Читать книгу Im Schatten der Vergeltung - Rebecca Michéle - Страница 5
3. Kapitel
ОглавлениеNachdem sie Laura verlassen und in das Haus am Charlotte Square zurückkamen, war Maureen erleichtert, dass Frederica bereits schlief. Lauras Eröffnung über den Bruch mit ihren Eltern hatte sie aufgewühlt, und sie wollte in Ruhe ihre Gedanken ordnen. Schnell zog sie ihren Mantel aus und ging in den Salon. Philipp folgte ihr, schenkte zwei Gläser Wein ein, reichte eines Maureen, dann setzten sie sich vor den Kamin, in dem Jenny bereits ein Feuer entzündet hatte. Auch Philipp hatte während der Fahrt von der Altstadt bis hierher kein Wort gesprochen. Nachdenklich starrte er in die Flammen.
»McCorkindale ...«, murmelte er. »Wo habe ich diesen Namen schon einmal gehört?«
Maureen zuckte die Achseln.
»Es ist wahrscheinlich ein gängiger schottischer Name, so wie MacDonald, Fraser oder Cameron.«
Philipp schüttelte den Kopf.
»Nein, ganz im Gegenteil, Maureen. McCorkindale ist ein eher seltener Name, deswegen ist er mir ja im Gedächtnis geblieben. Es ist schon lange her, aber da gab es mal einen Vorfall ... damals, als ich in Schottland stationiert war.« Er machte eine Pause. »Ich bekomme es nicht mehr zusammen, aber ich kann versuchen, im Stadtarchiv nachzuschlagen. Auch in Schottland ist wie bei uns in England jeder Grundbesitz mit den jeweiligen Eigentümern eingetragen. Das Zentralregister befindet sich bestimmt hier in der Hauptstadt.«
»Das würdest du tun? Maureen schenkte ihm ein dankbares Lächeln. »Kannst du auch herausfinden, ob jemand der McCorkindales noch lebt? Es ist ein seltsames Gefühl zu erfahren, dass man vielleicht noch Großeltern oder weitere Verwandte haben könnte.«
Philipp nickte, dann schwieg er, starrte wieder ins Feuer, bis er schließlich leise sagte: »Maureen, bei allem Verständnis für die Krankheit deiner Mutter, wir müssen an unsere Heimreise denken. Du hast alles getan, was möglich ist, gegen Lauras Starrsinn kommst du aber nicht an. Sie ist entschlossen, in Schottland zu bleiben, das müssen wir akzeptieren. Ich bin bereit, noch ein, höchstens zwei Wochen zu warten. Das gibt mir genügend Zeit, um mit einem Anwalt die Formalitäten zu regeln, damit Laura nach ihrem Tod in ihre Heimat überführt wird. Sobald das erledigt ist, müssen wir nach Hause zurückkehren.«
Gedankenverloren sah Maureen in ihr Weinglas. Philipp hatte recht, trotzdem war ihr bei dem Gedanken, die Mutter krank und hilflos zurückzulassen, unwohl. Sie war hin- und hergerissen zwischen zwei Pflichtgefühlen: Auf der einen Seite gehörte sie zu Philipp und besonders zu Frederica, aber sie konnte Laura auch nicht einfach im Stich lassen. Was sollte sie nur tun?
In dieser Nacht fand Maureen keinen Schlaf. In den letzten Tagen hatte sie sich ihrer Mutter näher gefühlt als jemals zuvor in ihrem Leben. Maureen spürte, dass der Panzer um Lauras Herz zu bröckeln begann. Die Vorstellung, ihrer Mutter in den letzten Stunden nicht beistehen zu können, schmerzte Maureen mehr, als sie jemals gedacht hatte. Auf jeden Fall musste sie für Laura eine andere Unterkunft und außerdem eine geeignete Pflegerin suchen, die sich um sie kümmerte. Diese Gewissheit entband Maureen zwar nicht von der Sorge um ihre Mutter, beruhigte sie jedoch ein wenig. Laura war eine erwachsene Frau, und Maureen konnte sie nicht zwingen, mit ihnen zu kommen. Sie musste auch an Frederica denken, die nach Hause wollte, denn die Baines würden die Stadt in einigen Tagen verlassen. Für ein junges Mädchen gab es hier nur wenig Zerstreuung, und wenn Maureen sich um ihre Mutter kümmerte, würde Frederica sich selbst überlassen sein.
Maureen und Frederica saßen bei einem späten Frühstück, als Philipp, der das Haus bereits bei Sonnenaufgang verlassen hatte, das Zimmer betrat. Das neblig-kalte Herbstwetter lockte weder zu einem Spaziergang noch zu einem Einkaufsbummel, und Maureen spürte Fredericas zunehmende Langeweile. Philipp hauchte Maureen einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, strich seiner Tochter über die Wange und setzte sich.
