Читать книгу Der Lockruf des Weißen Adlers - Rebecca Netzel - Страница 9
Die Falknerei
ОглавлениеKaum war das zarte Pflänzchen unserer Beziehung aus der Asche des ersten Scheiterns, das wir hinter uns gelassen hatten, wieder aufgekeimt, waren wir beide bemüht, möglichst rasch alles nachzuholen, was uns damals entgangen war. Ein probates Mittel dazu war, außer natürlich Küssen und mehr, möglichst viel gemeinsam zu unternehmen.
Da wir beide nicht die ausgewiesenen Disco-Typen waren, sondern es uns mehr in die Natur hinaus zog – etwas, das wir beide gemeinsam hatten –, beschlossen wir, einen Naturlehrpfad näher kennen zu lernen, von dem Illona schon öfters gehört hatte und den sie sich mal genauer ansehen wollte, weil sie sich besonders auf Naturpädagogik spezialisierte: Naturerfahrungen für Kinder, zum Anfassen, Entdecken, Erkunden.
„Oh ja – das ist sicher interessant – auch für uns Erwachsene!“, stimmte ich zu – inzwischen meinte ich es sogar ernst.
So fuhren wir mit der Seilbahn hinauf auf den Berg, der uns in den Wald über der Stadt brachte. Dort oben waren verschiedene Waldwege als Trimmpfade, Panoramawege und eben auch als erlebnispädagogische Lehrpfade ausgewiesen, für Erwachsene wie Kinder. Für die Großen gab es bunte Schautafeln mit Erklärungen über das Ökosystem Wald und seine Bewohner, für die Kleinen gab es Waldspielplätze, Klanghölzer, mit der Motorsäge zurechtgeschnitzte Holztiere und vieles mehr.
Sogar ein Grillplatz für Familien war dort angelegt, mit Holzschindel-gedecktem Wetterdach. Illona war ganz begeistert von den Möglichkeiten, die ihre Kindergarten-Kinder (und irgendwann unsere eigenen, dachte ich nun ohne jene frühere Beklommenheit) vorfinden würden, um Eicheln und Kastanien, buntes Laub und Federn, weiches Moos und raue Borke zu sammeln, zudem mit wachen Blicken Waldvögel, Käfer und Eichhörnchen zu beobachten …
Und dann stießen wir auf die Falknerei. Sie war ein beliebtes Ausflugsziel, doch wir gelangten eher zufällig dorthin. Doch was ist schon Zufall?
Diesmal war ich der Begeisterte, und Illona setzte sich geduldig zu mir, als wir Eintrittskarten für die Flugvorführungen der Greifvögel gelöst hatten und auf hölzernen Bänken auf der kleinen Lichtung im Walde Platz nahmen. Es gab Vorführungen für Jung und Alt, für Erwachsene, gerne auch Familien mit kleineren Kindern, und Schulklassen, um die Jugend an die Tierwelt heranzuführen und sie für die Natur zu begeistern.
Der Falkner und seine Gehilfin waren mit Herzblut dabei, sie erzählten uns spannende Dinge aus dem Leben der Greife, führten uns deren faszinierende Flugkünste vor, wie sie nach dem kreisenden Federspiel jagten und sich ihre Belohnung in Form von toten Eintags-Küken holten. Hier sah ich viel mehr Sinn im kurzen Leben dieser Küken, als wenn diese einfach nur als Müll geschreddert würden, quasi als „Abfallprodukt“ einer qualvollen Massentierhaltung … Hier, in den Klauen und Schnäbeln der hungrigen Greife, machte der Tod der Küken wenigstens noch insofern Sinn, als dass er den zahmen Greifvögeln und anderen Zootieren half, zu überleben …
Der Falkner versicherte uns, es liege ihm sogar sehr viel daran, die Tiere nicht nur als seine Gefährten zu halten, sondern sich auch an Zuchtprogrammen für gefährdete Greifvögel zu beteiligen; er würde also nach einigen Jahren seine Tiere an Zoos abgeben, aber nur, wenn sie auch Flug-Volieren hatten, damit seine Tiere das Fliegen nicht verlernen würden. Das gefiel uns sehr.
Dem Publikum vorgeführt wurden Falken, Eulen und – Adler!
Zu Adlern hatte ich aufgrund meiner ungewollten Rückführung ja nun ein ganz besonderes Verhältnis … und schon begann mein Herz wieder vor Aufregung schneller zu schlagen, so wie bei einem Rendez-vous mit Illona … in meinem Hinterkopf begann sich ein abenteuerlicher Gedanke zu bilden!
Adler sind den First Americans heilig – das weiß jedes Kind. Aber warum? Weil sie so stark und kampfkräftig sind, so sprichwörtlich scharfe Augen haben, von allen Vögeln am höchsten fliegen können, weil ihr Mut und auch ihre partnerschaftliche Treue so beeindruckt – Letzteres wissen hierzulande nur wenige, ich hatte es hingegen damals selbst erlebt! Und: Die Adler haben für Reiki-Sensitive eine ganz besondere Kraft, eine Ausstrahlung, eine Aura – die so genannte wanblí wówash’ake, Eagle power, wie ich bei meinen Online-Recherchen über die Natives und ihre Naturvorstellungen herausgefunden hatte – und diese war eine spirituelle Kraft, wówakan, da der Adler zugleich auch der kleinere Bruder des Donnervogels ist, des Wakínyan – da soll er wohl die Kräfte der Lüfte und des Windes in sich tragen –, und genau diese Kraft wollte ich nun gerne einmal selbst erleben!
