermisste? Liebt er mich eigentlich noch? Diese Frage lag Maureen seit langem auf der Seele, ihr Stolz verbot ihr aber, die Worte auszusprechen. Stattdessen seufzte sie nur leise und sagte:

»Es war ein anstrengender Tag. Ich möchte mich zurückziehen.«

Pflichtbewusst hauchte Philipp ihr einen Kuss auf die Wange, wobei seine Lippen kaum ihre Haut berührten.

»Maureen, ich bitte dich, nie zu vergessen, wie viel du Lady Esther zu verdanken hast und um Zurückhaltung ihr gegenüber. Ich weiß sehr gut, dass dein Temperament manchmal mit dir durchgeht und du deine Worte nicht sorgsam und überlegt wählst. Von Lady Esthers Wohlwollen hängt jedoch unsere Stellung und unser Ansehen in Cornwall ab.«

Nun konnte Maureen sich nicht länger beherrschen, und es brach aus ihr hervor: »Lady Esther! Immer nur Lady Esther! Hast du dich eigentlich einmal gefragt, was es für mich bedeutet, dieser Frau ständig Honig um den Bart zu schmieren?«

Als hätte ihn jemand mit einer Reitpeitsche mitten ins Gesicht geschlagen, zuckte Philipp zurück.

»Du bist ungerecht, es geschah alles nur zu deinem und schließlich auch zu Fredericas Bestem. Habe ich dir nicht alle Freiheiten gelassen, die du wolltest, solange sie nicht dem Wohl der Familie entgegenwirkten? Ist es wirklich zu viel verlangt, wenn ich dich bitte, sich gegenüber einer älteren Dame höflich und freundlich zu benehmen?«

Ärgerlich zog Maureen die Stirn kraus, eine steile Falte bildete sich über ihrer Nasenwurzel.

»Das heißt, dass ich ihr in den ...«

»Maureen«, unterbrach Philipp scharf, »sprich es lieber nicht aus! Das ist deiner nicht würdig.«

Maureen zuckte mit den Schultern und versuchte einzulenken.

»Ach, Philipp, ich möchte mich nicht mit dir streiten. Wir sind beide erregt, es ist am besten, wenn wir das Gespräch morgen fortsetzen. Gute Nacht, Philipp.«

Sie ging zur Tür, legte die Hand auf die Klinke und zögerte. Sie hoffte, er würde ihr folgen oder wenigstens ein paar versöhnliche Worte sagen, aber Philipp blieb stumm. Resigniert verließ Maureen den Raum und ging langsam die Treppe hinauf. Als sie die Tür ihres Schlafzimmers hinter sich geschlossen hatte, atmete sie tief ein und aus. Um sich zu beruhigen, griff sie nach dem Buch, dessen Lektüre sie am Nachmittag unterbrechen musste. Bereits nach wenigen Minuten legte Maureen das Buch wieder zur Seite. Sie konnte sich jetzt nicht auf die Biografie eines Fremden konzentrieren. Ihre eigenen Probleme schwirrten ihr im Kopf umher. Seit Jahren bewohnten sie und Philipp getrennte Schlafräume, so konnte sie all das lesen, das sie interessierte, ohne jemanden Rechenschaft abgegeben zu müssen. Maureen wusste, dass Philipp ihren Wissensdurst weder nachvollziehen noch verstehen konnte, ihn aber billigte – zumindest, wenn Maureen in der Abgeschlossenheit ihres Zimmers all die Bücher las, die eigentlich den Männern vorbehalten waren.

»Ich glaube, Gott würde es verstehen, dass wir Frauen uns auch für Politik und Wirtschaft interessieren«, hatte Maureen einmal gesagt.

Damals hatte Philipp verschmitzt gelächelt, die Vorhänge zugezogen und erwiderte: »Gott schon, die Nachbarn nicht.«

Maureen fand nun einmal keine Erfüllung darin, stundenlang mit herausgeputzten, ältlichen Damen bei Tee und Gebäck zusammenzusitzen und sich in Tratsch zu ergehen. Wer mit wem, wann und wieso ... Es langweilte Maureen unsäglich. Erst vor wenigen Wochen hatte sie bei einem Teekränzchen die aktuellen Ereignisse in den Kolonien angesprochen und die Damen damit schockiert.

»Politik ist Männersache!«, hatte Ann Seelwood entrüstet gerufen. »Unser Verstand ist nicht dazu geschaffen, so komplexe Themen zu verstehen oder gar zu begreifen.«

»Aber immer mehr Frauen interessieren sich für ...«, versuchte Maureen zu widersprechen, erhielt aber keine Gelegenheit, den Satz zu vollenden, denn Lady Esther fuchtelte nervös mit beiden Händen vor Maureens Gesicht, als wolle sie ein lästiges Insekt verscheuchen.

»Kindchen, Kindchen! Wir sind auf der Welt, um unseren Männern das Leben zu verschönern und ihnen ein gemütliches Heim zu schaffen. Kein Mann möchte in der Gesellschaft einer Frau sein, die sich in seine Angelegenheiten mischt oder gar meint, über politische Vorgänge ihre Meinung äußern zu müssen.«

Maureen hatte sich über Lady Esters Worte sehr gewundert, denn gerade diese ließ ihrem Mann keine eigene Meinung und hielt die Zügel fest in der Hand. Für einen Moment hatte sie nicht übel Lust gehabt, Lady Esther zu sagen, dass sie entgegen ihrer Aussage lebte und handelte, aber wie meistens hatte sie dieser Versuchung widerstanden. Maureen wusste, wann es besser war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, auch wenn sie Lady Esthers Einstellung nicht teilte und niemals teilen würde.

Die anderen hatten sich eifrig nickend Lady Esthers Äußerung angeschlossen, und sogleich war ein anderes und unverfängliches Thema angeschnitten worden.

Unter diesen Bedingungen blieb Maureen nichts anderes übrig, als in der Zurückgezogenheit ihres Zimmers Bücher und Zeitungen zu studieren, die in den Augen der Gesellschaft den Männern vorbehalten waren.

Am Tag des Gartenfestes auf Linnley Park zeigte sich tatsächlich keine einzige Wolke am blauen Himmel. Das Meer lag ruhig in der Bucht, die Trenance Cove den Namen gegeben hatte, und die Luft war mild, aber nicht zu warm. Heute würde man angenehm unter freiem Himmel essen und trinken können.

Philipp wartete ungeduldig neben dem offenen Kutschenschlag. Soeben war Frederica zum zweiten Mal ins Haus zurückgelaufen, weil sie etwas vergessen hatte.

»Wie eine aufgescheuchte Hummel.« Maureen sah lächelnd ihrer Tochter nach. »Ich sehe nach, was sie jetzt noch braucht.« Maureen freute sich auf den Tag, ihre trüben Gedanken waren verflogen. Bei einem solch herrlichen Wetter musste man einfach guter Stimmung sein. Am Fuß der Treppe kam ihr Frederica auch schon wieder entgegen. Ihre Augen strahlten in erwartungsvoller Vorfreude, ihre runden, aber nicht zu dicken Wangen leuchteten rosig.

»Ich hatte meinen Sonnenschirm vergessen«, rief sie und schwenkte ihr Sonnenschirmchen so hektisch, dass sie Maureen beinahe den Hut vom Kopf gestoßen hätte. Diese nahm es mit Humor und wich geschickt zu Seite, dann musterte sie Frederica jedoch kritisch.

»Und dein Schultertuch ebenfalls.«

»Wie?«

»Du hast kein Schultertuch um, Frederica.« Maureen versuchte, streng zu klingen, obwohl sie Mühe hatte, ein nachsichtiges Lächeln zu unterdrücken. Sie konnte Frederica in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit einfach nicht ernsthaft böse sein. »Dein Kleid ist zu weit ausgeschnitten, um es ohne Tuch zu tragen.«

»Aber Mama, für ein Tuch ist es doch viel zu warm.«

Maureen blieb jedoch unnachgiebig.