»Meine Erinnerung an den Namen McCorkindale hat mich nicht getäuscht. Ich war heute Morgen bei der Stadtverwaltung und habe tatsächlich einen Eintrag über Bothy Castle bei Degnish gefunden. Als Eigentümer ist ein Archibald McCorkindale angegeben, ein mittlerweile recht betagter Mann, aber er lebt offenbar, zumindest noch vor ein paar Wochen, als die letzte Zahlung der Pacht fällig war.«
»Mac was?«, warf Frederica kauend ein.
»McCorkindale. Das ist der Vater deiner Großmutter, also der Großvater deiner Mutter und folglich dein Urgroßvater«, erklärte Philipp und lächelte Frederica zärtlich an.
»Und wo lebt er? Werden wir ihn auch besuchen?«
»Möchtest du nicht bei Linda Baines vorbeischauen?«, wechselte Maureen das Thema. »Du kannst ihr sicher beim Packen helfen.«
»Keine Lust, Mama«, erwiderte Frederica. Ihre Neugierde war geweckt worden. Laura, ihre Großmutter, die dem Mädchen unglaublich alt erschien, besaß tatsächlich noch einen Vater. Der musste ja steinalt sein! Frederica rührte sich nicht vom Fleck und sah ihre Mutter erwartungsvoll an.
»Komm schon, Maureen«, sagte Philipp, als er merkte, dass seine Frau in Gegenwart von Frederica nicht sprechen wollte. »Unsere Tochter ist alt genug, um die Wahrheit zu erfahren.« Er schenkte sich in aller Ruhe eine Tasse Kaffee ein, bevor er preisgab, was seine Nachforschungen noch ergeben hatten. »Archibald McCorkindale war zu Zeiten des alten Clansystems ein sehr vermögender und mächtiger Mann. Er herrschte zwar nur über ein verhältnismäßig kleines Gebiet, das im Westen an die Irische See grenzt, unter den Clanchiefs hatte sein Wort aber Gewicht. Der Besitz liegt wie eine Enklave im Hoheitsgebiet der Campbells. Daher kam mir der Name auch bekannt vor, denn ich war längere Zeit in Fort Augustus stationiert. Ältere Offiziere erzählten von einem durchtriebenen Schotten, der es angeblich geschafft hatte, die gesamte englische Armee hinters Licht zu führen. Nach der Schlacht bei Culloden wurden Listen mit den Namen der Clanführer, die nicht auf dem Schlachtfeld gestorben waren veröffentlicht, und der Name Archibald McCorkindale stand ganz weit oben. Man hatte ihm nachweisen können, dass der verräterische Prätendent in seinem Haus genächtigt hatte und McCorkindale seine Finger bei dessen Flucht im Spiel gehabt hatte. Der Schotte sollte dafür verhaftet und vor Gericht gestellt werden, plötzlich konnte er jedoch nachweisen, ein treuer Anhänger von König George zu sein. Er leugnete ebenso jegliche Beziehungen zu Charles Edward Stuart wie auch eine Beteiligung an den Aufständen. Es gelang ihm, sich von allen Anschuldigungen reinzuwaschen. Wie er das bewerkstelligte, wurde niemals geklärt. Auf jeden Fall wurde die Anklage gegen Archibald McCorkindale fallen gelassen, und er lebt noch heute unbehelligt in seiner Burg am Rande des Loch Melfort.«
»Dann habe ich tatsächlich noch einen Großvater«, stellte Maureen verblüfft fest.
»Sofern Laura nicht gelogen hat, und sie wirklich die Tochter von Archibald McCorkindale ist. Schau mich nicht so entsetzt an, Maureen! Ich kann deiner Mutter einfach nicht trauen.«
»Du hast keinen Grund, an den Worten meiner Mutter zu zweifeln«, entgegnete Maureen erstaunt. »Sie verhält sich zwar nicht immer höflich, warum hätte sie uns aber den Namen McCorkindale nennen sollen, wenn dieser nicht ihr Vater wäre?«
»Ganz einfach, meine Liebe, weil McCorkindale einst ein angesehener Clanführer war und Bothy Castle ein herrschaftlicher Besitz«, erklärte Philipp. »Sollte Laura wirklich seine Tochter sein, dann stammt sie aus einem weitaus älteren Adelsgeschlecht als die Trenance und ist damit unserer Familie um einiges überlegen, auch wenn die schottischen Adligen ihre Rechte verloren haben. Du erlaubst, dass ich diese Vorstellung zunächst einmal in Zweifel ziehe.«
»Kann das denn möglich sein?«, flüsterte Maureen mit kalkweißem Gesicht. »Warum hat meine Mutter darüber immer geschwiegen?«
Frederica rutschte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her. Es war ihr schwergefallen, der Unterhaltung schweigend zu folgen, jetzt platzte sie heraus: »Ich kenne kein anderes Mädchen, das noch einen Urgroßvater hat. Wann besuchen wir ihn?«
Maureen hob abwehrend die Hände.
