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2. Kapitel

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Edinburgh, Schottland - September 1780

»Halten Sie, Mann! Halten Sie sofort an!«

Noch bevor die Kutsche zum Stillstand gekommen war, riss Maureen die Tür auf und sprang hinaus. Sie versank bis zu den Knöcheln im Matsch der unbefestigten Straße, es kümmerte sie aber nicht.

»Ist sie nicht wunderschön? Komm Frederica, du musst dir die Burg ansehen.«

Unwillig streckte das Mädchen den Kopf aus dem Fenster und warf nur einen kurzen Blick auf die trutzige Festung, die majestätisch auf einem fast senkrecht abfallenden Felsen thronte.

»Sind wir jetzt endlich da?«, fragte sie. »Mir ist kalt und ich habe Hunger.«

Seit drei Stunden regnete es nicht mehr, der Himmel war aber immer noch mit dicken dunklen Wolken bedeckt, und der Wind war kalt. Je weiter die kleine Reisegruppe nach Norden gekommen war, desto seltener hatte sich die Sonne am Himmel blicken lassen, und der Regen war zu ihrem täglichen Begleiter geworden.

Nach zuerst heftigem Widerstand hatte Frederica schließlich die Reise in eine ihr unbekannte Welt dann doch mit gespannter Erwartung angetreten. Bereits am zweiten Tag hatten jedoch der Regen, die Stürme und die teilweise unzumutbaren Unterkünfte ihr jede Freude verdorben, und es verging kein Tag, an dem Frederica nicht mit einem trotzigen Unterton sagte: »Wäre ich doch nur zu Hause geblieben!«

Maureen reagierte gelassen auf die Launen ihrer Tochter. Ihre innerliche Anspannung wuchs von Meile zu Meile. Es war eine Mischung aus Vorfreude und Angst. Was würde sie in Edinburgh erwarten? In welcher Verfassung würde sie ihre Eltern antreffen? Lebte ihr Vater überhaupt noch, und wie würde ihre Mutter auf das unverhoffte Wiedersehen reagieren?

Nach einer Nacht, in der Maureen und Philipp hin und her diskutiert hatten, hatte Philipp schließlich zugestimmt, Maureen nach Schottland zu begleiten. Widerwillig zwar, aber er wusste, dass Maureen tatsächlich ohne ihn reisen würde. Das würde einen unglaublichen Skandal bedeuten, den Philipp unter allen Umständen verhindern musste. So war es das kleinere Übel, wenn sich die ganze Familie auf die Reise begab. Philipp bestand darauf, bereits im Vorfeld eine geeignete Bleibe in Edinburgh zu suchen, auf keinen Fall wollte er in einer fremden Stadt ankommen und nicht wissen, wo seine Familie wohnen würde. Als junger Mann war er mit seinem Regiment einige Wochen in Edinburgh stationiert gewesen, kannte daher die Zustände in der überfüllten Stadt, die wie ein zerrupftes Krähennest auf dem mächtigen Vulkanfelsen thronte. Philipp erinnerte sich an Sir Gordon, einem Parlamentsmitglied aus London. Vor einiger Zeit hatte Sir Gordon erwähnt, sein neu erbautes Edinburgher Stadthaus würde Freunden jederzeit zur Verfügung stehen. Philipp hoffte auf die Aufrichtigkeit des Angebots, sandte eine Nachricht an Sir Gordon und bat ihn, die Bediensteten über ihre Ankunft zu unterrichten.

»Maureen, steige bitte wieder in die Kutsche, die Burg wird auch morgen noch da sein. Ich bin froh, wenn wir unser Ziel endlich erreicht haben«, sagte Philipp.

Während der verbleibenden Fahrt starrte sie hinaus auf die vorüberziehende Landschaft. Sie knetete so nervös ihre Finger, dass die Gelenke knackten.

»Sieh mal, das Nor’Loch ist fast völlig verschwunden!«, rief sie und drückte ihre Nase an die Scheibe. »Und da hinten wurde eine Brücke gebaut.«

Endlich rumpelte die Kutsche über das Kopfsteinpflaster der Stadt. Es waren nur flüchtige Eindrücke, die Maureen und Philipp aufnahmen, sie bemerkten aber beide, dass sich die schottische Hauptstadt in den letzten Jahren stark verändert hatte. Im Norden, dort, wo sich früher ein Sumpfgelände befunden hatte, waren neue Straßen und Häuser entstanden. In diesem Gebiet, am Charlotte Square, einem quadratischen Platz, der den eleganten Wohnvierteln in London in nichts nachstand, befand sich auch das Haus von Sir Gordon. Das hohe und schmale Gebäude war im vergangenen Jahr fertig gestellt worden und lag inmitten einer Reihe von gleichartigen herrschaftlichen Wohnhäusern. In der Gesellschaft war es chic geworden, ein Haus in Edinburgh zu besitzen, auch wenn die Reise von Südenglang weit und anstrengend war, und die adligen Engländer nur selten das Land im Norden besuchten. Von den Schotten im Allgemeinen hielt man ohnehin nicht viel, aber Hauptsache, man folgte dem neuesten Trend. Schließlich wollte sich niemand nachsagen lassen, er könne sich kein Stadthaus leisten.

Sie wurden bereits erwartet. Ein livrierter Diener führte Maureen, Philipp und Frederica in eine kleine Eingangshalle, dann sorgte er dafür, dass das Gepäck entladen wurde. Sie schlenderten durch das Haus, das von innen wesentlich geräumiger war, als sein Äußeres vermuten ließ. Im Erdgeschoss befanden sich neben der Halle die Bibliothek und ein kleineres Damenzimmer. Im ersten Obergeschoss lagen das Speisezimmer, der Salon und ein Raum, in den sich die Herren zum Rauchen zurückziehen konnten. Im nächsten Stockwerk waren drei Schlafzimmer, dann gab es noch zwei Dienstbotenkammern unterm Dach. Die Küche, Vorratsräume und weitere Dienstbotenquartiere befanden sich im Souterrain. Selbst das Kellergeschoss war gut ausgeleuchtet und durch einen Graben, den man sechs Fuß breit und neun Fuß tief zwischen sämtlichen Häusern gezogen hatte, gut belüftet. Der Graben war mit einem eisernen Geländer eingezäunt, und eine schmale Treppe führte zu dem separaten Kellereingang. Im ganzen Haus roch es nach Holz und frischer Farbe, und alle Räumlichkeiten waren mit modernen und hellen Möbeln eingerichtet.

»Herzlich Willkommen, Sir … Mylady … Miss …« Ein junges, dünnes Mädchen mit einem starken schottischen Akzent knickte demütig. »Mein Name ist Jenny, ich werde Ihnen, Mylady, und Ihnen, Miss, als Zofe zur Hand gehen.«

»Das ist sehr aufmerksam von Sir Gordon«, erwiderte Maureen freundlich. »Unsere eigene Zofe konnte uns leider nicht begleiten.«

Ihre Zofe Nelly hatte Maureen nicht mitnehmen wollen, da sie niemandem den wahren Grund der plötzlichen Reise verraten hatte. Sie wusste nicht, was sie in Edinburgh erwartete – es konnte von Vorteil sein, wenn Nelly nicht wusste, dass sie ihre Eltern aufsuchen wollte.

»Sie werden erschöpft sein«, fuhr Jenny fort. »Ich veranlasse sofort, dass ein Bad gerichtet wird, und die Köchin hat bereits alles für das Abendessen vorbereitet.«

Ungeduldig schüttelte Maureen den Kopf. »Ich möchte sofort zu meinen Eltern«, sagte sie und holte den zerknitterten Brief mit der Adresse aus ihrer Rocktasche, wo sie ihn während der ganzen Reise aufbewahrt hatte.

»Das halte ich für keine gute Idee«, gab Philipp zu bedenken. »Es wird bald dunkel. Wir sollten uns heute Abend ausruhen und morgen Vormittag erfrischt und in aller Form bei deinen Eltern vorsprechen. Maureen, wir haben eine lange und anstrengende Reise hinter uns. Frederica fallen vor Erschöpfung beinahe die Augen zu, und auch du siehst erschöpft aus.«

»Ich werde nach dem Bad sofort ins Bett gehen.« Frederica gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Ich habe auch keinen Hunger. Ich hoffe nur, dass die Betten bequem sind.«

Jenny nickte eifrig und bedeutete ihr, sie nach oben zu begleiten.

»Gute Nacht.« Frederica küsste ihre Eltern auf die Wangen, dann folgte sie dem Hausmädchen in den zweiten Stock hinauf.

Maureen trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Sie trug immer noch ihren Mantel, den Hut und die Handschuhe.