»Entweder ziehst du ein Kleid an, das dein Dekolleté in schicklicher Weise bedeckt, oder du holst jetzt sofort ein Tuch! Und beeil dich, dein Vater ist kurz davor, die Geduld zu verlieren, wir dürfen nicht zu spät kommen.«

Fredericas Stirn runzelte sich unwillig, sie murmelte etwas, das Maureen nicht verstehen konnte, ging aber wieder die Treppe in ihr Zimmer hinauf. Sie wusste, dass sie dem Wunsch ihrer Mutter folgen musste, auch wenn durch ein Schultertuch die Wirkung ihres blauen Kleides, das genau die Farbe ihrer Augen widerspiegelte, gründlich verdorben werden würde. Dabei wollte, nein, musste sie heute so verführerisch aussehen, dass George Linnley gar nicht anders konnte, als den ganzen Tag an ihrer Seite zu sein. Nun, sie würde sich das dumme Tuch zunächst einmal umlegen. Die Eltern beobachteten sie gewiss nicht andauernd, und es würde sich schon eine Gelegenheit ergeben, ihre wohlgeformte Figur George Linnley in all ihrer Schönheit zu präsentieren.

Ungeduldig schritt Maureen in der Eingangshalle auf und ab. Philipp missfiel Unpünktlichkeit. Selbst seiner geliebten Tochter gegenüber zeigte er sich in diesem Punkt wenig nachsichtig und sagte ihr unablässig, dass Pünktlichkeit zu den wichtigsten Tugenden gehörte, denn damit zollte man dem Wartenden Respekt. Leider waren seine Bemühungen von wenig Erfolg gekrönt. Frederica träumte und lebte gern in den Tag hinein und vergaß darüber oft ihre Pflichten.

Lautlos betrat Jenkins die Halle und sprach Maureen an: »Der Reiter brachte soeben die Post, Mylady. Soll ich die Briefe nach draußen zu Mylord bringen?«

»Nein, Jenkins, mein Mann hat jetzt keine Zeit, sich mit geschäftlichen Angelegenheiten zu befassen. Er wird die Post heute Abend durchsehen.«

Jenkins verbeugte sich und legte die Post auf eine zierliche Kommode unter einem Spiegel.

»Frederica! Kommst du endlich?«, rief Maureen nach oben, ohne eine Antwort zu erhalten. Im Spiegel erhaschte sie einen Blick auf ihre Gestalt und lächelte ihrem Spiegelbild zu. Sie zupfte ein paar Locken zurecht, die unter dem cremefarbenen Hut hervorlugten. Die grünen Bänder passten perfekt zu ihren Augen. Nein, wie dreiunddreißig sehe ich nicht aus, stellte Maureen befriedigt fest. In den Augenwinkeln zeigte sich noch kein Fältchen, und ihre Figur war immer noch schlank und an den richtigen Stellen gerundet. Um sich die Wartezeit, bis Frederica endlich wieder herunterkam, zu vertreiben, blätterte sie ohne großes Interesse die Post durch. Plötzlich blieb ihr Blick blieb an einem schlichten weißen Kuvert hängen. Sie schnappte nach Luft, und es war, als hätte ihr jemand eine Faust in den Magen gerammt.

Maureen Trenance, Trenance Cove, Cornwall, England stand in gerader, schnörkelloser Schrift auf dem Umschlag. Maureen schien es, als stünde sie plötzlich neben sich, als hätte sich ihre Seele von ihrem Körper gelöst und sie beobachtete sich selbst, wie ihre Hand den Brief umklammerte. Vor ihren Augen wurden die Buchstaben immer größer, brannten sich in ihren Kopf wie glühendes Eisen, bis Maureen nichts anderes um sich herum mehr wahrnahm als diesen Brief. Sie kannte diese Schrift, hatte sie oft genug gesehen, auch wenn viele Jahre seit dem letzten Mal vergangen waren. Wie eine Marionette stieg sie die Treppe hinauf, den Umschlag in ihren verkrampften Fingern. Auf dem ersten Absatz begegnete sie Frederica, die Schultern nun unter einem Tuch sittsam verborgen, aber Maureen bemerkte es nicht. Mit starrem Blick ging sie einfach an ihrer Tochter vorbei.

»Mama?« Frederica erschrak über den sonderbaren Ausdruck in Maureens Augen. In einer solchen Verfassung hatte sie ihre Mutter nie zuvor gesehen. »Fühlst du dich nicht wohl?«

Maureen antwortete nicht. In ihrem Kopf hämmerte nur ein einziger Gedanke: Warum jetzt? Warum heute?

Erst, als sie ihre Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, war sie in der Lage, mit zitternden Fingern den Umschlag umzudrehen und einen Blick auf den Absender zu werfen, diese Bestätigung hätte es aber nicht mehr gebraucht, um zu wissen, wer ihr geschrieben hatte. Es wunderte sie nur, dass der Brief in Edinburgh aufgegeben worden war.

»Mach ihn auf!«, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Langsam wurde sie ruhiger, ihre Hände zitterten weniger. Gleichzeitig jagte ein Schauer nach dem anderen über ihren Rücken.

»Nein!«, rief eine andere, lautere Stimme. »Nicht nach all den Jahren! Wirf ihn ins Feuer!«

Der warme Sommertag, an dem die Sonne durchs Fenster schien und helle Kringel auf dem kostbaren Teppich malte, schien zu verschwinden und Maureen wurde in die Vergangenheit katapultiert. Die Erinnerungen überwältigten sie und sie sank zu Boden, den Brief immer noch ungeöffnet in den Händen. Sie fühlte sich wie in ein anderes Land in eine andere Zeit versetzt, weit fort von der ländlichen, sommerwarmen Idylle Cornwalls. Es war Winter und, als wäre sie eine stumme Beobachterin, sah sie ein junges Mädchen, das vor Kälte bibberte und versuchte, sich mit einer fadenscheinigen Decke notdürftig zu wärmen. Dieses Mädchen war sie, vor vielen, vielen Jahren. Sie hatte die meiste Zeit des Jahres gefroren, denn selbst die Sommer in Schottland waren kurz und regnerisch. Es war Maureen, als könne sie den groben Stoff der Wolldecke auf ihren Schultern spüren. Durch die Ritzen der Bodenbretter, auf denen sie kauerte, hörte sie das Schnauben der Pferde, roch den unverwechselbaren Duft nach Heu, den sie liebte und der sie seit ihrer Geburt umgab. Roslach wieherte leise und stampfte mit ihren kleinen Hufen. Maureen liebte die Fuchsstute. Sie hatte mithelfen dürfen, als Roslach geboren wurde und hatte das junge Pferd geduldig und mit viel Geschick zugeritten. Nun würde die Stute jedoch verkauft werden. Die Vorstellung, sich von Roslach zu trennen, schmerzte Maureen, sie konnte jedoch nichts daran ändern. Das Pferd gehörte dem Laird, der damit machen konnte, was er wollte. Maureens winzige Kammer über den Stallungen war nicht mehr als ein Bretterverschlag, wie auch der danebenliegende Raum, in dem ihre Eltern ihr Lager hatten. Jetzt im Winter, wenn die Landschaft tief verschneit und die Bäche gefroren waren, hatte das einen großen Vorteil: Die Wärme der Tiere stieg nach oben, und machte die Kälte etwas erträglicher, denn die Kammern verfügten über keine Feuerstellen. Die Menschen hier im Glen Livet waren oft wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten, denn der Schnee lag hoch in den Highlands. Auf Beechgrove war für die Wintermonate gut vorgesorgt worden. Die Ernte war in diesem Jahr reichlich ausgefallen und die Lagerräume bis zum Rand gefüllt, so musste niemand Hunger leiden.