»Meine Mutter wird ihre Gründe haben, warum sie mir ihre Familiengeschichte verheimlichte. Ich muss erst noch einmal in Ruhe mit ihr sprechen. « An Philipp gewandt fuhr sie fort. »Kaum zu glauben, dass meine Mutter keineswegs ein armes Bauernmädchen war, für das sie gehalten wurde. Jetzt verstehe ich, warum ich immer dachte, sie wäre etwas Besonderes und sie passe nicht in die Kammer über den Stallungen. Obwohl alles um sie herum verkommen und schmutzig war, machte Laura immer den Eindruck, als wäre sie ... eine Lady.« Sie seufzte und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »Sie muss eine hervorragende Erziehung genossen haben und doch führte sie dieses ärmliche Leben an der Seite meines Vaters.«
»Also, ich finde das sehr romantisch«, warf Frederica ein. »Wahrscheinlich hat sich Großmutter in einen einfachen Stallburschen verliebt, der nicht standesgemäß war, und ist mit ihm durchgebrannt. Sie ist einfach ihrem Herzen gefolgt, so wie auch du, Mama. Ich muss Großmutter unbedingt fragen, welch aufregende Abenteuer sie erlebt hat.«
Sie zwinkerte ihrer Mutter keck zu, und Maureen wusste, dass Frederica auf George Linnley und ihre Drohung anspielte, jederzeit mit ihm durchzubrennen, sollten sich die Eltern weiter gegen eine Heirat stellen.
Philipp lachte und strich Frederica übers Haar.
»Mein kleines Mädchen, überall vermutest du eine Romanze. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Laura aus Liebe zu einem Mann alles im Stich gelassen hat und ihm in die Armut gefolgt ist.«
Maureen stimmte Philipp zu. In ihrer Erinnerung waren ihre Eltern zwar höflich und freundlich miteinander umgegangen, von großer Liebe oder gar Leidenschaft hatte sie jedoch niemals etwas bemerkt. Laura war immer unnahbar gewesen und hatte nie jemanden an sich herangelassen. Weder ihre Tochter noch ihren Ehemann.
»Ich werde versuchen, mit ihr über Archibald McCorkindale zu sprechen«, sagte sie bestimmt.
»Dabei wünsche ich dir viel Glück. So, wie ich Laura kenne, wird sie wie immer schweigen«, erwiderte Philipp zweifelnd.
Auch dieses Mal sollte Philipp sich nicht geirrt haben. Maureen besuchte ihre Mutter am frühen Nachmittag desselben Tages. Nach einem gemeinsamen Gang zum Friedhof saßen sie in der kleinen, muffigen Kammer und tranken Tee. Als Maureen das Gespräch auf McCorkindale brachte, nahm Lauras Blick den für sie typischen abweisenden Ausdruck an. Sie sah an Maureen vorbei und sagte scharf: »Ich bat dich einzig und allein um den Gefallen, mich in Degnish beisetzen zu lassen. Wenn ich gewusst hätte, dass dein Mann ausschweifende Nachforschungen anstellt, hätte ich den Wunsch niemals geäußert.«
Hektische rote Flecken bildeten sich auf ihren Wangen, die sich von ihrer sonst fahlen Haut abhoben. Für einen Moment bereute Maureen, das Thema angeschnitten zu haben, denn es regte Laura offenbar sehr auf, und Maureen befürchtete einen erneuten Hustenanfall. Trotzdem war sie nicht bereit, Lauras Starrsinn nachzugeben. Schließlich ging es hier auch um ihre Familie! Sie wollte endlich wissen, wo ihre Wurzeln lagen.
