Читать книгу Abi und ein paar andere Probleme - Rebecca Rasmussen - Страница 4
Allein zu Haus
ОглавлениеIn den Sommerferien bin ich zu Hause geblieben, allein. Mein schrecklicher Bruder war für drei Wochen in einem Feriencamp auf Langeoog und meine Eltern fuhren für zwei Wochen nach Travemünde. Natürlich gab es zunächst den alljährlichen Streit zwischen meinen Eltern, wohin sie denn fahren sollten: Meine Mutter will immer an den Strand, am liebsten im Süden, mein Vater will in die Berge. Meine Mutter hat mal wieder gewonnen, aber mein Vater hat wenigstens erreicht, dass er nicht in den Süden fahren und bei 30 Grad in der Sonne schmoren muss. „Da ist ja auch Thomas Mann mit seiner Familie immer hingefahren“, hat er über Travemünde gesagt. Das hat meine Mutter kompromissbereit gemacht. Dass Alex in ein Feriencamp wollte, haben meine Eltern gerne hingenommen. Wer will sich auch schon freiwillig von meinem Bruder den Urlaub versauen lassen? Aber dass ich auch nicht mitwollte, haben sie nicht so leicht akzeptiert. Ich schwimme eigentlich ganz gern im Meer; aber die Ostsee ist doch ein Tümpel. Da sind die Wellen kaum 20cm hoch, und vor allem habe ich wenig Lust am Strand von Travemünde zu liegen, trotz Thomas Mann. Da gibt es mir einfach zu wenig Bäume. Und dann muss man sich einölen und hat dann den Sand an sich kleben. Und dann muss man ins Wasser gehen, um den Sand wieder loszuwerden und sich dann wieder einölen, damit man keinen Sonnenbrand bekommt, und dann geht das Spielchen wieder los. Oder es regnet. Dann hockt man den ganzen Tag im Hotel und denkt daran, dass man zu Hause viel mehr Platz hat. Der Hauptgrund aber, warum ich nicht mitwollte: Ich wollte endlich mal alleine sein.
Ich habe die Sache auch geschickt angestellt oder, um mich mal Kentucky-schreit-ficken- mäßig auszudrücken: Das habe ich gefickt eingeschädelt: Ich habe mir einen Ferienjob für vier Wochen im Supermarkt besorgt, und der Urlaub meiner Eltern fiel „unglücklicherweise“ genau in diese vier Wochen.
„Wir können dich doch nicht hier allein lassen“, hat meine Mutter gemeint, „und was willst du essen?“
„Trockenes Brot und Wasser“, habe ich gesagt, „und ab und zu einen Regenwurm. Ich soll doch abnehmen.“
Das war doch eine nette Antwort, fand ich. Das überzeugte meine Mutter aber nicht. Psycho bleibt psycho:„Wenn wir wiederkommen, werden wir unser Heim nicht wiedererkennen. Wahrscheinlich finden dann hier die wildesten Orgien statt.“
„Jassi ist doch vernünftig“, hat mein Vater gesagt. „Auf dich kann man sich doch verlassen, Jassi, oder?“
Ich habe keinen Grund gesehen, ihm zu widersprechen.
Meiner Mutter gingen die Argumente aus:
„Du sollst doch nicht immer Jassi sagen. Unsere Tochter heißt Yasmine. Jassi sagt der Schmitz zu seinem Hund, wenn er vor die Tür will: Kumm, loßens Jassi jonn.“
Vielleicht hat meine Mutter doch Sprachtalent. Ich hatte aber keine Zeit, mich darüber zu wundern. Ich musste nachsetzen:
„Es ist doch schön, wenn ihr mal ohne Kinder Urlaub machen könnt“, habe ich gesäuselt. „17 Jahre lang habt ihr euch mit uns herumplagen müssen, da könnt ihr euch auch mal einen richtigen Urlaub gönnen.“
Ich kam mir vor wie ein Therapeut: Immer positiv bestärken statt zu meckern. Die fünf Stunden bei der Psychotante haben sich ausgezahlt.