Maureen mochte ihr Leben im Hochland. Bisher hatte sie das enge Tal noch nie verlassen, einzig zum Markt nach Tomintoul durfte sie ihre Eltern manchmal begleiten. Ihr Vater war einer der Kutscher des Lairds, ihre Mutter arbeitete in der Küche und sie selbst machte sich nützlich, wo es gerade notwendig war. Sie reinigte die Kamine, putzte Gemüse und schrubbte die großen, schweren Pfannen und Töpfe. Am liebsten war sie jedoch im Stall und war glücklich, wenn ihr erlaubt wurde, sich um die Pferde zu kümmern. Der Laird war ein strenger, aber gerechter Herr, und erst kürzlich war Maureen bewusst geworden, dass sie und ihre Eltern als Sklaven des Lairds arbeiteten. Sie erhielten zwar einen geringen Lohn für ihre Tätigkeit, der Familie war es aber nicht erlaubt, ohne Erlaubnis des Lairds Beechgrove zu verlassen, um sich woanders Arbeit zu suchen. Warum hätten sie das auch tun sollen? Sie hatten ausreichend zu essen und ein Dach über dem Kopf. Das war mehr als viele andere Schotten hatten, wie ihre Eltern regelmäßig betonten.

Lady Beechgrove war eine freundliche Frau mit einem weichen Herz. Mit geschultem Blick hatte sie Maureens wachen Verstand erkannt und hatte den Mowats ein großzügiges Angebot gemacht: Wenn Maureen ihren Pflichten im Herrenhaus gewissenhaft nachkam, durfte sie einmal in der Woche zusammen am Unterricht ihrer Töchter teilnehmen. Diese vier Stunden jeden Freitagvormittag wurden für Maureen das Wichtigste in ihrer kleinen Welt. Ihre Eltern konnten lesen und schreiben, was in der Unterschicht keinesfalls üblich war, denn öffentliche Schulen gab es keine. Zumindest nicht für die Schotten. Der junge Reverend, der die drei Mädchen unterrichtete, war ein liebenswürdiger Mann, der es anschaulich verstand, seinen Schülerinnen sein Wissen zu vermitteln. Er hatte mit der Zeit eine besondere Vorliebe für Maureen entwickelt, denn sie sog den Stoff wie ein Schwamm in sich auf, ganz im Gegensatz zu den zwei Beechgrove-Töchtern, für die der Unterricht eine lästige Pflicht war. Maureen war nicht unglücklich, dass eine nähere Bekanntschaft, die über die gemeinsamen Unterrichtsstunden hinausgingen, wegen ihrer unterschiedlichen Herkunft ausgeschlossen war. Obwohl sie fast im selben Alter waren, konnte Maureen nur wenig mit den verwöhnten und wehleidigen Mädchen anfangen, denen Geschichte, Mathematik und sonstige Bildung herzlich gleichgültig waren. Gegenüber Lady Beechgrove empfand Maureen eine tiefe Hochachtung. Die Dame war höflich und zuvorkommend, eine wahre Lady eben. Manchmal lag Maureen des Nachts wach, hörte unter sich das Stampfen der Hufe und dachte sich fantastische Geschichten aus. Eine ihrer liebsten verlief so: Eines Tages stellte sich durch einen Zufall heraus, dass sie in Wahrheit ebenfalls eine Tochter von Lady Beechgrove war. Umgehend zog sie aus der kleinen Kammer in eines der eleganten Zimmer im Herrenhaus, bekam kostbare und schöne Kleider und lebte fortan wie eine kleine Prinzessin ...

Schlagartig wurde Maureen in die Gegenwart zurückgeschleudert, als sich eine Hand schwer auf ihre Schulter legte. Von ihr unbemerkt hatte Philipp das Zimmer betreten. Missbilligend sah er sie an.

»Hier steckst du, ich suche dich bereits überall. Kannst du mir bitte erklären, was mit dir los ist? Du hast Frederica erschreckt.«

Maureen atmete tief ein.

»Verzeih, Philipp, aber ich kann euch nicht zu dem Fest begleiten.« Auch nach siebzehn Ehejahren gelang es Maureen immer wieder, ihren Mann zu überraschen. Sie sah seinen entgeisterten Blick und fühlte sich äußerst unbehaglich.

»Was willst du damit sagen? Bist du plötzlich erkrankt?«

»Ich fühle mich nicht in der Lage, mir das dumme und geistlose Geschwätz der Damen anzuhören.«

»Maureen, das geht nicht!« Philipp packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Lady Esther verlässt sich auf dich. Du hast versprochen, den Verkaufsstand zu betreuen.«

Maureen fiel wieder ein, welche Zusage sie der Nachbarin gemacht hatte. Trotzdem konnte sie unmöglich auf das Fest gehen und so tun, als wäre ihre Welt in Ordnung. Nicht, solange sie nicht wusste, was in dem Brief stand.

»Philipp, ich habe eine Nachricht erhalten ...« Sie stockte, denn sie bemerkte, dass Philipp es wenig interessierte, was sie zu sagen hatte. Leise fuhr sie fort: »Von ... meiner Mutter.«

Ihre Worte verfehlten nicht ihre Wirkung. Philipps eben noch rosiger Teint wurde blass. Maureen, die den Brief noch immer in der Hand hielt, strich vorsichtig über das Kuvert, als wäre es ein kostbarer Schatz.

»Was schreibt sie?«, fragte Philipp knapp.

»Ich ... ich habe den Brief noch nicht geöffnet.«

Philipp nahm ihr den Umschlag aus der Hand und betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn.

»Warum meldet sie sich nach so langer Zeit?«

»Ich weiß es nicht. Der Brief kommt aus Edinburgh. Das wundert mich, meine Eltern haben die Stadt immer gehasst und wären niemals freiwillig dorthin gezogen.«

»Es ist sehr viel Zeit vergangen, Maureen«, gab Philipp zu bedenken. »Wir sollten ihn öffnen.« Als er Anstalten machte, das Kuvert aufzureißen, nahm Maureen den Brief schnell wieder an sich.

»Ich möchte das tun. Und ich will dabei allein sein.«

»Aber Lady Esther …«

Aufgeregt stieß Maureen hervor: »Lady Esther kann mir gestohlen bleiben. Ich halte hier eine Nachricht meiner Mutter in den Händen – die erste nach über siebzehn Jahren! Das ist ja wohl wichtiger als das alberne Gartenfest. Ich möchte den Brief in Ruhe lesen, und fürchte gleichzeitig den Inhalt. Alles andere ist mir gleichgültig. Kannst du das nicht verstehen?«

Philipp schüttelte den Kopf, er war jetzt ebenfalls besorgt.

»Es werden schlechte Nachrichten sein. Warum sonst sollte deine Mutter dir schreiben? Du lebst seit langer Zeit in Cornwall und hast mit deinen Eltern nicht das Geringste zu tun. Sie waren es schließlich, die den Kontakt abgebrochen haben. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Wirf den Brief ins Feuer und lass die Vergangenheit ruhen! Du hast schließlich Jahre gebraucht, sie zu vergessen.«

Maureen schüttelte so heftig den Kopf, dass sich die Locken unter dem Hut lösten und auf ihre Schultern fielen.

»Ich habe niemals vergessen! Ein Teil von mir ist immer in Schottland geblieben.«

»Du hast nie darüber gesprochen«, warf Philipp erstaunt ein. »Ich dachte immer, du möchtest weder an Schottland noch an deine Eltern erinnert werden.«

Maureen lächelte, aber es war ein bitteres Lächeln.