»Findest du nicht, dass ich ein Recht darauf habe, zu erfahren, was für Menschen meine Großeltern waren, und warum du mir niemals von ihnen erzählt hast? Warum hast du Bothy Castle verlassen und ein Leben gelebt, dass deiner nicht würdig war?«
»Das geht dich nichts an!«, rief Laura. Sie wirkte plötzlich sehr stark, als würde diese Sache alle ihre Kräfte mobilisieren. Im Dämmerlicht des trüben Nachmittags funkelten Lauras Augen wie zwei glühende Kohlen. »Ich kann mich nicht erinnern, dich gebeten zu haben, nach Schottland zu kommen und dich in mein Leben einzumischen! Ach, hätte ich diesen Brief doch niemals geschrieben! Hätte ich nie wieder Kontakt zu dir aufgenommen. Weißt du was, Tochter? Vergiss die ganze Sache! Man soll meine Überreste einfach auf irgendeinem Friedhof verscharren. Was kümmert es mich, wo mein Leib vermodert!«
»Mutter!« Maureen musste sich beherrschen, um Laura nicht anzuschreien, denn auch ihre Geduld hatte Grenzen. »Selbstverständlich werden Philipp und ich dafür sorgen, dass du in deiner Heimat begraben wirst.« Sie sah Laura eindringlich an, die mit verstockter Miene vor sich hin starrte. »Also gut, wenn du mir nichts über McCorkindale sagen willst – was ist mit deiner Mutter? Ist sie der Grund, warum du so hart geworden bist?«
»Du bist ungerecht!«, schleuderte ihr Laura entgegen. »Ich habe stets meine Pflichten als Mutter dir gegenüber erfüllt. Oder hast du jemals hungern müssen? John und ich haben hart gearbeitet, damit es dir gut geht.«
Mit einem Ruck schob Maureen ihren Stuhl nach hinten, dass die Beine über die Dielen kratzten, stand auf und ging zum Fenster. Sie war mit ihrem Latein am Ende und kurz davor zu resignieren. Ohne sich umzudrehen, sagte sie leise: »Es ging mir wohl besser als vielen anderen Kindern in dieser Zeit. Wir hatten immer genügend zu essen, und ich durfte an den Unterrichtsstunden im Herrenhaus teilnehmen, aber oft habe ich mir gewünscht, statt eines Tellers Haferbrei eine Umarmung von dir zu bekommen. Dafür wäre ich liebend gern hungrig zu Bett gegangen.«
»Das sagt du nur, weil du nie erfahren hast, was Hunger wirklich bedeutet.«
»Ich will nicht behaupten, dass du dich nicht bemüht hast«, fuhr Maureen fort und sah weiter in den dichten Nebel, der die Royal Mile in ein diffuses Licht tauchte. »Durch Frederica weiß ich aber, was es bedeutet, sein Kind über alles zu lieben und sich in jeder Sekunde um sein Wohlergehen zu sorgen. Es zerreißt mir beinahe das Herz, wenn Frederica krank ist oder Kummer hat. Mein ganzes Denken und Bestreben ist einzig und allein darauf ausgerichtet, meine Tochter vor jeglichen Gefahren und Leid dieser Welt zu beschützen. Das sind Gefühle, die du mir gegenüber niemals gezeigt hast. Vergessen wir jedoch diese Zeit. Das Einzige, was ich heute von dir möchte, ist, zu erfahren, wo ich herkomme.« Sie drehte sich um und ließ Laura nicht aus den Augen. »Jeder Mensch ist ein Zweig eines großen Familienbaumes, und wenn man weiß, wo seine Wurzeln liegen, weiß man, wer man selbst ist. Kannst du das denn nicht verstehen?«
»Nein, und ich möchte es auch nicht verstehen. Manchmal ist es besser, seine Abstammung zu vergessen, sie vollständig aus dem Gedächtnis zu tilgen, wenn die Erinnerung daran von großem Leid geprägt ist.« Müde strich sich Laura eine Haarsträhne aus dem Gesicht und erwiderte provozierend Maureens Blick. »Was willst du eigentlich hören? Dass McCorkindale ein reicher und mächtiger Clanchef war? Tja, vor der Schlacht von Culloden traf das zu. Wenn du jedoch hören willst, dass er ein zärtlicher Ehemann und liebevoller Vater, gerecht und großzügig gegenüber seinen Dienstboten, gewesen war, so muss ich dich enttäuschen. McCorkindale war ein Tyrann! Der einzige Mensch, auf den er sich jemals verließ, war er selbst. Für ihn zählte nur eine Meinung – seine eigene! Er war selbstherrlich und hochmütig. Und er war brutal. Besonders, wenn er dem Bier oder dem Whisky zugesprochen hatte. Da er täglich trank, waren seine Frau und ich vor seinen Wutausbrüchen und Schlägen niemals sicher. Wenn er betrunken war, konnte niemand ihm etwas recht machen. Wegen einer harmlosen Fliege an der Wand schlug er mit seinem Schwert die gesamte Einrichtung kurz und klein. Einmal hackte er einem Jungen, kaum älter als zehn Jahre, die Hand ab, als dieser in der Halle stolperte und ihm Rotwein über sein Wams schüttete.« Laura machte eine kurze Pause und trat zu Maureen. Leicht legte sie ihr die Hand auf die Schulter. »War es das, was du hören wolltest? Bestimmt nicht, es ist aber die Wahrheit. Nein, eigentlich ist es nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Glaub mir, es ist besser, wenn du den Rest nie erfährst.«
Maureen schluckte trocken, die Zunge klebte ihr am Gaumen.