»Ich fühle mich kein bisschen müde. Ich kann jetzt nicht zu Bett gehen und schlafen. Ich würde ohnehin kein Auge zu tun.«

»Ich habe den Kutscher bereits fortgeschickt. Du wirst dich also bis morgen gedulden müssen.« Philipps Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.

»Ach was, ich brauche keine Kutsche. Die Stadt ist nicht sehr groß, wir können zu Fuß gehen.«

Philipp seufzte ungehalten.

»Maureen, jetzt sei doch vernünftig! Es ist niemandem damit gedient, die Dinge zu überstürzen. Ich werde mich nun auch ein wenig ausruhen und freue mich dann auf ein hoffentlich schmackhaftes Dinner.«

Er ging ebenfalls die Treppe hinauf. Maureen blieb allein in der Halle zurück und sah sich unschlüssig um. Nein, sie konnte nicht warten! Sie wollte nicht warten! Über siebzehn Jahre hatte sie ihre Eltern nicht gesehen. Jetzt war sie ihnen so nahe, nur wenige Straßenzüge trennten sie von ihnen.

Kurzentschlossen öffnete sie die Tür und trat auf die Straße. In dem in den letzten Jahren neu entstandenen Stadtviertel, das allgemein nur New Town genannt wurde, waren die Gehwege gepflastert und auffallend sauber. Maureen ging am Rande des Nor’Loch entlang und überquerte das früher stinkende Sumpfloch, von dem nur noch ein kleiner Tümpel übrig geblieben war, auf der neuen Brücke. Nach wenigen Schritten erreichte sie die Royal Mile, das mittelalterliche Herz der Altstadt, und tauchte ein in ein verwirrendes Labyrinth aus Straßen, kleinen Gassen, dunklen Winkeln, Höfen und versteckten Durchgängen. Maureen, die mit Philipp einige Tage in Edinburgh verbracht hatte, war erstaunt, wie eng, schäbig und schmutzig sich die alte Stadt darbot. Damals hatte sie das überhaupt nicht bemerkt, war nur glücklich gewesen, mit Philipp ein neues Leben zu beginnen.

Sie fragte zwei Passanten, der Kleidung nach Handwerker, nach dem Weg zu der Adresse, die auf dem Brief ihrer Mutter angegeben war. Die Männer musterten sie erstaunt, denn Maureens Garderobe und ihr Auftreten wiesen sie als Dame aus, und es kam nicht oft vor, dass eine Lady am frühen Abend allein durch die Altstadt spazierte. Sie gaben ihr aber in einem breiten, schottischen Dialekt bereitwillig Auskunft, und Maureen fand problemlos zur West Bow. Die steile, enge und mit hohen Häusern gesäumte Straße zog sich vom Lawnmarket, einem Teil der Royal Mile, hinunter zum Grassmarket. Nummer Sieben war ein schmales, fünfstöckiges Gebäude aus grauem Backstein, der an vielen Stellen abbröckelte. In dem dunklen Treppenhaus roch es muffig und nach undefinierbaren Essensdünsten. Maureen zog fröstelnd den dünnen Mantel enger um sich. Sie klopfte an die erste Tür im Erdgeschoss und musste nicht lange warten. So schnell, als hätte die alte, dicke Frau direkt hinter der Tür gelauert, wurde diese geöffnet. Aus der Wohnung schlug Maureen ein grässlicher Gestank nach faulendem Kohl entgegen. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück und stieß hervor:

»Ich suche Laura Mowat. Sie muss hier im Haus wohnen.«

Die Alte verzog ihr faltiges Gesicht und stieß ein Geräusch aus, das Maureen an das Grunzen eines Schweines erinnerte.

»Wohnt nich mehr hier. Die is fort.«

Die Alte wollte ihr die Tür vor der Nase zuschlagen, aber Maureen stellte schnell einen Fuß in den Spalt.

»Fort? Was heißt das? Wohin ist sie gegangen?«

Mit einer Gewandtheit, die man ihr nicht zugetraut hätte, machte die Frau einen Schritt auf Maureen zu. Diese traf ein Schwall von übel riechendem Atem. Schnell drehte sie den Kopf zur Seite.

»Na, weg isse. Hat die Miete nich zahlen können. Bin hier schließlich kein Armenhaus. Hier muss jeder pünktlich zahlen oder verschwinden.«

»Sie wissen doch sicher, wo sie jetzt wohnt, oder?«, fragte Maureen hoffnungsvoll.

»Nee, kümmre mich nich um andre Leute, hab selbst genügend Probleme.«

Eine Welle der Enttäuschung schwappte über Maureen. Sie war so nahe am Ziel gewesen! Wie sollte sie in der großen Stadt nun ihre Eltern finden?

Die Alte musterte sie in dem schwachen Licht der Ölfunzel von oben bis unten, griff dann nach Maureens Mantelärmel. Ihre wurstigen, schmutzigen Finger betasteten den feinen Seidenstoff. Sie stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

»Was will denn ’ne so feine Dame von der Mowat?«

Maureen holte eine Münze aus ihrer Börse und hielt sie der Frau hin.

»Das wird Ihnen die Auskunft, wo Laura Mowat zu finden ist, wert sein, nicht wahr?«

Maureen konnte ihre Hand gar nicht so schnell fortziehen, wie die Alte nach der Münze grapschte und in ihrem Ausschnitt verschwinden ließ.

»Weiß wirklich nich, wo die Mowat hin is ...«

Wie dumm von mir, dachte Maureen, jetzt hat sie das Geld, und ich bin genauso schlau wie zuvor. Vielleicht wäre sie doch besser mit Philipp hergekommen. Vor einem Mann hätte die Vettel bestimmt mehr Respekt gezeigt. Maureen seufzte und wandte sich ab. Es war sinnlos, sich weiter mit der Frau zu unterhalten, außerdem begann ihr Magen über den widerwärtigen Geruch zu rebellieren.

»Aber sie geht jeden Tag zum Friedhof«, rief die Alte plötzlich.

Maureen drehte sich wieder um. »Wie bitte?«

»Ja, ja. Zumindest hat se das gemacht, als se noch hier wohnte. Jeden Tag! Arme Frau, hat doch ihren Mann dort begraben müssen.«

Maureens Beine begannen so sehr zu zittern, dass sie sich an die Wand lehnen musste – ungeachtet der Tatsache, dass ihr Mantel beschmutzt wurde. Was sie die ganze Fahrt über befürchtet hatte, war zur schrecklichen Gewissheit geworden. Sie war zu spät gekommen! Ihr Vater war tot. Gestorben, ohne dass sie, Maureen, noch einmal mit ihm hatte sprechen können. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, und sie kämpfte mit den Tränen.

»Geht’s Ihnen nich gut?« Die Alte kam zögernd näher und griff nach Maureens Arm. »Wolln Se ’nen Becher Wasser?«

Maureen schüttelte den Kopf und machte einen Schritt zur Seite.

»Nein, danke. Es geht schon wieder.« Das Letzte, was sie wollte, war, aus einem Gefäß zu trinken, das die Lippen dieser Frau berührt hatten. »Welcher Friedhof?«, brachte sie mühsam hervor.

»Hä?«

»Zu welchem Friedhof geht Mrs Mowat?«

»Aye, Greyfrairs. Aber da könn Se jetzt nich mehr hin. Die Tore schließen bei Dunkelheit.«

Maureen nickte geistesabwesend, ließ die Alte stehen und tastete sich durch den düsteren Flur. Wieder auf der Straße atmete sie tief ein und aus. Auch wenn die Gassen mit Abfall überhäuft waren – gegen die Luft in dem baufälligen Haus roch es hier geradezu paradiesisch.

Dann ging alles sehr schnell. Über ihr schrie eine laute Frauenstimme etwas Unverständliches. Im selben Moment, als Maureen nach oben sah, wurde sie auch schon ruckartig am Arm gepackt und zur Seite gerissen. Sie strauchelte und fand sich im nächsten Moment an einer breiten Männerbrust wieder. Alles, was sie erkennen konnte, war ein weißes, gestärktes Hemd und darüber eine dunkelbraune Weste. Neben ihr platschte eine übel riechende Flüssigkeit auf das Pflaster, die auf ihren Rock und auf ihren Mantel spritzte.

»Oh!« Obwohl Maureen hochgewachsen war, musste sie den Kopf weit in den Nacken legen, um das Gesicht des Fremden erkennen zu können, der sie immer noch mit beiden Armen umklammert hielt. »Würden Sie mich bitte sofort loslassen?«

Er tat es unverzüglich, und Maureen trat schnell einen Schritt von ihm fort.

»Das war knapp.«

Seine tiefe, wohlklingende Stimme mit dem unverkennbaren schottischen Akzent passte zu seiner Erscheinung. Er war sehr groß, verfügte über ein markantes, leicht vorspringendes Kinn und sein schwarzes Haar war kurz und glatt. Maureen hatte keine Angst, denn alles an dem Mann wies auf einen Gentleman hin.