Ich weiß – das alles mag für einen modernen, wissenschaftlich „aufgeklärten“ Europäer bizarr klingen –, aber möge er doch selber mal ein zahmes Tier streicheln, gar zu einem Wildtier Kontakt aufnehmen –, und er wird die Kräfte fließen fühlen, da bin ich sicher. Sogar bei Pflanzen spürt man ja deren Kräfte, etwa bei Bäumen. Um wieviel stärker, geradezu elektrisierend, mussten da die Adler-Kräfte sein!
Und ob ich an so was wie den Donnervogel glaubte? Natürlich glaubte ich das, was uns die Wissenschaft erzählt, also etwa, dass Blitze elektrische Entladungen sind – doch wer hat je schon einmal ein Elektron mit eigenen Augen gesehen? Konnte nicht irgendwie beides wahr sein: Es gab Elektronen – und eben Donnervögel? War nicht das eine ein moderner, wissenschaftlicher Mythos und das andere ein traditioneller? Waren es nicht beides eine Art Mythen, um sich als Mensch die Welt erklärbar zu machen? Ein moderner Mythos, um abstrakte Berechnungen von Forschern zu veranschaulichen, und ein uralter, um das Wettergeschehen irgendwie ansprechend zu deuten … Und wenn diese Erklärungen stimmig waren – war nicht dann beides, Elektron und Donnervogel, irgendwie „wahr“? Die Lakota behaupten jedenfalls genau dieses, wie ich später bei ihnen erfahren sollte. –
Doch zunächst einmal bemühte ich mich, das Vertrauen des Falkners zu gewinnen. Wir kamen wiederholt an Wochenenden in seine Vorführungen, spendeten auch für ein Vogelschutz-Projekt, kauften jeder ein T-Shirt mit Adler-Motiv – kurz, wir zeigten unser ganzes aufrichtiges Interesse. Ja, unseres: denn auch Illona war rasch der Faszination dieser majestätischen Greifvögel erlegen! Auch das brachte uns emotional noch näher zusammen.
Mir ging es mit dem Falkner irgendwie ähnlich wie mit Illona: Ich spürte, ich musste erst behutsam eine tragfähige Basis des Vertrauens aufbauen, ehe ich mich mit meinen Wünschen weiter vorwagen durfte. Daheim recherchierte ich auch fleißig im Internet über Adler, um mit dem Falkner und seiner Frau, die zugleich auch seine Assistentin bei den Flugshows der Greife war, über diese herrlichen Tiere fachsimpeln zu können. Immer öfter blieben wir daher auch nach Ende der Flugvorführungen da, wenn sich die anderen Besucher schon längst zum Ausgang begeben hatten und wir in dem Areal nunmehr allein waren.
Und dann, an einem schönen, heißen Sommertag, wo es hier auf der Waldlichtung besonders angenehm kühl war unter dem Schatten der großen Laubbäume, an einem Tag, der einfach perfekt war, wagte ich es, mein Anliegen vorzubringen: … ob man nicht einmal selbst solch einen Greifvogel auf den Arm nehmen dürfe, um ganz dicht in Kontakt mit ihm zu sein, um zu spüren, wie sich das anfühlen würde ….?
Der Falkner sah mich genauso erstaunt an wie Illona. Der hatte ich zuvor nämlich nichts davon erzählt. Der Falkner schwieg. Sah mich an. Aus zusammengekniffenen Augen, die in seinem sonnengebräunten, hageren Gesicht selber leuchteten wie Falkenaugen. Er schwieg lange. Ich begann, mich unbehaglich zu fühlen, so, als hätte ich eine unsichtbare Grenze überschritten. Gerade wollte ich einen Rückzieher machen und sagen: „Entschuldigung, es war einfach nur so eine Frage, eine Idee von mir …“, da nickte er bedächtig und sagte: „Wir fangen aber nicht gleich mit dem großen Adler an – der ist was für Fortgeschrittene! Wenn du Tiere wirklich liebst, dann wirst du zunächst mal meine kleinen Falken genauso schätzen –“
– Ich nickte –
„– gut, dann vertraue ich dir als Erstes einmal meinen Lieblings-Falken an. Der ist nicht etwa deswegen mein besonderer Liebling, weil ich ihn toller fände als die anderen und irgendwie bevorzugen würde – ich liebe und bewundere alle meine Tiere, die in meiner Obhut sind –, sondern weil er so zahm ist, dass ich ihn bei Vorführungen für Schulklassen sogar bei von den Lehrern ausgewählten, besonders zuverlässigen Kindern mal auf der Hand sitzen lassen kann! Mit dem fangen wir an!“
Begeistert nickte ich, und ich war so aufgeregt, als sei ich selber ein großes Schulkind, das gleich die ungewöhnliche und beglückende Erfahrung einer Begegnung mit solch einem herrlichen Vogel machen durfte …
Geruhsam löste der Falkner die Leine seines zahmen Falken. „Es ist ein Saker-Falke“, erläuterte er dabei, „in ihrer Heimat sind sie bedroht, übrigens auch durch illegale Entnahme von Eiern und Jungvögeln aus den Nestern. Verantwortungslose vermeintliche Tierliebhaber zahlen sagenhafte Preise für die Tiere – unsere Tiere hier gehen in Zuchtprogramme, sobald sie voll ausgewachsen sind …“
Der Falke flatterte routiniert und vertraut auf einen Wink des Falkners hin auf dessen Handschuh. „Die Tiere sind frei, und doch bleiben sie bei uns – wie durch ein unsichtbares Band an uns gekoppelt!“, sagte er und streichelte das zimtbraune, dunkel gestrichelte Gefieder seines geflügelten Freundes. „Er könnte jederzeit wegfliegen – manchmal tun sie das auch für eine längere Exkursion –, doch sie kommen immer wieder. Ich glaube, ich bin nicht nur ihr Futtergeber – denn jagen könnten sie durchaus für sich selber. Ich hoffe – es ist wirklich so was wie Freundschaft …“ Auf einmal wurde seine Stimme belegt, und seine Augen schimmerten.