„Die Kinder sind jetzt in dem Alter, in dem man sie auch mal loslassen muss“, hat mein Vater gemeint. „Und dann finde ich es ja auch gut, dass Jassi ins Arbeitsleben hineinschnuppert und erfährt, wie man Geld verdient.“
Das war´s dann. 14 Tage allein, ein Traum! Im Supermarkt habe ich an der Kasse gesessen, mal Frühschicht, mal Spätschicht. Wenn man sich nicht zu blöd anstellt, beherrscht man den Job nach einem halben Tag. Der Computer kennt ja die Preise. Es kamen viele Bekannte vorbei, die mich alle freundlich gegrüßt haben. Die Gutmenschen, die gemeint haben, ich sei zu bedauern, weil ich meine Ferien an der Kasse verbringen müsste, habe ich damit getröstet, dass ich den halben Tag frei hätte. Am Anfang habe ich ein bisschen Rückenschmerzen bekommen; aber ich hatte bald heraus, wie man sitzen muss, damit sich der Rücken wieder entspannt.
Wenn ich zu Hause war, ging ich zuerst einmal durchs ganze Haus und sagte mir: „Das ist jetzt alles mein!“ Ich hielt mich meist im Wohnzimmer statt in meiner Kammer auf, weil ich den großen Raum auf mich wirken lassen wollte. Manchmal kam Gesa vorbei, die wegen Nico nicht wegfahren wollte. Nico jobbte nämlich in den Ferien bei Mercedes.
In den 14 Tagen, die meine Eltern in Travemünde abhingen, gab es wie bestellt eine Hitzeperiode: 30 Grad in Norddeutschland. Ich gönnte meiner Mutter das Vergnügen, vor allem aber meinem Vater, weil meine Mutter ihn so nicht wegen der Wahl von Travemünde schikanieren konnte. Ich habe mich aber auch gefreut, als es drei Tage gegossen hat. Ein bisschen Strafe muss ja auch sein.
Wenn ich Frühschicht hatte, bin ich am Nachmittag mit Gesa ins Schwimmbad gegangen. Wie gesagt, schwimme ich gerne. Erstaunlicherweise war das Schwimmbad voll, obwohl doch alle Leute im Urlaub sein sollten. Wir fanden aber trotzdem immer einen schattigen Platz unter einem Baum, wo sonst nur Mütter mit kleinen Kindern Schutz suchen. Die meisten Leute wollen nämlich lieber in der Sonne braten. Gesa weiß, dass ich nicht in die pralle Sonne will, und sie braucht keine Sonne. Sie ist so ein dunkler Typ, der sogar braun wird, wenn er noch die Kleider anhat.
Wir blieben aber selten allein. Im Gegensatz zu mir ist Gesa sehr kommunikativ, wie das auf gut Neudeutsch heißt. Also schauten einige Freundinnen vorbei, um mit uns zu quatschen. Und da Gesa auch noch süß aussieht, bemühten sich auch einige Jungs zu uns und versuchten sie in die Sonne zu locken, was sie immer ablehnte. Besonders nervig war Stefan aus unserem Jahrgang, ein richtiger Blödmann und Partyhengst, der glaubt, er habe bei Frauen einen Schlag.
„Einsam?“, fragte er, als er mit Zigarette im Mund auf uns zu schwankte.
„Zähl mal!“, sagte Gesa, „Oder kommst du nicht bis zwei?“
„Ich komm´ sogar bis drei“, meinte er und zählte: „Eins, zwei, drei.“
„Wie schön war doch die Einsamkeit!“, stöhnte Gesa und schaute zu mir hin.
„Willst du nicht mit in die Sonne?“, fragte Stefan.
„Da wird man so geblendet“, klagte Gesa.
„Geblendet?“
„Ja“, sagte Gesa, „da sitzen so viele Blender herum.“
Trotz seiner wenigen Hirnzellen schnallte Stefan, was gemeint war. Nach der bekannten Anmacherdevise, dass Angriff die beste Verteidigung ist, versuchte er sich in Ironie:
„Von so viel Geist bekomme ich Kopfschmerzen. Au!“
„Dann kühl´ ihn dir mal ab!“, sagte Gesa.
Er trollte sich.
„Bis bald, Schnuckiputzi!“, rief er noch einmal aus sicherer Entfernung.
Nicht dass ich besonderen Wert darauf gelegt hätte, von Stefan angemacht zu werden, störte es mich doch, dass er mich wie Luft behandelt und nur mit Gesa geredet hatte, obwohl die doch, wie alle wussten, mit Nico zusammen war.