»Was ... ist passiert?«, fragte sie und sah auf die Straße. Nur ein paar Fuß weiter befand sich eine Pfütze voller Speisereste und Exkremente.

Der Fremde sah sie verständnislos an.

»Haben Sie den Warnruf nicht gehört?«

»Welchen Ruf?«

»Gardyloo natürlich! Sie hätten mit Haud yer hand! antworten müssen. Sie sind wohl nicht von hier?«

»Gardie… was? Ja, da hat jemand etwas gerufen. Ich wollte gerade nachsehen, was los ist, als Sie mich auch schon an sich gerissen haben.«

Der Mann lachte. Er war nicht mehr jung, gewiss einige Jahre älter als Maureen. Um seine Augen spielten zahlreiche feine Fältchen.

»Gardyloo bedeutet so viel wie Vorsicht Wasser, das allerdings nicht immer der Realität entspricht«, setzte der Fremde zu einer Erklärung an. »Meistens sind es ganz andere Dinge als nur Wasser, die aus den Fenstern auf die Straße geschüttet werden. Das schottische Wort ist eine Abwandlung des französischen Begriffes gardez l´eau und wird seit den Zeiten Maria Stuarts in Edinburgh allgemein verwendet.«

»Ach?« Maureen krauste ihre Nase. »Dann muss ich Ihnen wohl dankbar sein. Sie haben recht, ich war eine lange Zeit nicht mehr in Schottland. Ich lebe in Cornwall.«

Im selben Moment, als sie die Worte ausgesprochen hatte, hätte Maureen sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Was ging es den Fremden an, woher sie kam, und wie konnte er es wagen, sie in einer solch unverschämten Art und Weise anzustarren? Sie würde ihm jetzt ganz einfach danken und dann auf dem schnellsten Weg zum Charlotte Square zurückkehren.

Missbilligend zog der Fremde eine Augenbraue in die Höhe.

»Aye, Engländerin? Ich habe Ihren Akzent nicht richtig einordnen können. Schade, wenn ich das vorher gewusst hätte, wäre ich Ihnen sicher nicht zu Hilfe gekommen.«

»Was erlauben Sie sich!«

Der Fremde verschränkte die Arme vor seiner Brust und musterte sie abschätzend.

»Ich verabscheue alle Engländer«, sagte er ruhig,

»Ich bin ebenso Schottin wie Sie!«, rief Maureen. »Mein Ehemann ist Engländer, darum lebe ich im Süden.«

Verflixt, warum erzähle ich ihm das eigentlich?, fragte sie sich sofort wieder. Der Mann trat einen Schritt zurück und spuckte so unvermittelt vor Maureen aus, dass sie vor Schreck einen leisen Schrei ausstieß.

»Jetzt würde ich Ihnen gern eigenhändig den Eimer mit den Exkrementen über den Kopf kippen. Wenn Sie als Engländerin geboren worden wären, könnten Sie zumindest nichts dafür. Aber dass sich eine Schottin dazu herablässt, ihr Land zu verraten, indem sie den Feind heiratet – das verdient meine ganze Verachtung!«

Maureen verlor die Selbstbeherrschung. Mit aller Kraft holte sie aus und ohrfeigte ihn. Er war so überrascht, dass er nicht auswich. Außer sich vor Zorn rief sie: »Mein Mann wird für diese Beleidigung Genugtuung fordern! Er war Angehöriger der Armee und kann exzellent mit dem Degen umgehen. Nennen Sie mir Ihren Namen, und er wird Sie morgen aufsuchen.«

Er stieß einen schnaubenden und verächtlichen Laut aus.

»Wenn Sie glauben, ein hinterhältiger Rotrock würde mir Angst einjagen, so täuschen Sie sich. Und Sie, meine Liebe, sind es nicht wert, dass ich mich mit jemandem Ihretwegen duelliere. Sie sollten sich nicht überschätzen.«

Er drehte sich um und eilte mit weitausholenden Schritten davon.

»Ihren Namen!«

Er blieb stehen, drehte sich betont langsam um und deutete eine spöttische Verbeugung an.

»Alan McLaud, meine Gnädigste. Wenn Sie unbedingt zur Witwe gemacht werden möchten, dann schicken Sie Ihren Gatten ruhig zu mir.«

Im nächsten Moment war er im Gewirr der Closes, der schmalen Durchgänge zwischen den Häusern, verschwunden und ließ eine vor Zorn bebende Maureen zurück.

Maureen erhielt keine Gelegenheit, Philipp von ihrem Erlebnis mit dem unverschämten Fremden zu berichten, denn kaum hatte sie die Tür am Charlotte Square geöffnet, stand ihr Mann auch schon vor ihr. Nicht minder zornig als Maureen – allerdings aus ganz anderen Gründen.

»Wo warst du?«

Maureen sah mit Unbehagen, wie eine hervorgetretene Ader über seiner rechten Schläfe heftig pochte. Das war ein deutliches Zeichen seiner wütenden Erregung.

»Es tut mir leid, aber ich konnte einfach nicht länger warten«, versuchte sie sich zu verteidigen.

»Nicht länger warten? Du hast deine Eltern seit Jahren nicht mehr gesehen, wäre es da auf ein paar Stunden angekommen? Das ist kein Grund, bei Nacht und Nebel wie eine gewöhnliche Bäuerin in der Stadt herumzuschleichen. So benimmt sich keine Dame!« Wenn das Lady Esther wüsste, fügte Maureen im Stillen hinzu. Im selben Moment fuhr Philipp fort: »Wenn das Lady Esther wüsste! Sie wäre entrüstet, wie du dich über ihre Ratschläge hinwegsetzt.«

»Sie ist aber nicht hier und wird es nie erfahren.« Maureen presste beide Hände an ihre Schläfen, plötzlich bekam sie Kopfschmerzen. »Lady Esther! Immer wieder Lady Esther! Ich kann diesen Namen nicht mehr hören. Es kümmert dich anscheinend überhaupt nicht, wie es mir geht!«

Die Nachricht über den Tod ihres Vaters, und die unerfreuliche Begegnung mit dem ungehobelten Fremden hatten sie erschöpft. Solange Philipp doch stur und unversöhnlich blieb, würde sie nicht zugeben, wie schwach und hilflos sie sich fühlte. Darum warf sie den Kopf in den Nacken und sagte stolz:

»Du gibst mir ja gar keine Möglichkeit, dich um Entschuldigung zu bitten und mein Verhalten zu erklären.«

»Maureen, ich will doch nur dein Bestes.«

»Ich kann selbst entscheiden, was gut für mich ist und was nicht.« Ein starker Schmerz schoss ihr durch den Kopf, und sie kniff die Augen zusammen. »Ich bin müde. Heute habe ich keine Kraft mehr, um mich mit dir auseinanderzusetzen. Übrigens – mein Vater ist gestorben, und ich konnte in Erfahrung bringen, wo ich meine Mutter finden kann. Ich schätze, das interessiert dich aber kein bisschen.«

»Aber Maureen ...«

Sie winkte ab und ging mit langsamen Schritten die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Auf keinen Fall würde sie sich Philipp gegenüber anmerken lassen, wie sehr sie durch sein Unverständnis verletzt worden war.

»Warum kann ich euch nicht begleiten? Es ist doch meine Großmutter.«

Beleidigt zerbröselte Frederica eine Scheibe Toast zwischen ihren Fingern. Maureen legte eine Hand auf ihren Arm.

»Kleines, meine Mutter muss erst verkraften, mich nach all den Jahren wiederzusehen. Außerdem weiß ich gar nicht, in welcher Verfassung ich sie vorfinden werde. Dein Großvater ist erst kürzlich gestorben, das muss ein großer Schock für meine Mutter gewesen sein.«

»Was soll ich hier den ganzen Tag tun?«, nörgelte Frederica. »Papa erlaubt mir ja nicht einmal, allein auszugehen. Ich wäre besser zu Hause geblieben, da könnte ich mit George ausreiten. In Cornwall scheint bestimmt die Sonne, und es ist warm.«

Maureen dachte kurz nach, dann lächelte sie und schlug vor: »Wie wäre es, wenn du dir das kleine, nette Buch über Edinburgh anschaust, dass wir an der Grenze gekauft haben? Morgen werden wir uns die Stadt ansehen, und dann kannst du mir alles Wissenswerte erzählen.«

»Hm ...« Über diesen Vorschlag war Frederica wenig begeistert, andererseits lud das Wetter nicht zu einem Spaziergang ein. Dichter Nebel lag in den Straßen und es war empfindlich kühl. »Also gut«, gab sie nach. »Aber morgen möchte ich zur Burg gehen.«

Maureen nickte. »Natürlich, mein Liebling. Dein Vater und ich bleiben nicht lange aus. Wenn du etwas brauchst, bitte Jenny darum.«

Philipp wartete bereits in der Halle. Das gemeinsame Frühstück war in einer höflichen Atmosphäre verlaufen. Vor Frederica wollten Philipp und Maureen nicht streiten. Sie hoffte, die alte Frau würde recht haben, und sie würden Laura Mowat tatsächlich auf dem Friedhof finden können. Wegen des Nebels war Maureen froh, dass Philipp darauf bestanden hatte, mit einer Mietkutsche zum Greyfrairs Friedhof zu fahren. Außerdem war Maureen in banger Erwartung der bevorstehenden Begegnung schrecklich nervös. Sie vermochte kaum, ein Bein vor das andere zu setzen.