Wir nickten, beeindruckt und andächtig. Der Falkner nickte kurz seiner Frau zu, und die reichte mir freundlich, aber kommentarlos einen Ersatz-Handschuh. Aufgeregt streifte ich ihn mir über. Dann drückte mir die Frau ein Kükenbein in den Handschuh. Der Falke beäugte das auch aufmerksam, blieb aber ganz gelassen auf dem Arm des Falkners sitzen. Erst als dieser sagte: „Ho!“ und ihn mit einem leichten Schubser aufsteigen ließ, schwang sich der Vogel auf – und war schon auf meinem Handschuh gelandet, so schnell, dass es mich verblüffte.
Er hackte und zerrte an dem Stück Fleisch, und dabei veränderte er seine Haltung auf meinem Handschuh, und auf einmal war da, wo seine Kralle hingriff, kein Handschuh mehr, sondern mein Arm, und wie eine spitze Nadel bohrte sich die Kralle in meine Haut. Der Falkner bemerkte das sehr wohl, lächelte aber abwartend. Ich biss die Zähne zusammen und blieb ganz ruhig. Bloß ja jetzt nicht den Falken durch eine unbedachte, plötzliche Bewegung verscheuchen! Er hatte mir ja gar nichts antun wollen, war nur einfach mit seinen Klauen vom grobledernen Handschuh abgerutscht und hatte versehentlich meine bloße Haut erwischt …
Das war meine Feuertaufe! Als der Falkner sah, wie ruhig und souverän ich blieb, nickte er anerkennend und beschloss, mir auch den Adler anzuvertrauen. „Aber erst nächstes Mal!“, erklärte er mir zu meinem Erstaunen. „Warum denn?“, fragte ich neugierig.
„Damit dein heutiges Erlebnis mit dem Falken nicht von der Begegnung mit dem Adler überlagert und die Erinnerung daran ausgelöscht wird!“, meinte er lachend. Ich nickte. Irgendwie konnte ich das verstehen. Der Falke war es wert, eine eigene Erinnerung zu sein, seinen eigenen Platz in der Galerie meines Gedächtnisses einzunehmen.
Und dann kam der große Augenblick mit dem Adler! Illona war genauso aufgeregt wie ich, legte aber keinen Wert darauf, mir nachzueifern und einen Riesengreifen auf ihren Arm flattern zu lassen, der fast sechs Kilo schwer war. Wenn er nur wuchtig die Flügel ausbreitete und schüttelte, dann spürte man schon den Luftzug. Auf einmal fand ich die Vorstellung von einem unsichtbaren Donnervogel, der mit seinen gigantischen Schwingen brausende Stürme erzeugte, gar nicht mehr so abwegig. Ich fand den Gedanken einfach äußerst passend.
Wieder erhielt ich einen Falkner-Handschuh zum Überziehen und einen Fleischköder.
„Es ist ein junger Weißkopf-Seeadler“, erklärte der Falkner freundlich, als er dessen Lederschnur löste. „Dreieinhalb Jahre alt. Am Hals sieht man schon, wie sich die ersten dunklen Federn weiß umfärben. Noch sieht er von Weitem fürs ungeübte Auge aus wie ein Stein- oder Goldadler, doch mit etwa vier bis fünf Jahren wird er in charakteristischer Weise ausgefärbt sein, mit seinem dann schneeweiß leuchtenden Haupt …“
Und er ließ den Adler fliegen. Der verschaffte sich erst ein wenig Bewegung, landete dann bei seinem Falkner auf dem Arm, und der trat lächelnd zu mir heran und ließ den Adler herüberflattern. Die Wucht seiner Landung drückte mir den Arm durch. Rasch stützte ich ihn mit dem anderen Arm ab. Der Falkner lächelte wortlos. Er hatte damit gerechnet. Er war es ja gewohnt.
Dann, endlich, hielt ich also den majestätischen Adler auf dem Arm. Es war atemberaubend – ein so stolzes und kühnes Tier auf dem Falkner-Handschuh sitzen zu haben! Dessen Fänge, groß wie Männerfäuste, schließen sich schraubstockartig um deinen Arm, und du spürst: Wärst du im Würgegriff seiner Klauen, so gäbe es kein Entrinnen. Sogar noch durch das Grobleder der Handschuhe spürst du den Druck der Krallen, und das stattliche Gewicht von fast sechs Kilo, da auf deinem Arm, drückt diesen bedenklich hinunter – mit aller Kraft hebst du deinen linken Arm wieder, so dass der Adler dort bequem sitzen kann wie auf einem Ast.
Und das Aufregendste: Dicht vor dir, nur eine Handbreit entfernt, blitzen seine schwefelgelben Augen, glasklar und unbeirrbar. Er blickt dich kurz an und dann an dir vorbei, scharf ist sein Blick – kein Wunder, dass die Natives darin Blitze schießen sehen und im Adler den kleinen Bruder des Donnervogels erblicken!