»Es gibt Situationen, mit denen man sich abfinden muss, weil man keine andere Wahl hat. Es wäre müßig gewesen, unentwegt über Begebenheiten nachzugrübeln, an denen ich nichts ändern kann. Als ich an deiner Seite Schottland verließ, haben mich meine Eltern verstoßen. Trotzdem habe ich immer an sie gedacht und mich gefragt, wie es ihnen geht und ob sie gesund sind.«

Philipp sah seine Frau fest in die Augen.

»Du weißt selbst, dass es besser für dich ist, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Mit Lady Esthers Hilfe bist du ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft geworden. Maureen, du bist keine Schottin mehr, sondern eine Engländerin, und dich verbindet nichts, aber auch gar nichts mehr mit deinen Eltern oder mit Schottland.«

»Weil ich dazu gezwungen wurde, meine Herkunft zu verleugnen, all die Jahre hindurch, bis zum heutigen Tag«, erwiderte Maureen heftig, auf ihren Wangen bildeten sich hektische rote Flecken. »Ja, du und die göttliche Esther habt ganze Arbeit geleistet und alles Schottische in mir erstickt. Aus dem armen Mädchen, der Tochter eines Kutschers, musste eine Lady werden, die den Erwartungen deiner Nachbarn entspricht.« Sie presste beide Hände an die Schläfen und senkte den Kopf. »Und die ich niemals sein werde.«

Maureen wusste nicht, warum sie das gesagt hatte. Sie hing doch an ihrem Leben in Trenance Cove. Sie, eine einfache Magd, war in die Welt des Adels aufgestiegen, was kaum jemandem aus ihrer Gesellschaftsschicht je gelang. Dabei war ihr dies niemals wichtig gewesen, sie wollte einzig und allein an der Seite des geliebten Mannes sein. Für ihn hatte sie sich bemüht, sämtliche Konventionen des Landadels zu lernen und nach ihnen zu leben. Nun holte der Brief ihrer Mutter all das, was sie seit Jahren unterdrückt hatte, mit Macht hervor, und Maureen besaß keine Kraft, die Erinnerungen länger zur Seite zu schieben oder gar zu ignorieren.

»Du bist ungerecht, und das weißt du auch! Die hiesige Gesellschaft hätte niemals eine Schottin in ihren Reihen geduldet. Und die Reaktion meines Vaters wird dir ja wohl noch gut in Erinnerung sein. Nur mit knapper Not entging ich einer Enterbung.«

Die Erinnerung an den Tag, als Philipp sie nach Trenance Cove gebracht hatte, war auch heute noch bitter. Den alten Sir Trenance traf beinahe der Schlag, als sein Sohn mit einer Ehefrau aus der Armee heimkehrte. Nicht nur die Tatsache, dass er es gewagt hatte, ohne väterliche Zustimmung zu heiraten, sondern dass die Auserwählte weder adliger Abstammung noch vermögend war, bewirkte bei Philipps Vater einen heftigen Wutausbruch. Er hatte sich sogar dazu hinreißen lassen, Philipp zu ohrfeigen. Als er dann noch erfahren musste, dass er Maureen in Schottland kennengelernt hatte, diesem kargen, dunklen Land, das von barbarischen Wilden und Aufständischen bevölkert war, drohte er, seinen einzigen Sohn auf der Stelle zu enterben. Keiner seiner Nachbarn hatte jemals Schottland besucht, keiner war durch das weite Hochland mit seinen zahlreichen Seen gewandert, hatte die Rudel von Rotwild erblickt, die geruhsam in der untergehenden Sonne äsen. Keiner hatte jemals den absoluten Frieden erlebt, der jeden, der einmal dort war, unweigerlich in seinen Bann zog.

»Ich habe dich damals geliebt.« Maureens Stimme war nicht mehr als ein Wispern. »Ich habe alles für dich getan und mich immer bemüht, die Frau zu sein, die du an deiner Seite wolltest.«

Dass Philipp von seinem Vater nicht enterbt und des Hauses verwiesen worden war, hatte er allein Esther Linnley und deren Einfluss zu verdanken. Die Nachbarin hatte Sir Trenance versprochen, binnen kurzer Zeit aus dem wilden, in ihren Augen unkultivierten Mädchen eine Lady zu machen. Zögernd stimmte er dem Vorschlag zu. Hinzu kam, dass Maureen bei ihrer Ankunft in Cornwall bereits schwanger war und den künftigen Erben von Trenance Cove unter ihrem Herzen trug. Dass sie dann nur einem Mädchen, Frederica, das Leben schenkte, brachte Maureen bei ihrem Schwiegervater nicht gerade Sympathien ein. Das Verhältnis zwischen Sir Trenance, seinem Sohn und Maureen blieb gespannt, und als der alte Herr zwei Jahre später starb, fühlte sich Maureen regelrecht befreit – obwohl sie sich für diesen Gedanken schämte.

Philipp berührte sie leicht an der Wange.

»Wir waren so schrecklich jung ...«

Abrupt wandte Maureen ihm den Rücken zu und starrte aus dem Fenster.

»Bitte, lass mich jetzt allein. Sag Lady Esther, ich sei plötzlich krank geworden. Ich bringe es heute nicht fertig, mich unter die fröhliche Gesellschaft zu mischen und Konversation zu betreiben.«

»Sie wird sehr verärgert sein«, gab Philipp erneut zu bedenken, Maureen antwortete ihm jedoch nicht mehr. Mit einem Seufzer ließ er sie allein. Maureen hatte immer ihren eigenen Kopf gehabt, und genau das hatte ihn damals fasziniert. Er bewunderte ihr Temperament, ihre Art, jeden Tag mit einem Lachen zu beginnen und sich tapfer jeglichen Problemen zu stellen. Während seiner Zeit in Schottland wurden seine Tage in der kargen, zugigen Kaserne allein durch den Gedanken an sie erträglich. Maureen war und blieb Maureen. Im Innern war sie noch immer das abenteuerlustige Mädchen mit den zerzausten Locken aus dem schottischen Hochland. Durch den Brief ihrer Mutter drangen nun Gefühle empor, die sie lange Zeit sorgfältig unter Verschluss gehalten hatte. Philipp hoffte nur, sie würde ihm später mitteilen, was ihre Mutter schrieb. Auf keinen Fall konnte es etwas Gutes sein.

Nachdem Philipp gegangen war, hielt Maureen den Brief immer noch unschlüssig in der Hand. Eine unerklärliche Angst hinderte sie, den Umschlag zu öffnen. Erneut tauchte sie in die Vergangenheit ein. Es schien erst gestern gewesen zu sein, als sie sich in Philipp Trenance verliebte. Der junge Offizier, der Maureen in seiner schmucken roten Uniform wie der Märchenprinz aus ihren Träumen erschienen war, stattete dem Laird und seiner Familie einen Besuch ab und logierte zwei Wochen auf Beechgrove. Sie begegneten sich im Pferdestall, und es war Liebe auf den ersten Blick. Als Philipp nur wenige Wochen später bei Maureens Eltern um ihre Hand anhielt, war sie überglücklich. In ihrer jugendlichen Naivität dachte sie keinen Moment an die Standesunterschiede, die sie, eine schottische Magd, und ihn, einen englischen Adligen, voneinander trennten. Ihre Mutter hingegen war schockiert. Sie warf Philipp sofort aus dem Haus und verbot jeden weiteren Kontakt.