Auch wenn über siebzehn Jahre vergangen waren, erkannte Maureen ihre Mutter sofort wieder. Mit gefalteten Händen stand Laura Mowat vor einem frisch aufgeschütteten Grab mit einem schlichten Holzkreuz. Ihre zierliche Gestalt in den dunklen Kleidern war gebeugt, unter der schlichten Haube lugten aber Strähnen ihres roten Haares hervor, dass immer noch dicht und kräftig war.

Maureen gab Philipp mit einer Handbewegung zu verstehen zurückzubleiben, dann näherte sie sich langsam.

»Mutter ...« Ihre Stimme war dünn und unsicher. Sie räusperte sich und sagte dann lauter: »Mutter, es ... tut mir so leid. Ich wünschte, ich wäre früher gekommen.«

Laura Mowat sah auf. Ihre Augen weiteten sich erstaunt, und ungläubig schüttelte sie den Kopf.

»Maureen? Wie hast du mich gefunden?« Ihre tiefe, kehlige Stimme hatte sich nicht verändert.

Maureen wollte auf ihre Mutter zugehen, sie in die Arme nehmen, aber der abweisende Ausdruck in Lauras Augen ließ sie zögern. Mit hängenden Armen stand sie einer Frau gegenüber, die wie eine Fremde auf sie wirkte.

»Nachdem ich deinen Brief erhalten hatte, sind wir sofort gereist.« Krampfhaft suchte Maureen nach den Worten. »Ich ... hätte Vater gern noch einmal gesehen.«

Im selben Moment erschienen Maureen ihre Worte hohl und nichtssagend, sie war aber unfähig, ihre Gefühle auszudrücken. Ihr Kopf war wie leergefegt, und sie befürchtete, jeden Moment in Tränen auszubrechen. Maureen hatte keine überschwängliche Begrüßung erwartet, mit dieser eisigen Ablehnung hatte sie jedoch nicht gerechnet. Laura Mowat schien auch nach siebzehn Jahren ihrer Tochter nicht verziehen zu haben.

»Was ist geschehen? Woran ist Vater gestorben?«, fragte sie leise.

Laura senkte den Kopf und wich Maureens Blick aus.

»Ich konnte nicht ahnen, dass du dich für deinen Vater noch interessierst, nachdem du nicht nur deine Familie, sondern dein ganzes Volk verraten hast. Ich schrieb dir diesen unseligen Brief nur, weil es Johns ausdrücklicher Wunsch war. Bis zuletzt hat er von dir gesprochen. Von mir aus hätte ich dir niemals geschrieben, denn ich habe seit vielen Jahren keine Tochter mehr.«

Maureen schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. Sein Wunsch! Ihr Vater hatte an sie gedacht, ihrer Mutter war sie heute ebenso gleichgültig wie sie ihr während der gesamten Kindheit und Jugend egal gewesen war. Zwiespältige Gefühle kämpften in ihr, schließlich bekam ihr Stolz die Oberhand.

»Dann haben wir die lange Reise wohl umsonst gemacht«, sagte sie bitter. Laura sollte nichts von ihrer Enttäuschung bemerken, aber sie machte einen letzten Versuch, das Herz ihrer Mutter zu erreichen. »Unsere Tochter, deine Enkelin, hat uns begleitet. Frederica kann es kaum erwarten, ihre Großmutter endlich kennen zu lernen.«

Laura hob nur eine Augenbraue, ihr Blick blieb jedoch ausdruckslos.

»Sie hat ihr bisheriges Leben gewiss sehr angenehm verbracht, ohne mich zu kennen. Das wird sie auch weiterhin können, nicht wahr?«

Maureen ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Enttäuschung wandelte sich in Zorn. Philipp, der sich bisher im Hintergrund gehalten und das Gespräch stumm verfolgt hatte, trat an ihre Seite und legte eine Hand auf ihre Schulter. Diese kleine Berührung gab Maureen ein Gefühl von Wärme und neuer Kraft. Trotz der Missstimmung am vergangenen Abend war sie nicht allein.

Philipp flüsterte ihr zu: »Lass es gut sein. Du hast deine gute und ehrliche Absicht bewiesen. Am besten, wir reisen so schnell wie möglich wieder nach Hause.«

Laura starrte den großen, gut aussehenden Mann an. Für einen Moment befürchtete Maureen, sie würde ihm mitten ins Gesicht spucken, so verächtlich zogen sich ihre Mundwinkel nach unten.

»Ach, sie mal an, der Engländer! Was ist es für ein Gefühl, ein Land zu besuchen, dessen Volk ihr beinahe vollkommen ausgerottet habt, und den kläglichen Rest gnadenlos unterdrückt?«

Laura erwartete keine Antwort. Sie drehte sich um und verließ mit erstaunlich raschen Schritten den Friedhof. Maureen warf einen letzten Blick auf das Grab ihres Vaters, dann eilte sie Laura nach.

»Ich kann nicht anders«, rief sie Philipp zu. »Trotz allem ist sie meine Mutter.«

Am Tor holte sie Laura ein. Ein heftiger Hustenanfall zwang Laura, sich an die Eisenstäbe zu klammern. Ihr schmächtiger Körper wurde von Krämpfen geschüttelt, und sie rang nach Atem.

»Mutter!« Maureen legte einen Arm um Lauras Schultern und erschrak, wie mager die Mutter geworden war. Laura wehrte die Berührung nicht ab. »Bitte, komm mit uns. Wir haben am Charlotte Square ein Haus gemietet, dort können wir in Ruhe sprechen.«

Laura schüttelte energisch den Kopf. Der Husten hatte sich gelegt, aber sie atmete noch immer schwer.

»Niemals betrete ich das Haus eines Engländers. Wenn du willst, kannst du mich begleiten. Aber ohne den da!« Anklagend zeigte sie mit dem Finger auf Philipp.

»Mutter, Philipp ist mein Ehemann. Dein Schwiegersohn und der Vater deiner Enkelin.«

»Das heißt noch lange nicht, dass ich seine Gesellschaft ertragen muss. Also, wenn du wirklich mit mir sprechen willst, dann allein.«

Verständnislos schüttelte Maureen den Kopf. Sie warf Philipp einen um Verständnis bittenden Blick zu und sagte leise: »Fahre zurück, ich nehme mir später eine Mietdroschke.«

In seinen Augen sah sie die Missbilligung und war ihm umso dankbarer, dass er keine Einwände erhob.

Maureen stützte ihre Mutter, als sie durch die Gassen der Altstadt gingen. Sie kamen nur langsam voran, jeder Schritt bereitete Laura große Mühe. Immer wieder musste sie stehen bleiben und nach Atem ringen. Es war offensichtlich, dass Laura schwer krank war. Aus den Augenwinkeln bemerkte Maureen, wie ihnen Philipps Kutsche in angemessenem Abstand folgte, ohne dass Laura es bemerkte.

Für den Weg von einer knappen Meile benötigten sie über eine halbe Stunde, dann hatten sie Lauras Unterkunft in einer schmutzigen Seitengasse der Royal Mile erreicht. Maureen wusste nicht, was sie erwartet hatte, auf keinen Fall jedoch dieses kleine und schäbige Zimmer über einer zweifelhaften Schenke, in der zwielichtige, ungewaschene Gestalten bereits am Vormittag bei Bier und Whisky saßen. An der schmuddeligen Theke bestellte Laura einen Krug Bier. Irritiert erklomm Maureen eine steile Stiege hinauf und folgte ihrer Mutter in einen Raum, der kaum größer als eine Abstellkammer war. Laura, die sich von den Hustenanfällen wieder erholt hatte, schenkte das dunkle, starke Bier in zwei Holzbecher. Einen davon reichte sie Maureen, die sich nicht daran erinnern konnte, wann sie zum letzten Mal aus einem Holzbecher getrunken hatte, es war aber auch gleichgültig. Am liebsten hätte sie etwas Stärkeres zu trinken gehabt, aber sie entdeckte weder eine Flasche Whisky noch Brandy. Wenigstens war es in der Kammer warm, und die unverputzten Wände waren frei von Schimmel. Laura legte trockenes Holz in den Kamin. Als die Flammen emporzüngelten, hängte sie einen gusseisernen Topf über das Feuer.