»Du sprichst von ihm, als wäre er tot. Philipps Recherchen haben ergeben, dass Archibald McCorkindale noch lebt.«
»Für mich ist er tot, gestorben vor vielen, vielen Jahren. Was dich angeht, Maureen: Ich wollte dich nie bekommen, ich konnte es aber nicht ändern. Ich habe meine Pflicht getan, habe dich ausgetragen und dich nicht ausgesetzt oder in einem Fluss ertränkt, was ich eigentlich vorgehabt hatte. Selbst während der Geburt betete ich dafür, dieses unerwünschte Balg in meinem Bauch würde keinen Atemzug machen, wenn es auf die Welt kam. Nun, es war nicht Gottes Wille, und so wurde ich Mutter, ob ich wollte oder nicht.«
Maureens Magen krampfte sich vor Übelkeit zusammen, ein stechender Schmerz ließ sie nach Luft schnappen.
»Ich war dir immer eine Last.«
Sie war verwundert, wie ruhig ihre Stimme in dieser Situation klang. All das, was Maureen ihr Leben lang gespürt hatte, hatte Laura mit wenigen und brutal offenen Worten bestätigt.
»Das kann ich nicht leugnen.« Laura sprach ruhig, es schien, es wäre sie erleichtert, sich endlich nicht mehr verstellen zu müssen. »Das ganze Leben war eine einzige Last, und die Gewissheit, dass es bald zu Ende sein wird, hat für mich nichts Erschreckendes. Ich bin alt und krank. Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe? Ich will dich auch heute nicht, so wie ich dich nie gewollt habe.«
Später wusste Maureen nicht mehr, wie sie nach draußen gelangt war. Erst als sie sich an die feuchte Hauswand lehnte und die Nässe durch ihre Kleidung hindurch an ihrem Rücken spürte, begann sie zu zittern. Maureen würgte, doch kein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Sie war wie erstarrt. Nimm dich zusammen!, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Du hast es immer geahnt. Trotzdem überkam Maureen ein Gefühl, als würde ihr das Herz mit glühenden Zangen aus der Brust gerissen. Ihre eigene Mutter hatte ihren Tod gewünscht! Sie zögerte, ob sie zu Laura zurückkehren und ihren Mantel holen sollte, denn der feuchte Nebel hatte ihr dünnes Kleid inzwischen durchnässt, und sie fror entsetzlich. Aber sie hatte jetzt nicht mehr die Kraft, Laura erneut gegenüberzutreten.
Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und ging die Royal Mile in Richtung Holyrood hinunter. Sie brauchte frische Luft und wollte zu Fuß gehen, die Enge einer Kutsche hätte sie jetzt nicht ertragen. Der Nebel war so dicht, dass sie kaum die Hand vor Augen erkennen konnte, und ihre Schritte auf dem Pflaster schienen von der wabernden grauen Masse geschluckt zu werden. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie hatte eine Tür geöffnet, die jahrelang verschlossen gewesen war, und hatte den Vorraum zur Hölle betreten. Trotzdem bedauerte sie es nicht, endlich die Wahrheit zu wissen. Nun wusste sie Bescheid, mochte es auch noch so schmerzhaft sein. Nun konnte sie mit ihrer Familie nach Cornwall zurückkehren – ihrer Mutter war sie nichts mehr schuldig.
An einer Ecke der High Street tauchten plötzlich zwei Männer neben ihr auf. Einer umklammerte sie von hinten so fest, dass Maureen fast keine Luft mehr bekannt, während der andere mit einer Hand ihr Kinn hob und sie abschätzend betrachtete. Sein Atem stank nach Fäulnis und Bier.
»Na, Süße, so allein unterwegs? Haste Lust auf uns zwei?«
»Lassen Sie mich sofort los!«
Mit aller Kraft trat Maureen um sich, und der Mann, der sie umklammert hielt, schrie auf. Offenbar war ihr Tritt erfolgreich gewesen.