»Niemals! Niemals wird meine Tochter einen Engländer heiraten!«, hatte sie fast schon hysterisch geschrien. »Verlasst sofort das Zimmer und wagt Euch niemals wieder in die Nähe meiner Tochter!«

Nie zuvor hatte Maureen ihre sonst eher stille und in sich gekehrte Mutter derart aufgeregt erlebt. Als Philipp nicht sogleich die Kammer verließ, war sie einer Furie gleich auf ihn losgegangen und hatte versucht, ihn ins Gesicht zu schlagen. Maureens Vater war es nur mit größter Mühe gelungen, seine Frau zur Vernunft zu bringen, aber auch er bestand darauf, dass Philipp den Kontakt zu Maureen abbrach. Immer, wenn Maureen in den nächsten Tagen das Gespräch mit den Eltern gesucht hatte, hatte sie den großen Hass ihrer Mutter auf die Engländer aufs Neue erlebt.

Mit der Abneigung aller Hochlandschotten gegen die Engländer und alles, was aus dem Land jenseits des Tweeds kam, war Maureen seit ihrer Geburt vertraut. Wie jedes schottische Kind hatte sie die Geschichten der Jakobiten-Aufstände und die Niederlage bei Culloden schon mit der Muttermilch eingesogen. Ihrer Mutter war es gleichgültig, dass Maureen als Kind die Zusammenhänge nicht verstand. Immer wieder hatte sie zu hören bekommen, wie ein junger, schmächtiger Mann sein sonniges Geburtsland Italien verlassen und sich in das kühle Schottland aufgemacht hatte. Angeblich war er der Sohn des rechtmäßigen Königs von England, auf dessen Thron nun ein unkultivierter Deutscher saß. Und dieser Junge, von allen Schotten noch heute zärtlich Bonnie Prince Charlie genannt, scharte Tausende von tapferen Männern um sich, mit denen er einen Siegeszug nach London startete. Nach einigen erfolgreichen Schlachten kam jedoch der schwärzeste Tag in der Geschichte Schottlands: Am 16. April 1746 kam es zu der letzten und entscheidenden Begegnung zwischen einer ausgezehrten, erschöpften Hochlandarmee, die im Moor bei Culloden auf ein weitaus größeres Heer kräftiger englischer Soldaten traf. Die Schlacht dauerte nur knapp anderthalb Stunden – neunzig Minuten, in denen etwas mehr als viertausend kaum ausgebildete Schotten mit unzureichenden Waffen und wenig Munition den britischen Truppen, bestehend aus siebzehntausend gedrillten Männern, gegenüber standen. Sechzehn Infanteriebataillone, zwölf Schwadrone Kavallerie, acht Kompanien Miliz, zehn Bataillone Artillerie. Weitere achttausend freiwillige Milizen aus den Lowlands mit Waffen, Kanonen und Munition, die gereicht hätten, halb England auszurotten, zogen siegessicher zum Culloden Moor. Die unwirtliche Gegend am Fuße des schottischen Hochlands war von den Rebellen für die letzte, alles entscheidende Schlacht um die Krone Englands gewählt worden – eine schlechte Wahl, wie der Tag zeigen sollte. Die britische Armee hatte am Ende fünfzig Tote zu beklagen, und auf jeden dieser Gefallenen kamen vierundzwanzig Rebellen. Jeder Schotte, der noch verwundet auf dem Schlachtfeld lag, wurde in den folgenden Stunden brutal niedergemetzelt, Gefangene wurden keine gemacht. Die Engländer gingen mit einer unvorstellbaren Grausamkeit zu Werke. Gleich am nächsten Tag wurden Truppen ausgesandt, um flüchtige Rebellen aufzugreifen. In den Augen der englischen Soldaten war jeder Schotte, gleichgültig, ob er sich am Aufstand beteiligt hatte oder nicht, ein Verräter. Die Männer machten auch vor Frauen und Kindern nicht halt. Binnen weniger Wochen war der weiche Boden des Hochlands vom Blut tausender Schotten getränkt.

Die Schotten, die das Massaker überlebt hatten, wurden gezwungen, ihre Kultur zu verleugnen. Wenn jemand mit einem kleinen Stück karierten Stoffes, dem Tartan, erwischt wurde, bedeutete das seinen sicheren Tod. Die gälische Sprache wurde verboten, ebenso das Spielen des Dudelsacks und das Singen der alten melodischen Weisen. Um die Einhaltung der Sanktionen im Hochland zu überwachen, bauten die Engländer Forts und postierten überall Soldaten. Es herrschte eine gedrückte Stimmung. Die Menschen konnten einander nicht mehr trauen, niemand wusste, wer Freund und wer Feind war.

Als Maureen älter wurde, begann sie nach und nach die Abneigung ihrer Mutter gegen die Engländer zu begreifen. Sie konnte ihre Eltern nun zwar besser verstehen, sie selbst jedoch war erst nach diesen Ereignissen geboren und lebte in einer heilen Welt. Die Beechgroves waren königstreue Schotten, die oft Besuch von Angehörigen der englischen Armee bekamen. Maureen hatte niemals schlechte Erfahrungen mit einem Engländer gemacht. Als sie Philipp Trenance kennenlernte, war es unwichtig, welcher Nationalität er angehörte. Er war der Mann, den sie liebte, den sie heiraten und mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte.

Die Verliebten trafen sich weiterhin heimlich, dann rückte Philipps Abschied aus der Armee und seine Rückkehr nach Südengland unaufhaltsam näher. Als er Maureen bat, ihn zu begleiten, zögerte sie keinen Moment. Es blieb ihr aber nichts anderes übrig, als heimlich zu fliehen. In diesem Augenblick empfand sie ihre Flucht als romantisches Abenteuer und war überzeugt, wenn ihre Eltern erst merkten, wie glücklich sie und Philipp waren, würden sie ihre Einstellung ändern. Nach einer kurzen Station in Edinburgh heirateten Maureen und Philipp kurz vor der Grenze nach England in dem kleinen Dorf Gretna Green. Nach schottischem Recht war Maureen mit sechzehn Jahren bereits volljährig und die Eheschließung auch in England gültig.

Maureen kehrte wieder in die Gegenwart zurück. Während sie vorhin noch gefroren hatte, war ihr jetzt unsäglich heiß. Kleine Rinnsale liefen ihr zwischen den Brüsten hinab, das elegante, leichte Seidenkleid klebte an ihrem Rücken. Wie gebannt starrte sie auf den Brief in ihren Händen. Schließlich gab sie sich einen Ruck, riss den Umschlag auf und las die wenigen Worte:

Maureen ...

Sie schluckte. Da stand einfach nur ihr Name, nicht etwa Liebe Maureen oder Meine Tochter. Offenbar hatte ihr die Mutter auch nach den vielen Jahren nicht verziehen. Sie las weiter:

Ich sehe es als meine Pflicht an, Dir mitzuteilen, dass Dein Vater im Sterben liegt. Ich hoffe, Du lebst noch im Süden und dieser Brief wird Dich erreichen. Es ist der Wunsch Deines Vaters, dass Du über seinen Zustand unterrichtet wirst. Vielleicht kannst Du ihm schreiben. Er würde sich über ein paar Zeilen von Dir freuen.

Laura Mowat

Das war alles. Maureen stand wie erstarrt. Der Brief enthielt kein Datum. Wann war er in Edinburgh aufgegeben und wie lange unterwegs gewesen? Vielleicht war ihr Vater bereits gestorben? Tränen liefen über ihre Wangen. Sie dachte an ihren Vater und spürte einen Stich in ihrem Herzen. Während ihrer Kindheit und Jugend hatte sie immer das Gefühl gehabt, von ihrem Vater mehr als von ihrer Mutter geliebt worden zu sein. Ihre Mutter hatte ihr nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Maureen bekam genug zu essen und sie sorgte für ihre Kleidung. Es war jedoch ihr Vater gewesen, auf dessen Knien sie schaukelte und der sie in den Arm nahm und tröstete, wenn sie sich wehgetan hatte. Bei Krankheiten war ihr Vater an ihrem Bett gesessen, und ihr Vater küsste sie am Abend auf die Stirn und hatte die Decke über sie gebreitet.