Zudem kann der Adler von allen Vögeln am höchsten fliegen: aus der Vogelperspektive hat er den Überblick über das Leben, buchstäblich, wie ihm die Welt da zu Füßen liegt, tief unter seinen Schwingen ausgebreitet wie eine bunte Morning-Star-Patchworkdecke, und seine Augen erspähen alles mühelos, noch auf mehrere Kilometer Entfernung. Ja, der Adler auf seinem kreisenden Flug, mit weiten Schwingen den Horizont umspannend, flog einst so hoch, dass ihm die Sonne das Schwanzgefieder ansengte … seitdem, so erzählt der Mythos, haben viele Adler einen schwarz gesäumten Schwanz. Vor allem auf Goldadler trifft das zu, die Weißkopf-Seeadler haben meist rein weiße Schwanzfedern, wie mir der Falkner erklärt. Doch alle Adler eint ihre Kraft und ausdauernde Flugkunst. Sie sind die mächtigen Herrscher des Luftraums und tragen die Gebete der Natives empor.
Irgendwie fühle ich mich gestärkt, als ich den Adler wieder zu seinem Falkner (nicht: zu seinem Herrn!) zurückkehren lasse, eine richtige Dusche prickelnder Energie hat er mir verpasst, die Luft um ihn herum ist wie elektrisch aufgeladen, ich spüre es, sogar durch den Lederhandschuh hindurch fließen die Energieströme. Illona ist stolz auf mich, dass ich so mutig war, doch ich bin einfach nur dankbar. Irgendwie, in meinem Innersten, fühle ich mich dem Adler verbunden. Er ist für mich der Bote aus einer anderen Welt.
Die Begegnung mit dem Adler hat auch nochmals Illonas Auseinandersetzung mit dem Tagebuch über meine Erinnerungen an frühere Leben aufgefrischt. Ich beginne – noch ohne recht zu ahnen, warum –, ihr vom Leben der Natives gestern und heute zu erzählen. Alles, was ich darüber in Büchern oder im Internet gelesen habe oder auch in Fernseh-Dokus gesehen. Und natürlich, was ich selber noch in meinem Kopf an Bildern gefunden habe, als verschütteter Tresor. Diese Bilder sind noch viel unmittelbarer als alles, was ich mir angelesen oder online recherchiert habe – denn sie sind mit meinen eigenen, persönlichen Gefühlen aufgeladen, von meiner jenseitigen Erinnerung imprägniert. Meine Begeisterung für dieses Thema, das mich so sehr berührt, springt auch auf meine Freundin über wie ein Funken und aufmerksam hört sie mir zu. Noch ahnen wir nicht, wie sich alles entwickeln wird, was da noch alles auf uns zukommt.
Bei Wikipedia erfuhr ich vieles, in das ich mich erst einmal hineindenken musste – doch meine Neugier war geweckt. Wo und wie lebten die Natives eigentlich heutzutage? Intuitiv klickte ich einen Artikel über eine der Reservationen an und erfuhr:
„Die Pine Ridge Reservation (Lakota-Sprache Oglala Oyanke) ist ein Indianerreservat im Südwesten des US-Bundesstaats South Dakota, an der Grenze zu Nebraska. Das Reservat erstreckt sich über eine Fläche von etwa 11.000 km2. Der Großteil des von Oglala-Lakota bewohnten Reservats liegt im Oglala Lakota County und Jackson County. Hauptort ist Pine Ridge.“
Ich wusste: Dieses Land war zudem noch dünn besiedelt. Man schätzt die Bevölkerung auf etwa 30 - 40.000 Einwohner, weit verstreut in kleinen Siedlungen und entlegenen Weilern auf diesen 11.000 km2. Zum Vergleich: Das Bundesland Schleswig-Holstein hat etwas über 15.000 km2, dachte ich. Es klingt ja ganz groß, ganz großzügig – doch wenn man weiß, dass die weißen Regierungen den Natives das beste Land in den letzten 150 Jahren weggenommen hatten und ihnen nur kümmerliche Reste des einstigen Stammesterritoriums ließen, dann stellt sich das schon ganz anders dar. Und diese fortschreitende Landnahme erfolgte auch noch völkerrechtswidrig, durch Vertragsbrüche. Ich ahnte da noch nicht, wie vertraut mir schon bald die dortigen, mir bisher nichts sagenden Ortsnamen werden sollten …
Neugierig las ich weiter und erfuhr mit steigender Beklommenheit, dass die Arbeitslosenquote im Reservat bei 85 % läge und die Suizidrate viermal so hoch wie der Landesdurchschnitt sei. Viele Familien haben weder Strom noch ein Telefon. Mit einer Lebenserwartung von 47 Jahren für Männer und nur etwas mehr als 50 Jahren für Frauen sei die Lebenserwartung der Bewohner des Reservates eine der kürzesten aller Gruppen der westlichen Hemisphäre.
Wovon leben die da eigentlich?, fragte ich mich unwillkürlich. Jagd auf Kleinwild, Sammeln von Wildfrüchten, Wurzeln und Samen oder etwas Gartenbau. Na toll – einen Bio-Garten würde ich ja schon gern anlegen und meine eigenen Tomaten züchten – aber würde das denn überhaupt möglich sein in so einer kargen Gegend? Einem Land, das an die Halbwüste der Badlands grenzte …? Wie wäre es, wenn ich dort leben wollte oder müsste? In Gedanken sah ich mich schon widerwillig und notgedrungen auf wilde Truthähne schießen, um die magere Kost zu bereichern …
Besonders interessierte mich natürlich, was ich zur Geschichte der Reservation fand:
„Die Pine Ridge Reservation war ursprünglich ein Teil der Great Sioux Reservation“ – ach ja, hatte ich da nicht mal irgendwas gelesen, ich erinnerte mich an das geflügelte Wort, das Land von den Black Hills über den Powder River bis zu den Bighorn-Bergen solle uneingeschränktes Jagdgebiet der Natives bleiben, „solange das Gras wächst und die Flüsse fließen“.