Ich rächte mich, indem ich mir Stefans Zukunft ausmalte:
„Ich stelle mir vor, wie Stefan in zehn Jahren als langjähriger Hartz IV-Empfänger in einem alten, dreckigen Feinripphemd und in einer Schlabberjogginghose vor dem Fernseher sitzt, Chips frisst und Bier säuft“, sagte ich zu Gesa.
„Genau“, antwortete Gesa lachend, „du bist eine Prophetin. Genau so wird er da sitzen und seiner Frau, die so blöd war ihn zu heiraten, ins Gesicht rülpsen: alte Schlampe!“
„Kann der Blödmann mich nicht wenigstens grüßen?“, fragte ich. „Schließlich wird er mal von unsern Steuern leben.“
„Du wirkst ein bisschen arrogant und abweisend“, tröstete mich Gesa.
„Das bin ich aber gar nicht“, protestierte ich.
„Das weiß ich doch“, sagte Gesa, „aber so ein Trottel wie Stefan ist natürlich zu blöd, hinter die Fassade zu schauen. In diesem Fall kannst du allerdings froh sein, dass du nicht durchschaut worden bist.“
Ganz überzeugt war ich nicht von diesem Trost. Ich bin eigentlich gar nicht arrogant, ich bin nur schüchtern. Natürlich gibt es Leute, die ich blöd finde, weil sie eingebildet oder unfair sind. Aber die meisten finde ich eigentlich ganz ok. Ich weiß gar nicht, warum ich so schüchtern bin. Eigentlich habe ich gar keinen Grund dazu. Ich bin nicht dumm und ich sehe zumindest erträglich aus. Das sage ich mal in aller Bescheidenheit. Trotzdem habe ich Angst vor Zurückweisung und mache deshalb den Mund vor den meisten Menschen nur auf, wenn ich etwas weiß und mir sicher bin. In den zwischenmenschlichen Beziehungen ist man aber nie sicher. Man weiß nie, was die Menschen wirklich meinen, außer ein paar Bekannten. Warum ich aber so viel mehr Angst vor Zurückweisung habe als die meisten, weiß ich nicht. Vielleicht hätte ich doch noch länger zu der Psychotante gehen sollen. Die hat in meiner Kindheit rumgestochert. Ich konnte mich zwar an dies und das erinnern, aber ein richtiger Hammer war nicht dabei. Vielleicht habe ich auch einfach zu viel Phantasie und denke viel Schlechtes in die Leute hinein, die ganz harmlos auf mich zukommen.
Gesa war inzwischen eingedöst, weil sie in der letzten Nacht in der Disco serviert hatte. So konnte ich meinen Gedanken nachhängen. Weil ich schüchtern bin, spiele ich gerne Theater. Da kann man alles herauslassen, was man an Gefühlen hat: Man kann verliebt sein oder richtig böse. Man kann auch einen Großkotz spielen, ohne dass man sich dafür rechtfertigen muss. Es steht ja alles so im Skript. Deshalb bin ich auch gleich in die Theater-AG gegangen, als ich in die Oberstufe gekommen bin. Am liebsten spiele ich Spötter, so richtig fiese Leute. Das macht Spaß.
Ich ließ meine Augen zum Pool schweifen. Da lagen sie alle, die nicht weggefahren oder schon wieder zurückgekommen waren: meine Mitschüler und einige andere Jugendliche, im Mittelpunkt Teresa, unsere Barbie: strohblonde Haare und trotzdem braune Haut und eine Topfigur. Das musste man einfach neidlos anerkennen. Sie hatte zu Hause bleiben müssen, weil ihr Vater nicht weg konnte. Er war Leiter eines Kaufhauses und sein Stellvertreter, der den Job im Sommer hatte übernehmen sollen, hatte einen Herzinfarkt erlitten und lag im Krankenhaus. Und der neue Vize musste erst eingearbeitet werden. Teresa ist eigentlich gar nicht blöd, trotz ihrer blonden Haare und ihrem Babyface. Sie ist sogar ausgesprochen nett und freundlich. Sie tut mir trotzdem ein bisschen leid, erstens, weil alle Leute denken, sie müsste doch blöd sein, wenn sie so gut aussieht, und zweitens, weil Top-Aussehen ein Problem sein kann. Ich habe neulich einen Bericht im Fernsehen gesehen über solche Leute, die sich zu einem Meeting bei „Beautiful people anonymous“ getroffen haben. Das ist eine Organisation wie die der Anonymen Alkoholiker. Ich dachte zuerst: Was soll der Quatsch? Die Leute sollen doch froh sein, dass sie gut aussehen. „Ugly people anonymous“, das würde Sinn machen. Aber da habe ich was Erstaunliches erfahren: Auch die Schönheitsköniginnen haben ihre Probleme. Wenn man von allen Leuten immer angestarrt und bewundert wird, kann sich das zu einer richtigen Sucht entwickeln, genau wie der Alkoholkonsum bei den Alkoholikern. Die kriegen dann davon nie genug und suchen immer neue Bewunderer. Und dann besteht die Gefahr, dass die Schönen völlig passiv werden, weil ihnen alles zufällt, ohne dass sie etwas dafür tun müssen, außer sich schön zu machen. Und wenn sie dann älter werden und das mit der Schönheit ein bisschen nachlässt, dann wissen sie nichts mit sich anzufangen und sind frustriert, weil ihnen nicht mehr der Hintern nachgetragen wird. Da ist es schon besser, wenn man sich im Leben was erarbeitet hat, worauf man stolz sein kann.