Er würde sich über ein paar Zeilen von dir freuen.

Nach ihrer Ankunft in Cornwall hatte Maureen ihren Eltern Woche für Woche geschrieben. Unermüdlich, über viele Jahre hinweg. Selbst, als sie ihnen von Fredericas Geburt berichtete, wartete sie vergeblich auf eine Antwort. Nicht einmal ein Enkelkind hatte das harte Herz ihrer Mutter erweichen können. Schließlich schickte sie einen Brief an Lady Beechgrove, fragte nach ihren Eltern, doch auch von ihr erhielt sie keine Zeile. Irgendwann hatte Maureen aufgegeben und sich damit abgefunden, dass sich ihre Eltern von ihr losgesagt hatten. Ihr Zuhause war jetzt hier in Cornwall, und sie hatte eine eigene Familie. Es gab aber immer wieder Momente, in denen Maureen sich nach ihren Eltern sehnte und sich wünschte, sie noch einmal zu sehen und in die Arme schließen zu können.

Als Frederica begann, sich nach der Familie ihrer Mutter zu erkundigen, war es Philipp, der dem Mädchen erklärte, ihre Großeltern wären schon vor langer Zeit gestorben. Frederica wusste, dass ihre Mutter aus Schottland kam, sonst hatte Maureen ihr aber nicht viel erzählt. Frederica interessierte sich auch nicht für das Land, das irgendwo weit im Norden lag, und gab sich mit den spärlichen Angaben über Maureens Vergangenheit zufrieden.

Erst als die Sonne am Horizont versank, merkte Maureen, wie lange sie gesessen und sich in Erinnerungen verloren hatte. Das Gartenfest ging jetzt seinem Ende entgegen, Philipp und Frederica würden bald nach Hause zurückkehren. Dann musste sie Philipp den Brief zeigen. Und sie würde ihrem Vater schreiben ... Nein, sie würde ihm nicht schreiben! Ein kühner Gedanke schoss wie ein Blitz durch Maureens Kopf und nahm Gestalt an. Behände sprang sie auf und lief aufgeregt auf und ab. Sie würde nicht schreiben, sie würde zu ihm fahren, nach Edinburgh! Es war ihr gleichgültig, was Philipp davon halten würde. Er würde seine Zustimmung verweigern, sie musste aber reisen! Der Brief war ein Zeichen, vielleicht ein Fingerzeig Gottes, und vielleicht würde es endlich zu einer Aussöhnung kommen. Maureen konnte nicht für den Rest ihres Lebens ihre Familie und ihre Heimat verleugnen. Es herrschte Frieden im Land, die Reise würde zwar beschwerlich, aber sicher sein. Maureen schmunzelte, wenn sie sich vorstellte, wie entrüstet Esther Linnley reagieren würde, wenn sie ohne Philipps Erlaubnis nach Schottland reisen und ihre Eltern aufsuchen würde. Lady Esther verstand es meisterhaft, vor allen Unannehmlichkeiten die Augen zu verschließen und sich vorzumachen, wenn man keine Schwierigkeiten sah, dann gab es auch keine. So einfach ging das in Lady Esthers Augen. Nur war das Leben selbst leider nicht so einfach.

Nachdem Maureen diese Entscheidung getroffen hatte, fühlte sie sich plötzlich voller Elan und Lebenskraft, als wäre sie wieder das junge Mädchen. Sie würde Schottland wiedersehen! Sie würde in ihr Heimatland zurückkehren! Maureen wusste in diesem Moment: Wenn sie nicht jetzt die Chance ergriff, endlich wieder einen Fuß auf schottischen Boden zu setzen und ihre Eltern zu besuchen, würde sie sich das niemals verzeihen. Sie war Hals über Kopf geflohen, den jungen schneidigen Offizier im Herzen, und dabei hatte sie keine Vorstellung davon gehabt, was es bedeutete, seine Wurzeln aufzugeben. Vielleicht war sie nach dieser Reise in der Lage, mit ihrer Vergangenheit Frieden zu schließen. Am liebsten hätte sie sofort nach ihrer Zofe geklingelt und den Befehl gegeben, umgehend mit dem Packen zu beginnen.

George Linnley hatte Fredericas Hoffnungen erfüllt. Zu Lady Esthers Bedauern war die von ihr erwartete junge Erbin wegen einer plötzlichen Krankheit nicht gekommen, so richtete sich Georges volle Aufmerksamkeit Frederica, und er wich kaum von ihrer Seite. Nun konnte auch Lady Esther nicht mehr leugnen, dass ihr Sohn Interesse an dem Mädchen zeigte. Ebenso empört war sie über Maureen, die sie einfach im Stich gelassen hatte, und hielt Philipp gegenüber mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. Es kostete sie einige Mühe, gegenüber dem Bischof eine freundliche Miene aufzusetzen. Glücklicherweise musste sie ihn nicht unterhalten, denn der Geistliche hörte sich selbst am liebsten reden. Diese Eigenart, die Lady Esther eigentlich zutiefst verabscheute, führte sie doch am liebsten selbst das Gespräch, kam ihr heute äußerst gelegen. Esther Linnley war froh, als sie den Bischof bei Tisch ihrem Mann anvertrauen konnte. Sollte doch Lord Linnley das unentwegte Geschwätz des Geistlichen über sich ergehen lassen! Mit der Entschuldigung, beim Verkaufsstand nach dem Rechten sehen zu müssen, eilte sie davon, um ihren Sohn ausfindig zu machen. So ein Pech, dass die Verwandte erkrankt war und somit beim Fest nicht dabei sein konnte. Hoffentlich neigte Pamela March nicht generell zu Unpässlichkeiten und war leidend, sie sollte George schließlich gesunde und kräftige Erben schenken. Lady Esther hatte bereits die Dekoration, mit der Linnley Park am Tage der Hochzeit geschmückt werden würde, durchdacht. Natürlich musste die Trauung hier stattfinden, davon würde sie die Brauteltern schon überzeugen. Was für ein nettes und liebes Mädchen diese Pamela doch war! Bestimmt wusste George das große Glück, sie zur Frau zu bekommen, zu schätzen.

Sie umrundete eine Rhododendronhecke und blieb wie angewurzelt stehen. Sie keuchte und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Nur wenige Schritte entfernt war ihr Sohn im Begriff Frederica Trenance zu küssen, die mit glänzenden Augen zu ihm aufschaute. Aus ihrer Frisur hatten sich einige Strähnen gelöst, und unter ihrem verrutschten Schultertuch zeigte sich unsittlich der Ansatz ihrer festen, weißen Brüste. Alles deutete darauf hin, dass George und sie keinesfalls nur miteinander geplaudert hatten.

»George!« Lady Esthers Stimme klang schrill. Der Angesprochene fuhr erschrocken herum, hielt Frederica jedoch mit seinem Arm schützend umschlungen. »Wie kannst du nur!«

Frederica war nicht weniger bestürzt und senkte für einen Moment schuldbewusst den Blick, dann aber straffte sie die Schultern, hob den Kopf und streckte das Kinn nach vorn. Georges Hand an ihrer Taille verlieh ihr Selbstbewusstsein.

»Dein Vater sucht dich.«

Mit hektischen roten Flecken auf den Wangen trat Lady Esther wie ein Racheengel vor die beiden. Zu Fredericas Enttäuschung nahm George seine Hand fort und murmelte: »Ich gehe sofort zu ihm, Mutter.«

Ohne Frederica einen weiteren Blick zu gönnen, eilte er mit weitausholenden Schritten über den geharkten Kiesweg, und das Mädchen stand Lady Esther allein gegenüber.