»Hühnersuppe«, erklärte sie kurz. »Willst du auch eine Schale?«

Maureen schüttelte stumm den Kopf, ihr Magen war wie zugeschnürt. Sie beobachtete jeden Handgriff der Mutter: Wie sie die Suppe umrührte, nach wenigen Minuten eine Holzschale von dem einzigen Bord nahm, diese mit der Suppe füllte, sich dann an den wackligen, grobgezimmerten Tisch setzte und langsam die heiße Flüssigkeit schlürfte. Es war ein armseliger Anblick: Eine alte, kranke Frau mit abgetragenen Kleidern hockte in einem Raum, der selbst für eine Küchenmagd zu schäbig war, trank billiges, starkes Bier und aß eine dünne Hühnerbrühe. In Lauras Körperhaltung und auf ihrem Gesicht lag jedoch ein Ausdruck, als residiere sie im Holyrood Palast und verspeise mit Trüffeln gespickte Kalbsbrust. Das vertraute Gefühl aus der Kindheit, in der Maureen immer gedacht hatte, dass ihre Mutter nicht in die einfache Kutscherwohnung passte, kehrte zurück. Lauras Haltung war stolz, ihr Kinn hoch erhoben. Obwohl sie gealtert war, hatte sich an ihrer Ausstrahlung nichts geändert. Unwillkürlich musste Maureen an Lady Esther denken. Ohne Zweifel war ihre Nachbarin eine reiche Dame, besaß jedoch nicht die Würde, die diese kleine zarte Frau mit dem strähnigen Haar und dem gebeugten Rücken ausstrahlte.

Ein längst vergessenes Gefühl überkam Maureen. Es war eine Mischung aus Wehmut und Liebe. Liebe zu einer Mutter, die ihr nie einen Grund gegeben hatte, sie zu lieben. Zwar hatte Laura sie niemals geschlagen oder sonst schlecht behandelt, aber die Kälte, die Laura wie ein Panzer aus undurchdringbarem Eis umgab, und die Ignoranz ihr gegenüber hatten Maureen mehr verletzt, als sie es sich jemals eingestanden hatte. Sie selbst tat alles, um Frederica eine liebevolle Mutter zu sein. Auch wenn es in letzter Zeit Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben hatte, war Maureen überzeugt, dass Frederica keinen Grund hatte, an ihrer Liebe zu ihr zu zweifeln.

Maureen wartete geduldig, bis Laura ihr karges Mahl beendet hatte, dann fragte sie: »Warum lebst du hier? Auf dem Brief war eine Adresse am Grassmarket angegeben, dort sagte man mir, du musstest fortziehen. Warum seid ihr überhaupt nach Edinburgh gegangen? Vater wollte doch nie in die Stadt.«

Laura sah ihre Tochter so lange an, dass sich Maureen fragte, ob sie ihre Fragen verstanden hatte. Schließlich sagte sie mit einem resignierten Unterton: »Nun gut. Wenn du schon einmal hier bist, dann kann ich dir auch alles erzählen. In wenigen Tagen wirst du an der Seite deines adligen Ehemannes in einer komfortablen Kutsche in dein sicher nicht weniger elegantes Heim nach England zurückkehren und an mich und Schottland keinen Gedanken mehr verschwenden.«

»Mutter, wie kannst du so etwas denken?«, begehrte Maureen auf. »Warum kannst du deinen Hass nicht endlich begraben? Culloden und alles, was damit zusammenhängt, liegt Jahrzehnte zurück! Wir sind ein Volk – ob Schotten, Engländer oder Waliser! Viel wichtiger ist es doch, dass ich in England mein Glück gefunden habe.« Sie konnte den Blick ihrer Mutter nicht deuten. Es war eine Mischung aus Abscheu, Bitterkeit und Verzweiflung. Schnell fuhr sie fort: »Ich bin aber nicht gekommen, um über die Vergangenheit zu diskutieren. Mich interessiert, wie es euch ergangen ist. Warum musste Vater sterben? War er krank?«

»Er hatte einen Unfall, oben in Beechgrove«, antwortete Laura bereitwillig. »Eines der Pferde ging durch, wahrscheinlich wurde es von einem Kaninchen erschreckt. John konnte nicht mehr rechtzeitig abspringen und die Kutsche begrub ihn unter sich. Seine Beine wurden zertrümmert, und er hatte sich das Rückgrat verletzt. Der Laird und die Lady waren zwar erschüttert und bezahlten den Arzt, als jedoch klar wurde, dass John nie wieder auf dem Kutschbock würde sitzen können, war es mit ihrer Wohltätigkeit schnell vorbei. Meine Arbeit als Küchenmagd rechtfertigte nicht mehr unsere Anwesenheit in der Kutscherwohnung, und einen Invaliden wollten sie nicht durchfüttern. Also gingen wir nach Edinburgh. Ich dachte, hier würde es für John leichter sein, eine Anstellung zu finden, doch niemand wollte einen alten Mann mit zwei lahmen Beinen beschäftigen. Ich will jetzt nicht aufzählen, wo und bei wem ich die schmutzigsten Arbeiten verrichtet habe, es gelang mir aber, uns über Wasser zu halten. Wir kamen schließlich so weit zurecht, um zwei große Zimmer am Grassmarket anzumieten, aber Johns Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Ich glaube, er hatte seinen Lebenswillen verloren. Wie du weißt, war dein Vater ein Hochländer durch und durch, der die Bens und Glens liebte und die Gegend niemals verlassen wollte. Das Leben in der Stadt raubte ihm die letzten Kraftreserven. Schließlich lag er nur noch da, aß nichts mehr und sprach kein Wort. Er beschloss, lieber zu sterben, als dieses armselige Leben zu fristen. Vor zwei Wochen schloss er für immer die Augen.« Laura machte eine Pause, und Maureen wagte nicht, etwas zu sagen. Schließlich fuhr sie fort: »Nach Johns Tod musste ich die Wohnung aufgeben. Sie war viel zu groß und zu teuer für eine Person. Ich bin eine alte Frau, mir reicht dieses Zimmer, bis ich meinem Mann folgen werde.«

Erschüttert hatte Maureen zugehört. Sie empfand Mitleid, gleichzeitig jedoch wunderte sie sich über Lauras Verhalten.

»Warum hast du mir nicht früher geschrieben? Wir hätten alles getan, das in unserer Macht steht, um euch zu helfen. Mein Gott, ihr seid meine Eltern!« Maureen atmete tief durch. »Wenn es auch für Vater zu spät ist – du kannst mit uns nach England kommen.«

Lauras Blick war so verächtlich, als hätte Maureen ihr zugemutet, einen Kübel mit Mist auszulöffeln.

»Bevor ich einen Fuß nach England setze, sterbe ich lieber!«

Maureen schlug mit der Faust auf den wackligen Tisch. Ein Becher kippte um, und das Bier tropfte auf die Dielenbretter.

»Mutter, es ist schrecklich, was einst geschehen ist, aber heute regiert König George England wie auch Schottland. Daran können weder du noch ich etwas ändern. Du musst dich endlich mit den Begebenheiten abfinden und versuchen zu verzeihen. Nicht alle Engländer sind schlecht. Ich bin seit Jahren mit einem Engländer verheiratet, England ist mein Zuhause, und ich habe englische Freunde. In den Adern deiner Enkelin fließt englisches Blut. Ich habe keinen einzigen Tag des Lebens, das ich gewählt habe, bereut.«

Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber Maureen wollte Laura gegenüber nicht zugeben, wie schwer es gewesen war, in England Fuß zu fassen und mit welchen Schwierigkeiten sie noch heute zu kämpfen hatte. Das würde ihre Mutter nur in ihrer Abneigung gegen alles Englische bestätigen.

»Die Engländer sind Menschen wie du und ich«, fuhr sie etwas sanfter fort. »Sie lachen, sie weinen und sie haben Probleme – ebenso wie alle Menschen auf der Welt.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Ich sehe mal, ob die Wirtin eine anständige Flasche Schnaps für uns hat. Ich brauche jetzt etwas Stärkeres.«

Als sie nur wenig später mit einem Krug Whisky in die Kammer zurückkehrte, fand sie ihre Mutter hustend und würgend auf dem Bett. Ihr Zorn verflog. Sie kniete sich neben Laura, strich über ihren Rücken und hielt ihre Hand, bis der Anfall vorüber war.