Auf unsere Barbie sehe ich auch das Problem zukommen. Komischerweise hat sie keinen festen Freund. Man sieht sie mal mit dem einen, dann mit einem anderen zusammen, manchmal auch mit etwas älteren Männern in einem teuren Auto. Man weiß aber nichts Genaues. Ich glaube, sie will sich nicht festlegen, weil sie es genießt, so viele Bewerber um sich zu haben. Im Schwimmbad ist das besonders auffällig. Da hocken dann gleich fünf bis zehn Jungs um sie herum. Zum Glück tragen die ja heutzutage labbrige Badeshorts und nicht die knappen Badehosen wie in früheren Zeiten. Das muss ja damals schrecklich für die Kerle gewesen sein: So eine Barbie in Griffweite und dann mussten sie dauernd ins kalte Wasser springen, damit man die Beule in der Hose nicht sah.
Das große Wort in der Gruppe unten führte aber Sandra. Sandra ist Teresas beste Freundin, aber was das Aussehen anbetrifft, das Gegenteil von ihr. Von Figur kann man bei ihr gar nicht reden, sie ist ein Kloß, oder um es etwas gepflegter auszudrücken: Sie ist unvorteihaft proportioniert. Trotzdem strahlt jedes Pfund an ihr – und davon hat sie reichlich – ein gnadenloses Selbstbewusstsein aus. Sie ist witzig und zieht alle und alles durch den Kakao. Ihr Selbstbewusstsein ist durch nichts zu erschüttern. Auch wenn sie mal wieder in ein Fettnäpfchen tritt, was bei ihrer Geschwätzigkeit häufig vorkommt, gerät sie nicht in Verlegenheit, sondern lacht alles weg, und schon geht es weiter. Ich frage mich immer, wie sie zu so viel Selbstsicherheit kommt, genauso wie ich mich frage, warum die mir fehlt. Vielleicht sollte ich doch Psychologie studieren.
Gesa wachte wieder auf und unterbrach meine Gedanken. Sie war bei einem ganz anderen Thema:
„Eigentlich“, sagte sie unvermittelt, „ist das mit dem Sonnenbaden doch eine blöde Mode. Früher waren nur die armen Leute braun gebrannt, besonders die Bauern, die auf den Feldern arbeiten mussten. Da galt es als vornehm, blass zu sein, weil nur die Reichen und Mächtigen, also die Könige und Fürsten, nicht auf die Felder mussten.“
„Da wäre ich dann sehr vornehm gewesen“, klagte ich. „Ich bin zu spät geboren.“
„Und mich hätte man für eine Kuhmagd gehalten. Ich hab´mal gelesen, dass sich früher die Damen bei Hof dick eingecremt haben, bevor sie nach draußen gegangen sind, und dann haben sie auch noch einen Sonnenschirm getragen, damit sie ja kein Sonnenstrahl trifft.“
Ich freute mich über die Umkehrung des aktuellen Schönheitsideals und haute gleich in dieselbe Kerbe:
„Das Sonnenbaden ist ja auch nur eine Mode bei Nordeuropäern. Kein Italiener käme auf die Idee sich ausgerechnet in den Mittagsstunden in die Sonne zu legen. Da machen die Siesta im Schatten ihres Hauses. Und ausgerechnet die bleichen Nordländer, die so viel Sonne gar nicht vertragen, legen sich dann auf den Grill.“