»Und du, Kind, löst Lady Seelwood umgehend am Stand ab! Die Arme harrt bereits seit Stunden dort aus, weil deine unzuverlässige Mutter es vorgezogen hat, ihr Versprechen zu brechen.«

Fredericas Selbstbewusstsein bröckelte unter Lady Esthers eisigem Blick. Warum musste sie ausgerechnet in diesem Moment auftauchen? Nie zuvor war sie George so nah gewesen. Nur einen Augenblick später und er hätte sie geküsst. Und danach – davon war Frederica überzeugt – hätte er ihr einen Heiratsantrag gemacht, denn ein ehrenwerter Mann küsste eine Frau nur, wenn er sie auch heiraten wollte. Frederica hatte zwar schon beobachtet, wie Dienstboten miteinander flirteten, ohne dass das eine tiefere Bedeutung hatte, einer Dame der Gesellschaft war es erst nach dem Verlobungstag erlaubt, sich allein mit ihrem Bräutigam in einem Raum aufzuhalten. Vielleicht wäre sogar schon heute ihre Verlobung verkündet worden?

Frederica erinnerte sich noch gut an den Skandal, der vor wenigen Monaten das Gesprächsthema der ganzen Grafschaft gewesen war: Ein junger Adliger, der allein am späten Nachmittag mit einem Mädchen in deren Einspänner ausgefahren war, weigerte sich am darauf folgenden Tag, das Mädchen zu ehelichen. Obwohl beide beteuerten, es sei nichts geschehen – was genau überhaupt geschehen sein könnte, lag für Frederica noch immer im Dunkeln –, forderte der Vater des Mädchens den jungen Mann zum Duell. Er verwundete ihn schwer, und das Mädchen wurde daraufhin zu Verwandten in den Norden geschickt. Die gesamte feine Gesellschaft zeigte sich entrüstet über das Verhalten des jungen Adligen und war sich einig, dass der Vater des Mädchens zu recht Satisfaktion gefordert hatte. Wenn ein Mann ein Mädchen also heiraten musste, weil er am helllichten Tage mit ihr ausgefahren war, dann musste sie mit George Linnley nun so gut wie verlobt sein.

Frederica seufzte und bedauerte, dass ihre Mutter nicht hier war. Sie musste unbedingt mit ihr darüber sprechen, obwohl sie wusste, dass Maureen George Linnley nicht besonders mochte. In Fredericas Augen war George nicht nur äußerst attraktiv, er verfügte auch über gute Umgangsformen und Manieren, und tanzte wie ein junger Gott. Wenn sie nur an ihn dachte, begann ihr Herz heftig zu klopfen, wenn sie in seiner Nähe war, konnte sie kaum einen klaren Gedanken fassen. Frederica wusste nicht viel über die Liebe, das alles musste aber doch bedeuten, dass George der Richtige für sie war. Frederica hätte sich zwar andere Schwiegereltern gewünscht, in ihrer jugendlichen Unschuld dachte sie jedoch, dass sich Lady Esthers Verhalten gewiss ändern würde, wenn sie erst einmal in Linnley Park lebte. Frederica sah lediglich im Umgang mit Georges Mutter ein Problem. Von Lord David sah oder hörte man oft tagelang überhaupt nichts. Er saß am liebsten in der Bibliothek und las in dicken Büchern, die nach Fredericas Meinung keinen normalen Menschen interessieren konnten. Gesellschaften wie dieses Gartenfest waren ihm regelrecht verhasst, er machte jedoch gute Miene zum bösen Spiel. Überhaupt tat Lord Linnley alles, um seine Frau friedlich zu stimmen. Frederica hatte den Eindruck, dass ihm nichts wichtiger war als seine Ruhe, dabei war er weder alt noch krank. Er hatte gerade die Fünfzig überschritten, war zwar von kleiner und schmächtiger Statur, jedoch bei guter Gesundheit. Mit ihm werde ich mich gut verstehen, dachte Frederica, und konnte den Moment, wenn ihre Verlobung mit George Linnley verkündet werden würde, kaum noch erwarten.

Was David Linnley betraf, waren sich Frederica und ihr Vater sehr ähnlich. Auch Philipp bedauerte dessen stille Zurückhaltung, denn im Grunde mochte er ihn sehr gern. Wenn er nur nicht so schrecklich phlegmatisch wäre! Linnley sprach nicht viel, und wenn, dann stimmte er seiner Frau zu. In all den Jahren, in denen sie sich kannten, war es Philipp erst einmal gelungen, Linnley aus der Reserve zu locken, als die Männer über den Krieg in Amerika in eine Diskussion geraten waren.

»Der König hat vollkommen recht, der Aufstand muss blutig niedergeschlagen werden«, hatte Philipp sich ereifert.

»Denkt Ihr dabei auch an die vielen unschuldigen Menschen, die ihr Leben verlieren?« Linnleys Blick war trübe, beinahe schon melancholisch gewesen

»Daran hätten sie denken müssen, bevor sie die Waffen gegen ihren rechtmäßigen Herrscher erhoben haben«, beharrte Philipp auf seinem Standpunkt.

Linnley schüttelte den Kopf. So leise, dass Philipp Mühe hatte, ihn zu verstehen, sagte er: »Krieg ist das Grausamste, das es auf dieser Welt gibt. Es lässt sich kein vernünftiger Grund finden, einen Krieg zu beginnen und ihn zu führen. Wenn Sie so viele Schlachten miterlebt hätten wie ich, Sir Philipp, würden Sie anders darüber urteilen. Als Sie in Schottland stationiert waren, waren die Kampfhandlungen lange vorbei und Sie durften sich um Verwaltungsangelegenheiten kümmern. Culloden allerdings ...« Er brach ab und drehte den Kopf zur Seite.

»Sie waren in Culloden dabei, Mylord?«, fragte Philipp erstaunt und beinahe schon ehrfurchtsvoll. »Sie haben mitgeholfen, die Jakobitenaufstände niederzuschlagen und den Thronräuber aus dem Land zu scheuchen?« Nie zuvor hatte Linnley auch nur eine kleine Andeutung gemacht, dass er in der Armee gedient hatte. Philipp war immer davon ausgegangen, Lord David habe sein ganzes Leben in Linnley Park verbracht. »In welchem Fort waren Sie stationiert? Und haben Sie den Herzog von Cumberland persönlich kennengelernt?«, erkundigte er sich interessiert.

David Linnley schritt bedächtig auf und ab, blieb dann vor Philipp stehen und beugte sich so tief zu ihm hinab, bis nur noch eine Handbreit ihre Gesichter trennte.

»Ich sage Ihnen eines, junger Freund: Das, was ich in Schottland erlebt habe, war das Widerwärtigste, das ich in meinem ganzen Leben sehen und erdulden musste. Ich war jung, nicht einmal achtzehn Jahre alt, und folgte dem Willen meines Vaters. Deswegen trat ich in die Armee ein. Ich weiß, es klingt grausam, aber als mein Vater vier Monate nach der blutigen Schlacht im Culloden Moor starb und ich gezwungen war, meinen Abschied zu nehmen und nach Cornwall zurückzukehren, um den Besitz zu übernehmen, dankte ich Gott auf den Knien dafür.«

»Lord David!«

Er winkte ab und seine Mundwinkel zogen sich nach unten.