So viel zum Thema unverbrüchliches Wort der Weißen. War es Präsident Johnson gewesen, der diese Zusage geprägt hatte? Hatte ich darüber bei Dee Brown, Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses, gelesen? Ich wusste es nicht mehr. Jedenfalls las ich weiter bei Wikipedia über dieses Reservat, „das durch den Vertrag von Fort Laramie von 1868 eingerichtet worden war und ursprünglich 240.000 km2 in South Dakota, Nebraska und Wyoming umfasste. 1876 verletzte die US-Regierung den Vertrag von 1868 und öffnete 31.000 km2 der Fläche des Reservats in den Black Hills für private Interessen.“
Jaja, es ging vor allem um Gold!, dachte ich wütend. 1874 war in den für die Lakota und anderen Natives heiligen Schwarzen Bergen Gold gefunden worden, dieser Fetisch weißer Materialisten … Was für die einen eine dreiste Vertragsverletzung war, erwies sich für die anderen als existenzbedrohend … Tja, was steht da noch alles? Hier:
„1889 wurde die übrige Fläche des Sioux-Reservats in sieben separate Reservate aufgeteilt: Cheyenne River Reservation, Crow Creek Indian Reservation, Lower Brulé Reservation, Rosebud Reservation, Sisseton Reservation, Yankton Reservation und Pine Ridge Reservation.“
Also ein einstmals zusammenhängendes Gebiet zerstückelt, zerfleddert, geplündert, die für die Weißen interessantesten Teile kurzerhand herausgenommen. So pickt man sich die Rosinen aus dem Kuchen! Doch das war noch nicht alles: „1911 wurde die Pine Ridge Reservation weiter verkleinert: Bennett County wurde als Folge des Allotment Act aus dem Reservat ausgegliedert, was jedoch bis heute nicht von den Oglala anerkannt wird. Gut die Hälfte der Bevölkerung von Bennett County sind heute Oglala, denen jedoch nur etwa ein Drittel des Landes gehört.“
Darüber hatte ich mal was gelesen: Die weiße Regierung hatte kurzerhand beschlossen, wer sein Land nicht bewirtschaften würde, der würde es an „fähigere“ Siedler, die das Land auch bestellen würden, abtreten müssen – dabei wollten die Lakota Großmutter Erde ja gar nicht mit dem Pflug aufreißen, sie durch Dünger zwingen, zur Unzeit Frucht zu bringen; sie wollten sie in Ruhe lassen, aus Respekt und Ehrfurcht vor der Schöpfung, so wie sie war – kein Wunder, dass sie da als „unzivilisierte, rückständige, faule Barbaren“ galten und man sich unter diesem Vorwand ihrer scheinbaren Ineffizienz deren Land immer weiter aneignete, parzellierte, unter sich aufteilte … „Indian Land for Sale“, einfach so – der Landhunger der Weißen war wie eine Heuschreckenplage.
Gut, es waren verzweifelte Auswanderer aus Europa, die durch Hunger, Kriege und Armut aus ihrer alten Heimat vertrieben worden waren – so hatte die Kartoffelpest in Irland weite Landesteile entvölkert –, doch waren die Natives ja ursprünglich sogar bereit gewesen, ihr ökologisches Wissen, wie man in ihrem Land überleben und nachhaltig Mais, Kürbis und Bohnen anbauen konnte, mit den Einwanderern zu teilen – das Thanksgiving-Fest in den USA zeugt noch heute davon. Nur die Gier der Weißen hatte diese anfangs friedliche Nachbarschaft zerstört … Und die eingewanderten Weißen erklärten meist kurzerhand, sie hätten ja das Land von ihrer Regierung zugewiesen bekommen oder dafür auch bezahlt, ohne zu hinterfragen, wer denn zuvor dort gelebt hatte und ob denn überhaupt alles bei diesem Besitzwechsel mit rechten Dingen zuging. Die Rechte der Natives wurden einfach ignoriert …
Da fühlte ich Fremdscham und mich nicht wohl in meiner Haut. Ich spürte: Unsere Generation hatte da etwas wiedergutzumachen …
Und so las ich denn weiter, bestürzt und beschämt, dass ein großes Gebiet 1942 als Bomenabwurf- und später als ArtillerieÜbungsgelände beschlagnahmt wurde.
125 Familien mussten das Gebiet verlassen, da es massiv bombardiert wurde. Darüber hatte ich mal in einem ganz anderen Zusammenhang etwas gelesen, nämlich in einem Buch ausgerechnet über die Dinosaurier. Dort in den Badlands liegen massenhaft fossile Riesenknochen von Sauriern, Urzeit-Rhinozerossen und anderen Tieren der Mega-Fauna herum – und diese auffälligen Landmarken dienten damals sogar bei Schießübungen als Zielscheiben! Nicht zu fassen!
2008 beschloss die US Air Force, 1,6 Millionen Dollar in Aufräumarbeiten zu investieren. Am 3. Oktober 2011 wurden die letzten vier bekannten Blindgänger kontrolliert gesprengt. Die Besitzer der Grundstücke bekamen allerdings nie eine ausreichende Entschädigung.