»Das ist eine wirklich hartnäckige Erkältung«, erklärte Laura den Husten. »Ich mache mir nachher einen Umschlag aus heißen, zerstampften Kartoffeln.«

»Was meint der Arzt?« Maureen verbarg nicht ihre Sorge. Laura wich ihrem fragenden Blick aus, und in Maureen stieg ein Verdacht auf. »Du hast doch einen Arzt konsultiert?«

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Ach was, diese Quacksalber verlangen nur einen Haufen Geld und haben ohnehin keine Ahnung. Es ist nur eine harmlose Erkältung.«

Maureen gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Sie kannte diesen Husten, der sich bellend aus der Kehle rang. Viele der Arbeiter in den cornischen Zinn- und Kupferminen litten an den gleichen Beschwerden. Der jahrelange Staub, tagaus, tagein metertief unter der Erde eingeatmet, löste langsam, aber sicher die Lunge auf. Die Bedauernswerten erlitten einen qualvollen Erstickungstod. Die Angst um die Mutter griff wie eine kalte Hand nach Maureens Herz.

»Komm mit mir in das Haus in der Neustadt, dort ist es warm und gemütlich, und du kannst in aller Ruhe wieder gesund werden.«

»Niemals!«

Demonstrativ drehte Laura ihr den Rücken zu, und Maureen beschloss, es für heute gut sein zu lassen. Laura hatte sich mehr geöffnet, als Maureen es erwartet hatte.

»Ich komme wieder, Mutter, das kannst du mir nicht verbieten, und ich werde dir deine Enkelin bringen. Sie hat ein Recht darauf, dich kennenzulernen.« Den Türknauf bereits in der Hand, wandte sie sich ein letztes Mal zu ihrer Mutter um. »Vielleicht gelingt es Frederica, dein verbittertes Herz zu erwärmen. Ich kämpfte ja bis heute vergeblich dafür.«

Dieses Mal verschonte Philipp Maureen mit Vorwürfen über ihre späte Heimkehr. Er brauchte seiner Frau nur ins Gesicht zu sehen, um zu erkennen, in welch schlimmer Verfassung sie war. Stumm breitete er seine Arme aus. Maureen lehnte ihren Kopf an seine breite Brust und fühlte sich wie ein Kind, das sich verirrt hatte und nun endlich heimgekehrt war. In diesem Moment waren alle Unstimmigkeiten vergessen. Philipp war ihr Fels in der Brandung, der Mann, in den sie sich vor siebzehn Jahre verliebt hatte, den sie noch immer liebte, bedingungslos vertraute und der immer an ihrer Seite war. Auch nach all den Jahren gab Philipp ihr eine Geborgenheit, die sie um nichts auf der Welt missen wollte, auch wenn das Feuer der Leidenschaft längst verglüht war. Dafür wollte sie auch gern Lady Esther und ihre aufgeblasenen Bekannten ertragen. Maureen lächelte glücklich. Plötzlich verstand sie, warum Philipp nicht gewollt hatte, dass sie nach Schottland reiste. Er hatte sie nur schützen wollen, hatte geahnt, dass Laura sie erneut verletzten würde. Trotzdem hatte er sie begleitet und tröstete sie. Dafür liebte sie ihn, und ihr wurde bewusst, dass sie lange nicht mehr derart intensiv für ihn empfunden hatte.

Nach dem Abendessen, bei dem Frederica die innere Anspannung ihrer Mutter bemerkte und sich erstaunlich still verhielt, berichtete Maureen von der Begegnung mit Laura. Als sie geendet hatte, legte Philipp die Fingerspitzen aneinander und betrachtete seine Nägel.

»Ich kann nachvollziehen, wie enttäuscht du bist«, sagte er langsam und ohne aufzusehen. »Wenn du jedoch ehrlich zu dir selbst bist – hast du von Laura ein anderes Verhalten erwartet? Nachdem deine Eltern jahrelang nichts von sich hören ließen, nicht auf deine zahlreichen Briefe geantwortet haben ... Überhaupt, wenn man das Verhalten deiner Mutter während deiner Kindheit betrachtet, so kommt ihre heutige Zurückweisung nicht überraschend für dich, oder?«

Stumm schüttelte Maureen den Kopf, denn sie brachte kein Wort hervor. Die Tränen schnürten ihr die Kehle zu, sie konnte aber nicht weinen. Die Jahre der Trennung hatten nichts verändert, Laura empfand heute nicht mehr Liebe als früher für sie. Ihr Vater war tot, gestorben an gebrochenem Herzen über den Verlust seiner Heimat und vielleicht auch vor Sehnsucht nach seiner einzigen Tochter. Maureen wünschte sich, einmal richtig weinen zu können. Das würde ihr Erleichterung verschaffen, aber es drang nicht mehr als ein trockenes Schluchzen aus ihrer Kehle. Trotz allem, was heute vorgefallen war – Laura war und blieb ihre Mutter, und sie würde Schottland nicht ohne sie wieder verlassen.

Zu Maureens großer Freude verlief die erste Begegnung zwischen Frederica und ihrer Großmutter überraschend harmonisch. Sie hatte Frederica über die Umstände, unter denen Laura lebte, aufgeklärt, und auch wenn das Mädchen entsetzt war, ließ sie sich nichts anmerken. Zu dritt saßen sie an dem wackligen Tisch – Maureen hatte sich aus der Schenke einen Stuhl ausgeliehen – tranken heißen Tee, den Maureen mitgebracht hatte, und Frederica plauderte unbeschwert und erzählte von Trenance Cove. So verschlossen und hart war Lauras Herz doch nicht, als dass sie ihre Enkelin abweisend behandelt hätte. Maureen kam aus dem Staunen nicht heraus, als Laura gezielte Fragen nach ihrem Heim und nach Cornwall stellte, die Frederica bereitwillig beantwortete. Allerdings verspürte Maureen auch ein wenig Bitterkeit, denn eine solche Unterhaltung mit ihrer Mutter hätte sie selbst gewünscht. Sie verbot sich aber Eifersucht, war stattdessen dankbar, ihre Mutter und ihre Tochter in einer solchen Harmonie zu erleben.

Nach einer Stunde drängte Maureen zum Aufbruch, denn sie bemerkte, wie der Besuch Laura erschöpfte. Frederica wäre gern noch länger geblieben, daher fragte sie, als sie Laura die Hand gab: »Ich darf doch wiederkommen?«

Laura nickte. »Gern, mein Kind, aber ich glaube, ihr werdet bald nach England zurückkehren.« Fragend sah sie zu Maureen.

»Wir haben keine Eile«, antwortete Maureen mit leicht gerunzelter Stirn. Sie konnte sich nicht erinnern, von Laura jemals mein Kind genannt worden zu sein. Wie konnte es möglich sein, dass Frederica Lauras Herz offenbar erobert hatte, und ihr selbst war es niemals gelungen? »Ich werde so lange in Schottland bleiben, wie du mich brauchst«, fuhr sie schnell fort. »Oder bis du einwilligst, uns in den Süden zu begleiten.«

Lauras Blick verdüsterte sich, sie schwieg jedoch. Hielt sie sich wegen Frederica zurück? Maureen wusste nicht, was in ihrer Mutter vor sich ging. Sie hatte sie noch nie verstanden. Einen Moment verspürte sie den Drang, so schnell wie möglich wieder abzureisen, aber sie konnte nicht einfach wieder davonlaufen, wie sie es als junges Mädchen getan hatte. Selbstverständlich würde sie sich um Laura kümmern und sich auch mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, auch wenn Laura es ihr nicht leicht machen würde. Am meisten wünschte sich Maureen, dass Laura sich überwinden und Philipp die Hand reichen würde. Sie, Maureen, würde dazu nicht viel beitragen können, aber vielleicht vermochte Frederica, dieses Wunder geschehen zu lassen.

Die nächsten zwei Wochen verliefen in gleichförmiger Monotonie. Frederica hatte sich mit einer Nachbarstochter angefreundet. Die Baines bewohnten ebenfalls ein Haus am Charlotte Square, im Winter zogen sie auf ihren Landsitz in der Nähe von Kelso, da es dort milder als in Edinburgh war. Mrs Baines hatte Maureen bald zum Tee eingeladen, so hatten sich die Familien kennengelernt. Sie war eine freundliche Dame, mit der sich gut plaudern ließ. Maureen war dankbar, dass Frederica ihre neue Freundin jederzeit besuchen durfte, denn sie selbst verbrachte so viel Zeit wie möglich bei ihrer Mutter und konnte sich in dieser Zeit nicht ausreichend um ihre Tochter kümmern.

Maureen gegenüber verhielt sich Laura nach wie vor reserviert, aber nicht mehr so unfreundlich wie bei ihrer ersten Begegnung auf dem Friedhof. Frederica hatte ihre Großmutter noch ein paar Mal besucht, zog es jetzt jedoch vor, sich lieber mit der gleichaltrigen Linda Baines die Zeit zu vertreiben. Maureen verstand, dass ein junges Mädchen nicht tagaus, tagein am Bett einer alten, kranken Frau sitzen mochte.