»Hey, das ist ja eine ganz Wilde! Ich mag temperamentvolle Frauen.«
Durch den dünnen Stoff ihres Kleides, befingerte er ihre Brust, sie spürte die schwielige Hand und die Angst nahm ihr den Atem. Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können, bei Dunkelheit allein durch die Altstadt zu gehen!
»Olala, das ist aber ein feines Stöffchen, du machst wohl auf Dame, was?«, raunte einer der Kerle. »Bei dem Wetter musste froh sein, wenn du überhaupt Kundschaft bekommst.«
Verzweifelt versuchte Maureen sich zu befreien, doch der Mann hatte dazugelernt. Sein Griff war wie aus Eisen, noch einmal würde er sich nicht treten lassen.
»Ich bin eine ehrbare Frau.«
Im selben Augenblick wusste Maureen, wie dumm dieser Satz klang. Keine ehrbare Frau war um diese Uhrzeit und bei dem Wetter allein in der Altstadt unterwegs. Trotzdem nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und rief: »Wenn mein Mann davon erfährt, wird er euch töten!«
Tatsächlich wurde die Umklammerung nun ein wenig gelockert, und ein bärtiges, schmutziges Gesicht kam immer näher. Aufgesprungene Lippen versuchten sie zu küssen. Angewidert von dem üblen Geruch, den der Mann verströmte, drehte Maureen den Kopf zur Seite.
»Hey, Rob, ich glaube, das ist gar keine Hure ...«
»Das glaube ich auch, meine Herren! Und jetzt ist es wohl besser, ihr nehmt eure Füße in die Hand und macht, dass ihr wegkommt. Oder wollt ihr Bekanntschaft mit meinem kleinen Freund hier machen?«
Erleichtert hörte Maureen die fremde Stimme und sah das Aufblitzen einer Pistole im Nebel. Sie wurde so hastig losgelassen, dass sie taumelte. Der Fremde konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie in den Straßenschmutz fiel.
»Ich danke Ihnen. Sie ...«
Maureen stockte. Sie hatte ihren Blick zum Gesicht ihres Retters erhoben. Alan McLaud! Im selben Moment erkannte er sie ebenfalls.
»Ach, sieh mal einer an! Tja, ich scheine das zweifelhafte Vergnügen zu haben, stets die falschen Frauen zu retten.«
Maureen ballte ihre Hände zu Fäusten und holte tief Luft. Sie wollte keineswegs die Beherrschung verlieren. McLaud wich vorsichtshalber einen Schritt zurück, er lächelte spöttisch.
»Ich zweifle ernsthaft daran, dass Sie wirklich eine Lady sind. Dafür treiben Sie sich zu oft an zwielichtigen Orten zu denkbar unüblichen Uhrzeiten und darüber hinaus in äußerst fragwürdiger Gesellschaft herum. Aber wissen Sie was? Genau das macht Sie interessant, denn ich mag keine Ladys – besondere keine englischen.«
»Sie ... Sie ... unverschämter Kerl!«
Alan McLaud lachte laut.
»Ich warte noch immer auf den Besuch Ihres angeblichen Mannes. Oder sollte er etwa ein Feigling sein?« In gespielter Verwunderung schlug er sich gegen die Stirn. »Aber natürlich ist er ein Feigling! Er ist schließlich Engländer! Die sind doch nur stark, wenn die gesamte Armee hinter ihnen steht.«
Maureen wollte sich auf keinen Fall zu einer Erwiderung hinreißen lassen, die eine weitere Beleidung nach sich ziehen würde. Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte auf die Brücke zu, die zur Neustadt führte. Durch den Nebel hallte ihr noch lange das laute, spöttische Lachen von Alan McLaud nach.
Die nächsten zwei Wochen, in denen Philipp die Vorbereitungen für ihre Abreise tätigte, verflogen schnell. Ihrem Mann und Frederica hatte Maureen weder von den verletzenden Worten ihrer Mutter, noch von der Gefahr, in die sie geraten war, und von der Begegnung mit Alan McLaud erzählt. In zwei Tagen würde sie Edinburgh verlassen und weder Laura noch diesen unverschämten Schotten jemals wiedersehen.
Vier Tage war Maureen nicht zu ihrer Mutter gegangen. Zusammen mit Frederica hatte sie Einkäufe gemacht und die Baines besucht, die zeitgleich mit ihnen die Stadt verlassen würden. Maureen rang mit ihrem Pflichtgefühl gegenüber ihrer Mutter und der bitteren Erkenntnis, dass Laura keinen Wert auf ihre Anwesenheit legte. Schließlich zog es sie aber doch wieder in das kleine Zimmer über der schäbigen Schenke. Es war mehr als nur Pflichtbewusstsein, sie spürte, dass Laura ihr noch nicht alles erzählt hatte. Es musste etwas geschehen sein, das Laura zu dieser harten, verbitterten Frau gemacht hatte.