Die letzten bekannten Blindgänger, wohlgemerkt – und was, wenn noch weitere, übersehene, unbekannt und unerkannt im Boden schlummerten …? Den Detektoren entgangene, nicht detonierte Geschosse? Ehemalige Minenfelder sind bekanntlich nach wie vor latent gefährlich … Und hinzu kam ja noch die Belastung mit den Rückständen von womöglich giftigen Kampfstoffen und Schwermetallen, die den Boden kontaminierten …
Eifrig erzählte ich Illona von den Dritte-Welt-artigen Zuständen in den Reservationen, vor allem in der ärmsten von allen, Pine Ridge in South Dakota. Von der Perspektivlosigkeit bei 85% Arbeitslosigkeit erzählte ich, von den 60% Diabetes durch Fast Food, aber auch von der Tapferkeit der Menschen, die auf dem dürren Land ausharrten, das ihnen noch geblieben war – das gute Land hatten die weißen Siedler ihnen ja damals durch Vertragsbrüche weggenommen, als 1874 in den Black Hills Gold entdeckt worden war. Doch auch von den Widersprüchen erzählte ich, von Korruption und häuslicher Gewalt, von Alkohol und Drogen, aber auch von Wegen, da wieder herauszukommen. Und von den Hilfsorganisationen vor Ort, die Hilfe zur Selbsthilfe boten, damit aus einem kollektiv traumatisierten, entrechteten Volk wieder ein stolzes und selbstbewusstes Volk werden konnte. Vom Büffeljäger zum Büffelzüchter, zwischen Tipis und Trailern, im Spagat zwischen Tradition und Anpassung an die Moderne, zu der man sie ungefragt gezwungen hatte.
Das Thema „Hilfsorganisationen“ ließ mich irgendwie innerlich aufhorchen. Doch noch waren dies alles vage Gedanken: Die Hilfe durfte nicht von außen aufgezwungen werden, dachte ich mir, sie sollte nicht gönnerhaft geleistet werden, auch keine irgendwie erzwungene Wiedergutmachung … sondern einfach das Engagement von Menschen, die sich gemeinsam für eine gute Sache einsetzen.
Dann kam ein Erlebnis, das so ganz anderer Art war als alle bisherigen, und doch meinem Leben eine andere Richtung geben sollte, ja sogar unserer beider Leben. Es war wie der letzte kleine Anstoß, der noch fehlte. Wieder war ein schöner Tag, dazu Wochenende, und wir machten eine Fahrrad-Tour ins Grüne. Leicht und beschwingt eilten wir dahin, draußen vor der Stadt, zwischen den Feldern, auf geteerten oder sandigen Feldwegen. Gräser und Wildblumen nickten am Wegesrand. Wir waren einfach froh und befreit nach einer anstrengenden Woche und freuten uns, dem Stadtleben und seinem Stress zu entfliehen.
Am Sommerhimmel zogen Wolken, weiß und feierlich, auf ihrem Weg in ferne Länder. Da es sehr warm war, machten wir Rast am Wegesrand und setzten uns auf einen großen Feldstein. Erhitzt tranken wir von unserem isotonischen Sportler-Drink. Dabei beobachtete ich entspannt die weißen Sommerwolken. Eine der Wolken hatte es mir ganz besonders angetan, sie quoll auf und veränderte ständig ihre Formen. Das war spannend, und ich sah ihr zu.
Die Wolke vor mir zerfloss im Himmelsblau. Strahlend weiß war sie, und mächtig, dabei leicht wie Federflaum. Es war eine Mischung aus Haufenwolke und einem Hauch von Eiswolke, ausgebreitet zog sie dahin wie auf weißen Schwingen – aber ja, es waren riesige Schwingen, und die Wolke quoll weiter auf und nahm Form an, und jetzt glich sie eindeutig einem Adler. Einem überdimensionalen, weißen Adler.
Inzwischen hatte ich einen Blick für so etwas bekommen, und ich nahm die Wolkenbotschaft ernst, als eine Manifestation des Großen Geistes. Für mich war das nicht mehr bloß eine Wolke, die zufällig wie ein weißer Adler aussah. Sie WAR für mich zur Darstellung eines Adlers geworden, vom Weltgeist aus seinem lebendigen, kreativen Lufthauch geschaffen, damit ich sie sah und als Symbol verstand. Der Große Geist hatte diese Wolke für mich geschaffen, um mir etwas mitzuteilen. Es konnte kein Zufall sein, einen perfekten Wolken-Adler an den blauen Sommerhimmel projiziert zu finden, so als sei ein realer Adler als Figur dort zu sehen wie ein gigantisches Dia-Bild, nur eben als weiße Silhouette. Es stimmte alles: der Kopf, der gebogene Schnabel, die Proportionen, die ausgebreiteten Schwingen, ja sogar die gezackten Schwungfedern und der fächerförmig ausgebreitete Schwanz. Auch Illona neben mir sagte: „Oooooh … schau mal: Die Wolke da sieht ja genau aus wie ein Adler!“
Du siehst es also auch, dachte ich erleichtert, ich mache mir also nichts vor – diese Wolke da ist wirklich ungewöhnlich – jeder sieht das, wenn er nur einen halbwegs aufmerksamen Blick hat für seine Umwelt!
Und wir schauten fasziniert weiter nach oben, mit staunenden Blicken, ich glaube, mir stand dabei der Mund offen wie bei einem Kind, doch das machte gar nichts: Die Natur ist großartig und erschafft immer neue, erstaunliche Formen, flüchtig und vergänglich, doch von einer kraftvollen Dynamik.