»Wenn sie wenigstens von früher erzählen würde«, sagte Frederica und seufzte verhalten. »Ich würde gern etwas über das Leben im Hochland erfahren, aber immer, wenn ich sie frage, dann sieht sie mich an, als würde sie mich gar nicht bemerken. Ich weiß dann gar nicht, ob sie mir überhaupt zugehört hat. Dabei war sie zuerst so freundlich zu mir.«

»Deiner Großmutter geht es nicht gut, Frederica«, versuchte Maureen Lauras Verhalten zu erklären. »Sie muss sich schonen, denn das Sprechen strengt sie an. Es hat nichts mit dir zu tun.«

Maureen und Laura sprachen ebenso wenig über die Vergangenheit, wie Laura sich über die Zukunft äußerte. Der Herbst war nicht mehr fern, und Maureen machte sich ernsthafte Sorgen. Der Husten ihrer Mutter hatte sich mit den fallenden Temperaturen verschlimmert, und sie hoffte, Laura würde endlich zustimmen, ihr restliches Leben im klimatisch angenehmeren Cornwall zu verbringen. Philipp gegenüber hatte sie davon noch nichts erwähnt, denn sie befürchtete seine Ablehnung. Sie konnte ihre kranke Mutter aber unmöglich während der kalten, stürmischen Monate in Schottland zurücklassen.

An einem regnerischen Tag machte Maureen einen neuen Versuch, ihre Mutter zu überzeugen, mit ihnen zu gehen, zumal Philipp ihre baldige Abreise angedeutet hat. Zur Parlamentseröffnung im November musste er spätestens wieder in London sein.

»Mutter, der Winter kommt bald. Du kannst in diesem Loch nicht bleiben. Bitte, komm mit uns nach Cornwall! Die Wintermonate sind dort mild, nur selten gibt es Frost oder Schnee. Du wirst sehen, in wenigen Wochen bist du wieder gesund.«

Lauras Miene verschloss sich, zwei steile Falten zogen sich von den Mundwinkeln zu ihrem Kinn. Sie wandte den Kopf zur Seite und schüttelte ihn stumm. Ebenso hartnäckig weigerte Laura sich, einen Arzt zu konsultieren. Schließlich wusste sich Maureen keinen anderen Rat, als Philipp zu bitten, einen guten Mediziner zu finden und diesen zu Laura zu bringen. Philipp hörte sich um, und Mr. Baines empfahl einen Arzt, der in der Nähe des Charlotte Square seine Praxis betrieb. Es handelte sich um einen Schotten, der sich aber auch bei den Engländern einen guten Ruf als kompetenter Arzt erworben hatte. Philipp vereinbarte, ihn am folgenden Mittag mit der Kutsche abzuholen. Gemeinsam mit Maureen fuhren sie in die Altstadt und betraten die heruntergekommene Schenke. Entsetzt zog der Arzt die Luft ein, und während er die schmale Stiege zu Lauras Zimmer hinaufstieg, schüttelte er irritiert den Kopf.

»Ich weiß ja nicht, was feine Leute wie Sie mit armen Menschen zu schaffen haben.« Er rümpfte die Nase und zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. »Normalerweise begebe ich mich nicht in eine solche Umgebung.«

Philipp lächelte freundlich und verzichtete auf eine Antwort. Er würde den Arzt großzügig entlohnen, also sollte er seine Pflicht tun und keine Fragen stellen.

Nach anfänglichem Sträuben erklärte sich Laura bereit, sich untersuchen zu lassen. Sie bestand aber darauf, mit dem Arzt allein zu sein. Maureen und Philipp warteten in der schummrigen Schankstube, tranken dunkles Bier und ignorierten die verwunderten Blicke der anderen Gäste. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Arzt herunterkam und sich an ihren Tisch setzte. Mit gerunzelter Stirn sah er von Maureen zu Philipp.

»Die Frau ist todkrank«, kam er ohne Umschweife zur Sache. »Ihre Lunge ist vollkommen zerstört. Mit jedem Hustenanfall zersetzt sie sich weiter. Mrs Mowat weiß über ihren Zustand Bescheid, sie ahnt schon länger, dass ihre Zeit abgelaufen ist.«

Maureen schlug sich eine Hand vor den Mund.

»Oh, nein! Ich dachte nicht, dass es so schlimm um sie steht. Kann man denn gar nichts dagegen tun?«

Der Arzt war über ihre Reaktion irritiert.

»Leider nicht. Unter dieser Krankheit leiden die meisten Arbeiter der Kohlengruben in diesem Land. Ich denke aber nicht, dass die Frau da oben«, er deutete mit dem Daumen zur Zimmerdecke, »jemals in ihrem Leben in einem Bergwerk gearbeitet hat, oder?«

Maureen schüttelte den Kopf, und Philipp erklärte knapp:

»Sie hat ein arbeitsreiches Leben voller Entbehrungen hinter sich. Gibt es denn gar keine Medizin zur Heilung?«

»Es tut mir leid, aber bislang ist nichts dergleichen bekannt. Ich werde Ihnen aufschreiben, welche Säfte die Schmerzen lindern und die Hustenanfälle vorübergehend verringern können. Bald kommt der Winter, und dieses zugige Zimmer ... Ich glaube nicht, dass sie das Frühjahr noch erleben wird.«

»Und wenn wir sie von hier fortbringen?«, warf Maureen ein. »Irgendwohin, wo das Klima milder und angenehmer ist?«

Der Arzt brauchte für seine Antwort nicht lange zu überlegen.

»Vielleicht würde das ihr Leben um ein, zwei Monate verlängern, eine Heilung ist ausgeschlossen. Erlauben Sie mir bitte eine Frage: Warum kümmern Sie sich um diese alte Frau? Sie sind doch offensichtlich Angehörige der Oberschicht und – verzeihen Sie meine Offenheit – es bestimmt nicht gewohnt, sich in düsteren Schenken wie dieser aufzuhalten.« Er neigte sich über den Tisch, und seine kleinen Augen funkelten vor Neugierde. »Welches Interesse haben Sie an der Frau?«

»Das ist unsere Angelegenheit«, antwortete Philipp kühl. »Wir danken Ihnen für Ihre Bemühungen. Was bin ich Ihnen schuldig?«

Der Arzt nannte einen Betrag, der Maureen unangemessen hoch erschien, Philipp zückte jedoch ohne zu zögern seine Börse und legte die entsprechenden Münzen auf den Tisch. Der Arzt griff schnell nach dem Geld und ließ es in seiner Manteltasche verschwinden. In einer solchen Umgebung war es besser, niemanden merken zu lassen, dass man Geld mit sich führte. Mit einem kurzen Gruß erhob er sich. Bevor er den Schankraum verließ, wandte er sich noch einmal um und schüttelte verständnislos den Kopf.

Maureen lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie versuchte, sich das eben Gehörte zu vergegenwärtigen und ihre Gedanken, die wie ein Sturmwind durch ihren Kopf wirbelten, zu ordnen. Ihre Mutter würde in absehbarer Zeit sterben. Kurz nach dem Tod des Vaters sollte sie nun auch die Mutter verlieren. In den letzten siebzehn Jahren hatte Laura in ihrem Leben zwar keine Rolle gespielt, jetzt hatte es aber so ausgesehen, als wäre eine langsame Annäherung möglich. Sollte das nun so rasch wieder ein Ende haben? Sie erschrak angesichts dieser Vorstellung.

»Glaubst du, dass dieser Quacksalber recht hat?«, fragte sie leise. »Es war ihm offensichtlich unangenehm, eine arme Frau zu untersuchen. Vielleicht hat er sich gar nicht die Mühe gemacht, eine zutreffende Diagnose zu stellen.«

»Er ist der Hausarzt der Baines, und sie sind mit ihm sehr zufrieden«, gab Philipp zu bedenken. »Ich bin aber gern bereit, den Rat eines weiteren Arztes einzuholen.«

Maureen legte ihre Hand auf seinen Ärmel und sah ihren Mann liebevoll an.

»Danke, Philipp, dass du das für meine Mutter tust. Ich würde es verstehen, wenn dir ihr Wohlergehen gleichgültig wäre.«

»Ach was.« Beschämt winkte Philipp ab. »Auch ich habe schon etwas von christlicher Nächstenliebe gehört. Außerdem tu ich es für dich. Wie soll es jetzt weitergehen?«

»Wir müssen mir ihr sprechen«, sagte Maureen und erhob sich. »Wenn sie weiß, wie es um sie steht, können wir sie vielleicht endlich davon überzeugen, mit uns nach Cornwall zu kommen.«

Maureen hatte vor einigen Tagen über ihr Vorhaben, Laura nach Cornwall mitzunehmen, mit Philipp gesprochen. Wie erwartet hatte Philipp wenig erfreut, aber nicht ablehnend reagiert. Er sah die Sorge Maureens und erkannte die Notwendigkeit, Laura aus Schottland in ein milderes Klima zu bringen.