Frederica freute sich, das Weihnachtfest zu Hause zu verbringen.
»Wir feiern doch wie jedes Jahr zusammen mit den Linnleys, nicht wahr?«, fragte sie voller Hoffnung.
Maureen wusste, welche Gedanken Frederica beschäftigen: Das Mädchen spekulierte darauf, am Weihnachtstag von George Linnley endlich den ersehnten Heiratsantrag zu erhalten. Während ihres Aufenthaltes in Edinburgh hatte Frederica mehrere Briefe an George geschrieben, obwohl das eine Dame eigentlich nicht tun sollte. Die Tatsache, dass George ihr nie geantwortet hatte, schien sie ebenso zu verdrängen, wie dass Lady Esther eine Verbindung mit einer entfernten Verwandten wünschte.
Maureen war wenig erpicht darauf, in Bälde sich wieder mit dieser unseligen Angelegenheit auseinandersetzen zu müssen. Ihre Hoffnung, Frederica würde während der Reise George Linnley vergessen, hatte sich leider nicht bewahrheitet.
Mit dem Anwalt, der sich um die Überführung und Beerdigung von Lauras Leichnam kümmern würde, war alles geregelt. Einen Tag vor ihrer Abreise ging Maureen das letzte Mal zu ihrer Mutter. Das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite und die Sonne stand am wolkenlosen Himmel, aber der vom Meer kommende Wind war eiskalt und ein Vorbote des kommenden Winters. Die trockene Luft linderte Lauras Beschwerden. Sie hatte rote Wangen, und ihre Augen waren klar und nicht länger von dunklen Schatten umrandet. Je näher der Abschied rückte, desto entsetzlicher fühlte Maureen sich dennoch. Sie ließ ihre todkranke Mutter zurück, die sie nie mehr wiedersehen würde. Diese Gewissheit nagte während der letzten Tage an Maureen, und es gelang ihr nicht, das schlechte Gewissen zu verdrängen. Laura weigerte sich weiterhin, ihre ärmliche Behausung zu verlassen. Sie wollte auch auf keinen Fall die Hilfe einer Pflegerin annehmen, was Maureen zusätzlich Sorge bereitete, sie hatte aber aufgegeben, Laura zu überzeugen – es wäre zwecklos gewesen.
Da sie sich heute wohl fühlte, bat Laura Maureen, sie zum Friedhof zu begleiten. Stumm nahm Maureen am Grab ihres Vaters Abschied, und der Gedanke, das Grab ihrer Mutter niemals zu sehen, stimmte sie traurig. Es war aber unwahrscheinlich, dass sie jemals wieder nach Schottland zurückkehren würde.
»Der Tod ist nur der Anfang von etwas Anderem, etwas viel Größerem. Wir Lebenden können das nur nicht begreifen.«
Erstaunt sah Maureen ihre Mutter an. Instinktiv hatte Laura im richtigen Moment die richtigen Worte gewählt. Maureen fühlte sich sofort etwas getröstet.
»Lass uns gehen«, bat Laura und hakte sich bei Maureen unter.
Der steile Anstieg zum West Bow ging doch über Lauras Kräfte. Sie hustete, erbleichte, und der Atem drang rasselnd aus ihrer Kehle.
»Schaffst du es, Mutter?«, fragte Maureen besorgt. »Vielleicht sollte ich Hilfe …«
»Nein, nein, es geht schon«, wehrte Laura ab. »Wenn ich mich nur auf dich stützen darf.«
Keuchend und hustend schleppte Laura sich immer nur wenige Schritte weiter, dann musste sie stehen bleiben und so hektisch nach Luft schnappen, dass Maureen Angst bekam. Sie stützte Laura und überlegte, wo sie wohl Hilfe holen konnte, denn sie würden es unmöglich allein schaffen bis zu der Schenke. Als sie sich umsah, bemerkte sie vier englische Offiziere, die sich ihnen näherten. Sie trugen die auffälligen, roten Uniformen und wurden von zwei Damen begleitet, die diese Bezeichnung nicht verdienten. Maureen erkannte sofort, welchem Gewerbe die Frauen nachgingen. Für ehrbare Frauen waren ihre Kleider zu tief dekolletiert und die Gesichter zu grell geschminkt. Offenbar hatte die Gruppe trotz der frühen Stunde dem Alkohol reichlich zugesprochen, denn die Männer grölten ein obszönes Lied. Einer der Offiziere wankte so dicht an Laura vorbei, dass er sie anrempelte und sie beinahe zu Boden gestoßen hätte. Maureen konnte sie gerade noch auffangen.