»Sehen Sie mich nicht so entsetzt an, Philipp. Natürlich trauerte ich um meinen Vater, das Glücksgefühl, niemals wieder nach Schottland zurückgehen zu müssen, überdeckte jedoch alle anderen Empfindungen. Glauben Sie mir, wenn Sie nur einen Bruchteil von dem, was ich gesehen habe, erblickt hätten, würden Sie verstehen, dass meine Hand niemals wieder eine Waffe führen kann.«

»Erzählen Sie mir davon«, forderte Philipp David Linnley auf, er schüttelte aber den Kopf und sah aus dem Fenster in den Park, wo Lady Esther und Maureen mit dem Flechten von Blütenkränzen beschäftigt waren.

»Wir sollten die Damen nicht länger warten lassen«, sagte er leise, wandte sich zur Tür und ging langsamen Schrittes, als wäre er ein alter Mann, hinaus.

Dieses Gespräch lag einige Jahre zurück. Seitdem hatte David Linnley nie wieder über seine Zeit in der Armee gesprochen, obwohl Philipp mehrmals versucht hatte, den Nachbarn aus der Reserve zu locken. Dieser schwieg aber beharrlich, wenn das Thema auf die vergangenen Ereignisse oder den Krieg im Allgemeinen kam. Es schien, als bereute Linnley seine Redseligkeit, denn er zog sich mehr denn je von anderen Menschen zurück. Maureen gegenüber erwähnte Philipp nichts, dass Linnley einst in Schottland stationiert war. Womöglich käme sie noch auf die Idee, mit Linnley über das Land zu plaudern. Philipp wagte es gar nicht, sich vorzustellen, wie Lady Esther darauf reagieren würde.

Erregt zerrten Maureens Finger so lange an dem bestickten Taschentuch in ihren Händen, bis der duftige Batist einriss.

»Philipp, kannst du nicht verstehen, dass ich meinen Vater noch einmal sehen möchte?«

»Warum, Maureen? Warum willst du Wunden, die längst verheilt sind, wieder aufreißen? Du bist diesen Menschen nichts schuldig, sie haben dich vor langer Zeit verstoßen.«

»Es sind meine Eltern. Das werden sie immer bleiben.«

Maureens Worte ließen Philipp nicht unberührt. Er trat hinter ihren Stuhl und legte eine Hand auf ihre Schulter.

»Waren sie denn jemals wirkliche Eltern für dich? Haben sie dir die gleiche Liebe gezeigt, die wir Frederica entgegenbringen?«

Stumm schüttelte Maureen den Kopf. Unmittelbar nachdem Philipp aus Linnley Park zurückgekehrt war, hatte sie ihm den Brief gezeigt und den Wunsch geäußert, so schnell wie möglich nach Schottland zu reisen. Während er die wenigen Zeilen las, hatte sie die Missbilligung in seinem Gesicht erkannt und die stumme Frage, warum sie zu diesen Menschen zurückkehren wollte. Wozu Erinnerungen heraufbeschwören, die man besser begrub?

»Ich könnte es mir niemals verzeihen, Vater seinen letzten Wunsch nicht erfüllt zu haben«, sagte Maureen leise, aber bestimmt.

Philipps Finger trommelten auf der Stuhllehne, ein Zeichen seiner Ungeduld.

»Wir wissen nicht, wie lange der Brief unterwegs war. Für eine Reise nach Schottland würden wir ungefähr drei Wochen benötigen. Es ist durchaus möglich, dass dein Vater längst tot ist, wenn du Edinburgh erreichst. Außerdem lautet sein letzter Wunsch, dass du ihm schreibst, und dagegen habe ich auch keine Einwände.«

»Zwei Wochen!«

»Wie bitte?«

»Wir können die Reise in zwei Wochen bewältigen. Das Wetter ist trocken und warm, die Straßen werden gut passierbar sein. Von mir aus können wir morgen bei Sonnenaufgang abreisen. Ich habe bereits alle Vorbereitungen getroffen.«

Philipp seufzte. Langsam verlor er die Geduld. Maureen konnte ihn mit ihrer Uneinsichtigkeit manchmal rasend machen! Dass sie sich von einem einmal gefassten Entschluss nicht abbringen ließ, hatte sie schon oft bewiesen. Er unternahm einen letzten Versuch.

»Ich denke nicht, dass Frederica Lust verspürt, den Rest des Sommers in Schottland zu verbringen. Sie sollte Gelegenheit bekommen, das Band, das sich zwischen ihr und George Linnley gewoben hat, zu festigen, oder wir reisen wie geplant nach London.«

Wütend fuhr Maureen zu Philipp herum, ihre grünen Augen funkelten.

»Wie kannst du das befürworten? Hast du vergessen, was Lady Esther über unsere Tochter gesagt hat? Außerdem ist die Heirat Georges mit dieser entfernten Verwandten der Linnleys so gut wie beschlossen. Aus diesem Grund sollten wir Frederica so schnell wie möglich von hier fortbringen, damit sie Abstand gewinnt. Sie ist noch so jung! Die neuen Eindrucke einer solchen Reise werden sie Linnley schnell vergessen lassen.«

»Das glaube ich nicht.«

Überrascht schauten Maureen und Philipp zur Tür, im Rahmen stand Frederica mit offenem Haar und im Morgenmantel. Weder Maureen noch Philipp hatten ihr Eintreten bemerkt. Auch aus Fredericas Blick sprühten Funken, und sie sah wie das jüngere Ebenbild ihrer Mutter aus.

»Kind, du solltest längst im Bett sein. Du wirst dich noch erkälten«, unternahmen Maureen den Versuch, das Thema zu wechseln, Frederica ließ sich aber nicht ablenken.

»Niemals wird George diese Frau heiraten, denn er liebt mich. Ich bin überzeugt, er wird mir noch in diesem Sommer einen Antrag machen. Und ich werde ihn annehmen!« Trotzig stampfte sie mit ihrem bloßen Fuß auf.

»Du bist noch nicht mündig«, sagten Maureen und Philipp wie aus einem Munde. Überrascht blickten sie sich an. In letzter Zeit war es selten vorgekommen, dass sie einer Meinung waren.

»Du gehst sofort wieder ins Bett«, fuhr Philipp fort. »Wir sprechen über die Angelegenheit, wenn es so weit ist. Also marsch, nach oben mit dir.«

Frederica unterdrückte ein Lächeln und zwinkerte ihrem Vater zu. Seine strengen Worte waren durch einen zärtlichen Unterton gemildert worden. Frederica wusste, dass er auf ihrer Seite stand, darum richtete sie das Wort an ihre Mutter:

»Wenn du partout mein Glück zerstören willst, dann brenne ich mit George eben durch! Ihr habt nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass eure Eltern gegen eure Verbindung waren – warum, das habt ihr mir ja nie erzählt.« Anklagend blickte sie ihre Eltern an. »Eure Liebe zueinander war aber stärker als alle Konventionen, nicht wahr? Folglich kannst du mir nicht vorschreiben, wen ich zu heiraten habe, Mama!«

Bevor Maureen etwas erwidern konnte, machte Frederica kehrt und schlug die Tür hinter sich zu. Maureen schnappte nach Luft.

»Was sagt man dazu?«

Philipp versuchte nicht, sein Lächeln zu verbergen.

»Sie ist deine Tochter, daran besteht wahrlich kein Zweifel, und wo sie recht hat, hat sie recht, das musst du zugeben. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du dich jemals dem Willen anderer Menschen gebeugt hast.«

Die Erkenntnis, dass Frederica ihr langsam, aber sicher entglitt, machte Maureen traurig. Sie schob in der für sie typischen Geste die Unterlippe nach vorn und murmelte: »Ich werde nach Edinburgh fahren. Wenn du mich nicht begleiten möchtest, dann reise ich eben allein. Das ist mein Ernst!«

Im Schatten der Vergeltung

Подняться наверх