»Trenance Cove ist groß genug, dass Laura ihre eigenen Räume bewohnen könnte«, hatte er gesagt. »Wenn es dir so sehr am Herzen liegt, deine Mutter bei uns aufzunehmen, dann bin ich damit einverstanden.« Obwohl ich nicht weiß, wie ich das Lady Esther erklären soll, fügte er in Gedanken hinzu.

Für diese Antwort hatte Maureen ihn zärtlich geküsst. Welche Frau konnte sich schon glücklich schätzen, einen solch verständnisvollen Mann an ihrer Seite zu haben?

Kerzengerade aufgerichtet saß Laura auf dem Stuhl und sah mit unbewegter Miene Maureen und Philipp an. Abwehrend hob sie beide Hände und sagte: »Bloß keine Tränen, wir sind schließlich erwachsene Menschen.« Ihre Lippen verzogen sich, sie bemühte sich um ein Lächeln, das gründlich misslang. »Irgendwann müssen wir alle sterben, und es gibt auf dieser Welt nichts mehr, was mich hält.«

»Mutter, ich kann dich nur erneut darum bitten, uns nach Cornwall zu begleiten. Dort wird es dir besser gehen, und ich kann mich Tag und Nacht um dich kümmern.«

Resigniert zuckte Laura mit den Schultern.

»Schottland ist meine Heimat. Hier bin ich geboren und hier werde ich mein Leben beschließen. Das Thema ist für mich endgültig erledigt, und ich möchte niemals wieder ein Wort darüber verlieren.«

In diesem Moment wusste Maureen, dass es nichts gab, was ihre Mutter noch umstimmen könnte. Laura hatte ihre Entscheidung getroffen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als diese zu akzeptieren.

»Können wir noch etwas für Sie tun?«, erkundigte sich Philipp. »Selbstverständlich werden wir dafür sorgen, dass Sie alle Medizin erhalten werden, die Ihre Beschwerden lindern können.«

»Das ist sehr großzügig, vielen Dank.« Laura rang sich Philipp gegenüber sogar ein Lächeln ab.

Von tiefer Zuneigung überwältigt, kniete sich Maureen vor ihre Mutter und legte die Stirn in deren Schoß.

»Aber wir können dich doch nicht allein lassen.«

Sie spürte die harte, knochige Hand auf ihrem Haar, eine Geste, die sie von Laura niemals erwartet hatte.

»Gott hält alles in seiner Hand. Es geschieht immer alles nach seinem Willen.« Sie strich Maureen über den Kopf. »Es gibt allerdings wirklich etwas, das ihr für mich tun könnt.«

Maureen hob den Kopf. »Alles, was du willst!«

»Es ist keine kleine Bitte, und ich weiß nicht, ob ich euch das zumuten kann.« Sie zögerte für einen Moment. »Ich möchte gern auf dem Friedhof von Degnish begraben werden.«

»Degnish?« Philipp trat einen Schritt vor. »Wo liegt denn das?«

»An der Westküste. In der Nähe von …« Ein erneuter Hustenanfall schüttelte Lauras schmächtigen Körper. Maureen und Philipp griffen ihr unter die Arme, trugen sie zum Bett, legten sie hin und deckten sie behutsam zu. Maureen warf Philipp einen flehenden Blick zu.

»Was können wir nur tun?«

Philipp war genauso ratlos wie sie. So standen sie schweigend am Bett, bis der Anfall vorüberging und Laura in einen unruhigen Schlummer fiel.

»Degnish …«, wiederholte Maureen flüsternd, um ihre Mutter nicht zu wecken. »Ich habe den Namen noch nie zuvor gehört.«

Philipp zuckte mit den Schultern. »Vielleicht stammt sie von dort?«

»Meine Eltern haben mir nie darüber gesprochen, wo sie vor meiner Geburt gelebt haben. Ich bin immer davon ausgegangen, sie stammen aus der Gegend um Tomnavoulin, wo ich geboren wurde.«

Es blieb Maureen und Philipp nichts anderes übrig als abzuwarten, bis es Laura wieder besser gehen und sie Einzelheiten erzählen konnte.

Gegen Abend brachte der Wirt einen Topf mit einer dicken und herzhaften Kartoffelsuppe. Mit den entsprechenden Münzen hatte Philipp dafür gesorgt, dass Laura einmal täglich eine warme, kräftige Mahlzeit erhielt. Missmutig stellte der Wirt den Topf auf den Tisch. Das Geld nahm er zwar gerne, musste er deswegen gleich die Frau bedienen? Seltsame Leute waren das, die seit Wochen hier ein- und ausgingen. Engländer … Was die wohl mit der armen Frau zu schaffen hatten? Einmal hatte er versucht, an der Tür zu lauschen, aber diese englische Lady schien durch Wände sehen zu können. Sie hatte ihn verjagt und ihm sogar gedroht, sollte er es noch einmal versuchen. Der Wirt würde froh sein, wenn sie wieder verschwunden waren.

Laura war von ihrem letzten Anfall sichtlich geschwächt, löffelte die Suppe aber mit großem Appetit. Nachdem sie einen Teller geleert hatte, wiederholte sie ihre Bitte.

»Ich habe euch mit meinem Anliegen verwirrt«, sagte sie. »Vielleicht wird man sentimental, wenn man den Tod so dicht vor Augen hat. Auf jeden Fall sehne ich mich danach, in Degnish meine letzte Ruhestätte zu finden, dort, wo meine Wurzeln sind. Das Dorf liegt an der Westküste, einige Meilen südlich von Oban, direkt am Loch Melfort.«

»Du hast mir nie von diesem Ort erzählt«, sagte Maureen vorwurfsvoll.

»Warum hätte ich das tun sollen? Ich hatte vor, zu meinen Lebzeiten niemals nach Degnish zurückzukehren.«

»Ihr Mann ist hier in der Stadt begraben«, gab Philipp zu bedenken. »Möchten Sie nicht an seiner Seite ruhen?«

Laura schüttelte den Kopf.

»John würde meinen Wunsch verstehen. Einst haben wir gemeinsam den Loch Melfort verlassen, und er hat seine Heimat ebenso wenig wie ich jemals vergessen.«

»Wenn Vater ebenfalls von dort stammt, dann liegen am Loch Melfort auch meine Wurzeln«, sagte Maureen. »Warum habt ihr mit mir niemals darüber gesprochen? Weshalb habt ihr mich in dem Glauben gelassen, ihr hättet immer in den Grampiens gelebt? Gibt es noch Verwandte an der Westküste?«

»Ich kann dir sagen, warum ich nie darüber gesprochen habe: Weil ich, nachdem ich fortgegangen war, keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern hatte und diesen auch nie wieder wollte.«

»Das scheint bei euch in der Familie zu liegen«, entfuhr es Philipp, Laura reagierte nicht auf seine Bemerkung.

»Ich weiß gar nicht, ob meine Eltern noch leben«, fuhr sie fort. »Wahrscheinlich nicht, und es ist mir auch gleichgültig. Trotzdem ist meine Heimat der schönste Platz auf der Welt.«

»Wenn du dich kräftig genug fühlst, können wir gemeinsam an die Westküste reisen. Noch zeigt sich der Herbst von seiner schönen Seite, und die Straßen sind gut befahrbar«, schlug Maureen vor.

»Nein!« Das Wort war ein lauter Schrei. »Erst nach meinem Tod! Keinen Tag eher!« Sie atmete tief durch. »Ich dachte mir, ihr könnt einen zuverlässigen Rechtsanwalt beauftragen, der sich, wenn meine Zeit gekommen ist, darum kümmern wird, dass meine armseligen Überreste nach Degnish kommen. Ich weiß, es ist viel verlangt und ihr habt keinen Grund, mir diese Bitte zu erfüllen, so ablehnend wie ich besonders dir, Philipp, begegnet bin. Ich würde verstehen, wenn ihr mich einfach meinem Schicksal überlassen würdet.«

»Aber Mutter!« Maureen fasste nach Lauras Hand und drückte sie fest. »Deinen letzten Wunsch werden wir selbstverständlich respektieren und erfüllen. Beantworte mir aber bitte noch eine letzte Frage: Wie lautete dein Name, bevor du Vater geheiratet hast? Wie die Namen meiner Großeltern?«

Laura zögerte, und Maureen erwartete bereits, dass sich Laura weigern würde, den Namen preiszugeben, doch dann gab sie sich einen Ruck.

»McCorkindale, aber ich möchte niemals wieder mit diesem Namen in Verbindung gebracht werden. Auf meinem Grabstein soll ganz schlicht Laura stehen, mehr nicht!«

Im Schatten der Vergeltung

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