»He, du Schlampe, versperr gefälligst nicht die ganze Straße!«,
blaffte er, und Maureen roch seinen weingeschwängerten Atem.
»Was fällt Ihnen ein, zwei harmlose Damen zu belästigen?«
Zornig blitzte Maureen den Offizier an, der sich ebenso wenig wie seine Begleiter von ihrer Empörung beeindrucken ließ. Sie lachten hämisch, die Huren kicherten und hängten sich bei dem Wortführer ein. Sie maßen Maureen und Laura mit spöttischen Blicken und gingen weiter.
Der Vorfall war kaum der Rede wert. Maureen hätte die Männer nicht weiter beachtet und sie weiterziehen lassen. Bevor sie sich wieder Laura zuwenden konnte, hatte diese bereits ihre ganze verbleibende Kraft zusammengenommen, einen großen Stein von der Straße aufgehoben und diesen gezielt nach dem Offizier, der sie angepöbelt hatte, geworfen. Der Mann wurde von dem Stein an der rechten Schläfe getroffen. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen, und seine Begleiter starrten fassungslos auf das Blut, das aus einer kleinen Wunde auf den weißen Uniformkragen tropfte. Danach ging alles sehr schnell.
»O Gott!«
Maureen schrie laut auf, als sie von hinten gepackt und ihre Arme auf den Rücken gedreht wurde, so dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Ein zweiter Offizier tat das gleiche bei Laura, in deren Augen blanker Hass loderte. Sie versuchte sogar, dem Offizier ins Gesicht zu spucken. Der Zwischenfall hatte zahlreiche Passanten angelockt, die sich in einem Halbkreis um sie scharten. Niemand schritt ein, alle standen nur da und gafften. Die beiden Straßenmädchen nutzten die Gelegenheit und tauchten in der Menge unter, denn mit Ärger wollten sie nichts zu tun haben.
Der Offizier wischte sich das Blut aus dem Gesicht, trat vor Laura und schlug sie hart ins Gesicht.
»Wolltest mich wohl umbringen, du Miststück? Ein Angriff auf Armeeangehörige hat weitreichende Folgen für euch. Verlasst euch drauf!«
»Bitte entschuldigen Sie, Sir. Meine Mutter ist schwer krank, sie war sich nicht bewusst, was sie tat. Ich bin sicher, sie wollte Sie nicht verletzen.«
Verzweifelt versuchte Maureen ihn zu besänftigen. Er drehte sich zu ihr und musterte sie von oben bis unten.
»Du bist keine Schottin«, stellte er sachlich fest, dabei blieben seine Augen kalt wie Stein.
»Nein, ich bin Engländerin«, sagte sie schnell. »Mein Ehemann war viele Jahre Captain in der Armee. Wenn Ihr Begleiter vielleicht die Freundlichkeit hätte, seinen Griff etwas zu lockern. Ich verspreche, dass wir nicht fliehen werden.«
Womöglich konnte es jetzt von Vorteil sein, sich als Engländerin auszugeben. Unwillkürlich dachte Maureen daran, wie der unverschämte Schotte sie beleidigt hatte, gerade weil sie mit einem Engländer verheiratet war.
Der Offizier zeigte sich von ihren Worten unbeeindruckt, offensichtlich glaubte er Maureen kein Wort. Er wandte sich an seine Begleiter: »Bringt sie ins Old Tolbooth. Ein Richter soll entscheiden, was mit ihnen geschehen soll.«
Maureen gelang es, einen Arm aus der Umklammerung zu lösen, und griff schnell in die Tasche des Rocks. Zu ihrer Erleichterung fand sie einen Penny. Sie drückte einem zerlumpten Jungen, der direkt neben ihr stand, das Geldstück in die Hand und flüsterte: »Lauf so schnell wie möglich zum Charlotte Square, Haus Nummer zwölf. Erzähl dem Mann dort, was geschehen ist, und sag ihm, er soll sofort zum Gefängnis kommen. Hast du verstanden?“
Der Junge nickte, und seine Augen strahlten beim Anblick des funkelnden Pennys. Er steckte ihn in die Tasche seiner zerrissenen Hose und war gleich darauf in der Menge verschwunden. Maureen befürchtete, der Junge würde sich mit dem Geld einfach davonmachen, ihr war aber keine andere Wahl geblieben, als das Risiko einzugehen. Sie und Laura wurden nun grob an den Armen gerissen und die Royal Mile hinab in Richtung des Stadtgefängnisses geschleppt.