Und der Wolken-Adler wirkte auf meine Sinne. Nicht nur auf meine Augen, die ich andächtig zu ihm empor hob, sondern auch auf meine inneren Sinne. Ich hörte in mir quasi seine Botschaft: „Nimm deine vergangenen Leben ernst und kehre dorthin zurück, zu den Nachfahren eurer gemeinsamen Ahnen, und gib den Menschen und der Natur dort etwas zurück von dem, was ihr ihnen durch euer modernes Leben und die Gier einer materialistischen Gesellschaft genommen habt. Ihr seid alle Brüder. Gib ihnen Respekt und Anerkennung zurück, und hilf ihnen, die Reste der Natur zu schützen, die gegenwärtig global so rücksichtslos zerstört wird!“
Es war mir plötzlich ganz klar, dass diese Botschaft aus der Natur zu mir herüber kam, ganz ohne Worte, als große, einfache Gewissheit. Ich war ergriffen von der Bestimmtheit, mit der ich wahrnahm, dass ich jetzt Ernst machen musste mit einer neuen, ganzheitlich-ökologischen Lebensweise, und mit der Suche nach meinen verschütteten Wurzeln. Es war fast so etwas wie eine kleine Vision, die ich da hatte, als ich die Botschaft des Wolken-Adlers für mich erkannte. Ich war jetzt und hier ein Weißer, ein Jugendlicher aus Europa – doch welchen kulturellen Brückenschlag würde ich konkret nach drüben machen können, ins Land der rollenden Hügel der Prärie? Ehrlich gesagt – ich hatte keine Ahnung.
Wir saßen da auf dem sonnenwarmen Stein, und ich begann eine Diskussion über unsere Zukunft – der Zeitpunkt schien mir jetzt gekommen, während der Wolkenadler entschwebte und sich wie ein Spuk in andere Wolkenbilder auflöste. Der Hauch des Großen Geistes. Nun durfte das Ganze nicht in die Esoterik-Ecke abdriften, sondern es sollte etwas Praktisches, für Umwelt und Gesellschaft Nützliches daraus werden.
„Du“, sagte ich zaghaft, aber bestimmt, „ich – ich würde gern, dass wir beide nicht so einfach drauflos leben, gedankenlos und nachlässig, sondern uns irgendwie sozial und im Umweltschutz engagieren …“
Illona nickte erfreut. Damit hatte ich einen Nerv bei ihr getroffen. Ermutigt fuhr ich fort: „Ich hab ja nun VWL mit Wahlfächern in BWL studiert – da würde ich ganz gern, also planerisch bei der Betriebsführung einer Grassroot Organization mitmachen oder so –“ Noch etwas vage zuckte ich die Achseln. „Aber es müsste schon was sein, wovon ich – wovon wir leben können, kein ehrenamtliches Coaching also, so gern ich das auch machen würde …“ Meine vagen Pläne waren noch wie das Tasten im Dunkeln, das Stochern im Nebel. „Irgendwie so was, halt …“, sagte ich hilflos.
„Dann geh doch zu deinen Indianern und mach bei denen mit, irgendwo in der Verwaltung, was weiß ich …“
„… zu meinen Indianern?“, echote ich.
Sie lachte. „Das war nicht bös gemeint – aber ich weiß ja, dass du dich emotional so sehr mit ihnen verbunden fühlst, aufgrund deiner Vorgeschichte …“
„Ja – aber was wird dann aus dir? Gesetzt den Fall, ich finde wirklich ‘nen Job als Betriebswirt in irgend ‘ner indigenen Firma, falls so ein Posten überhaupt mal ausgeschrieben wird, etwa bei der Produktion und Vermarktung traditioneller Nahrungsmittel oder Solar-Energie oder was weiß ich, falls die mich da überhaupt haben wollen – und wo bleibst dann du???“
Wäre sie beispielsweise Ärztin oder Krankenschwester gewesen, so was wird ja immer gebraucht, oder auch Lehrerin, dann hätte sie ja dort Englisch und Deutsch unterrichten können und Hausaufgaben betreuen, aber so …?
Da kam mir Illona zu Hilfe – ausgerechnet mit dem, was so sehr zu ihr gehörte und was ich so lange als ihren typischen Wesenszug an ihr abgelehnt hatte: „Du – ich hab‘ da ‘ne Idee … wenn ich eh Kindergärtnerin werde – dann könnte ich doch auch drüben im Indianer-Reservat arbeiten …?“
Warum hatte ich nicht selbst daran gedacht? Also würde es doch eine gemeinsame Perspektive geben! Gemeinsam mit Illona, als meiner treuen Begleiterin, die sich tatsächlich dazu entschlossen hatte, mir dorthin zu folgen, mit dem Vorsatz, sich für die dortigen Kinder zu engagieren.
Ich begann gezielt, noch intensiver über die aktuellen Lebensbedingungen der Native Americans auf speziellen Websites zu recherchieren, mich über ihre Lebensweise zu informieren. Dabei stieß ich nicht nur auf jene deprimierende Daten und Fakten wie etwa 85% Arbeitslosigkeit und 60% Diabetes, sondern auch auf die Geschichte einer jahrhundertelangen Diskriminierung. Für die First Americans waren ja die europäischen Siedler diejenigen mit Migrationshintergrund, die oftmals als Flüchtlinge vor unhaltbaren politischen oder wirtschaftlichen Zuständen in die neue Welt kamen, in der verzweifelten Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Kartoffelpest in Irland, welche eine furchtbare Hungersnot ausgelöst hatte, war da nur ein Beispiel.
Die Natives hatten die ersten Siedler ursprünglich durchaus wohlwollend aufgenommen. Einige frühe Siedler wie William Penn träumten sogar von einer guten Nachbarschaft. Doch dann hatte die Gier der Weißen nach Land und Gold alles zerstört, die Einfuhr von Fusel und Feuerwaffen tat ein Übriges, den Rest besorgten eingeschleppte Krankheiten. Die Natives wurden von den Strömen weißer Einwanderer dezimiert, genau wie ihre Brüder, die Büffel. Als die Weißen erst einmal in der Überzahl waren, begannen sie, die Einheimischen als „Barbaren“ zu bezeichnen und an den Rand zu drängen, versuchten teilweise sogar, sie gezielt auszurotten … Die Diskriminierung setzte sich in den Köpfen fest. Indianerkriege – als jene nur ihr Stammesland verteidigten! – und als Gegenreaktion Genozide gegen die Urbevölkerung – fanden noch ihren Nachhall, als jene Zeiten des „Wilden Westens“ längst vorbei waren, die Prärie weitgehend gezähmt und befriedet, als vielerorts eingezäuntes Ackerland an die Stelle von freier Büffelweide trat …
Das Wort „Indianer“ kam mir immer unpassender vor: Es beruhte ja nur auf dem historischen Irrtum eines Herrn Columbus, der zeit seines Lebens vermeinte, den Weg nach West-Indien gefunden zu haben; zudem degenerierte das Wort „Indians“ bei den weißen Siedlern in Nordamerika sehr rasch zum Schimpfwort. Daher dann doch wohl besser: „First Americans“ oder „Natives“ oder am besten gleich die eigene Stammes-Bezeichnung. Wobei das Wort „Sioux“ ja auch gar nicht die echte Eigenbezeichnung war, sondern nur die Verballhornung einer Fremdbezeichnung durch einen feindlichen Stamm … Gut, so würde ich mir das Wort „Lakota“ merken – diese Selbstbezeichnung bedeutet zugleich „Alliierte, Verbündete, Freunde“ – also das genaue Gegenteil von „Sioux“, was von „Nadouessioux“ herstammt, einer Bezeichnung durch feindliche indigene Scouts, und so viel wie „Miese Schlange, Feind“ bedeutet.
Ironie der Geschichte, dass diese einfache Wahrheit so lange verkannt und mit Füßen getreten wurde: Die Menschen können Freunde sein, wenn man sie sich nicht zu Feinden macht.
Wir mailten intensiv mit der Reservatsverwaltung von Pine Ridge. Ja, man könne uns durchaus brauchen. Man könne jede helfende Hand brauchen, gerne. Wir sollten nur kommen. Das Schwierigste war noch, eine Green Card oder etwas Ähnliches als Visum zu bekommen – hier half uns eine internationale Hilfsorganisation, die auch einige Hauptberufliche neben ehrenamtlichen Helfern vermittelte.
Es dauerte eine ganze Weile – nervzehrendes, banges Warten. Illona hatte inzwischen ihre dreijährige Ausbildung als Erzieherin abgeschlossen, ich jobbte derweil als HiWi an der Uni und übernahm auch diverse Gelegenheits-Jobs wie als Aushilfs-Fahrer für eine kleine Firma. Etwas anderes fand sich derzeit ohnehin nicht für mich – hätte mir ein guter Job in Deutschland die Entscheidung, in die ärmste Reservation Nordamerikas zu gehen, vielleicht doch wieder schwerer gemacht? Ich wusste es nicht und wollte es auch gar nicht wissen. Ich wusste nur: Wenn ich nicht dorthin gehen und meine Mitarbeit vor Ort anbieten würde, dann würde ich mir wie ein Verräter vorkommen.
Dann kam der Tag. Vor dem Haus hielt der Flughafen-Shuttle. Illona hatte darauf bestanden, sich diesen kleinen Luxus zu gönnen und nicht mit dem Zug zum Flughafen zu fahren, wie ich vorgeschlagen hatte, denn sie meinte – sicher zu Recht –, dies würde auf Jahre hinaus wohl so ziemlich der letzte Luxus sein, den wir uns würden leisten können. So ersparten wir uns den umständlichen Weg zum Bahnhof mit Bus oder Straßenbahn und ließen uns direkt bis vor unser Abflug-Terminal chauffieren. Andererseits hatten wir ja auch brav einen Zuschlag fürs Flugticket zum CO2-Ausgleich bezahlt. Wir hatten die Wahl gehabt, über Chicago oder Denver nach Rapid City zu fliegen. Illona hatte sich für Denver entschieden, weil man von dort aus angeblich auf die Rocky Mountains blicken konnte. Das wollte sie sich nicht entgehen lassen.
Wir wurden wie durch Raum und Zeit katapultiert, und eine Zeitdifferenz von 8 Stunden ließ in uns das Gefühl aufkommen, dass wir ganz real unserer Zukunft entgegenflogen. Als Denver über den Bord-Lautsprecher angekündigt wurde, stieg unsere Aufregung noch.
Das mit den Ausläufern der Rockies stimmte sogar. In Denver stiegen wir um, in eine Regional-Fluglinie. Die nächste Überraschung war, dass der kleine Ziel-Flughafen von Rapid City aussah wie eine Mischung aus einem gemütlichen, großen Wohnzimmer und einem kleinen Indianer-Museum, mit Vitrinen voller Federhauben und Fotos aus der Western-Zeit. Draußen grüßten die Black Hills herüber als verkleinerte Version der Rockies. Das alles stimmte uns ja schon mal ein … Wir nahmen unseren vorbestellten Mietwagen und fuhren los …