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Kapitel Zwei

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April zögerte auf dem Bürgersteig außerhalb des Antiquitätenladens. Sie hatte sehr wenig Schlaf gehabt, dank dessen, dass sie über ihre Chefin und den gruseligen Spiegel nachgedacht hatte. Glaubte die Frau wirklich, dass sie aus dem Wunderland kam? Hatte sie schließlich den Punkt erreicht, an welchem ihr Verstand aufgehört hatte die Realität zu verkraften? Ms. Scarlet sah nicht einen Tag über fünfunddreißig aus, aber das bedeutete nicht, dass sie nicht älter war. Die richtigen Beautyprodukte und sogar Schönheitsoperationen konnten jeden täuschen.

Da April einen Gehaltsscheck brauchte, beschloss sie es klaglos durchzustehen und für ihre Schicht einstempeln zu gehen. Als sie sich der Tür näherte, vertiefte sich ihr bereits vorhandenes Stirnrunzeln. Das Schild im Fenster war nicht umgedreht worden, um auszusagen, dass das Geschäft offen war. Sich als geschlossen anzupreisen hatte vielleicht Kunden für die erste Stunde des Geschäfts abweisen können. Ms. Scarlet würde niemals an einem Sonntag schließen und den Touristenstrom verlieren, der sich nach Wochenendausflügen nach Hause aufmachte.

Sie zog am Griff, aber die Tür rührte sich nicht. Mit einem frustrierten Schnauben grub sie ihren Schlüssel aus ihrer ramponierten Kunstledertasche, doch bevor sie ihn in das Schloss einführen konnte, erschien Ms. Scarlet an der Tür. Als sie sah, wer es war, verwandelte sich der finstere Blick der Frau in ein Lächeln. Zuckersüß, und es machte April Angst.

Ich hätte mich krankmelden sollen.

Die Tür öffnete sich und April wurde gebeten hereinzukommen. »Ist an der Zeit, dass du beschließt zur Arbeit zu kommen.« Ms. Scarlet verschloss die Tür hinter ihnen. Die Lichter waren aus, bis auf die im Ausstellungsraum, in dem der Spiegel hing, aber hier kam das Licht nicht von den Vorrichtungen an der Decke. Kerzen erhellten beide Seiten der Auslage. Rote Rosen waren über den Fußboden verstreut, wobei die Blütenblätter wie vergossenes Blut chaotisch arrangiert waren.

»Ähm …« Was konnte sie womöglich über den Anblick vor ihr sagen, außer dass es sie mehr verunsicherte als es das wahrscheinlich sollte?

Ms. Scarlet trug eine lange, rote Robe mit fließenden Hängeärmeln, die in ein mittelalterliches Historiendrama gehörten. Ihr Haar war heute aus ihrem Pferdeschwanz in geschmeidigen rabenschwarzen Wellen heruntergelassen. Ihr Haar war normalerweise glatt. Es sah hübsch so aus, aber falls möglich, machte die Veränderung das sogar noch verrückter.

»Nun?« Ms. Scarlets dunkle Augen funkelten vor … gespannter Erwartung?

»Nun was?«, fragte sie.

Dramatisch seufzend packte Ms. Scarlet sie am Arm und führte sie ins Hinterzimmer. Sie ließ sie endlich los, so dass sie ihre Tasche abstellen und einstempeln konnte. »Du hast Glück, dass ich Kosmetika mitgebracht habe.«

»Wie bitte?« April wirbelte herum und blickte sie an. Von wo hatte sich diese Frau davongemacht?

Ms. Scarlet hielt eine Hand hoch, um sie zum Verstummen zu bringen. »Es ist keine Beleidung, aber du wirst gut aussehen wollen.«

Gut aussehen für was? Plötzlich dämmerte es ihr – wieder dieser verdammte Spiegel. »Ich habe nie irgendetwas zugestimmt.« Außerdem war das alles ein Haufen Mist. »Ich bin nach Hause gekommen und habe Recherchen über die Informationen angestellt, die Sie mir gestern erzählt haben.«

Lächelnd nickte Ms. Scarlet. »Ich wäre überrascht, wenn du das nicht getan hättest. Hast ein paar Ungereimtheiten entdeckt, oder?« Sie drehte sich auf ihrem Absatz um und steuerte durch den Raum auf, was wie ein roter Kosmetikkoffer in der Form eines Liebesapfels aussah, zu. Ein Kaliber, wie ihn professionelle Make-up-Artists benutzten. Er war einen guten Meter groß und wie Gepäck auf Rädern.

Mensch, denkt sie, dass ich so viel Arbeit nötig habe? »Tatsache ist, das habe ich«, erwiderte April. Ms. Scarlet hatte sich später über Alices Alter ausgelassen, als sie durch den Kaninchenbau und den Spiegel gefallen war, und es passte nicht zu dem Alter, wie die Geschichte sie dokumentiert hat, als die Bücher veröffentlicht wurden. Das heißt, natürlich, angenommen, dass die fiktionale Alice und die Alice, für die angeblich die Bücher geschrieben worden sind, tatsächlich dieselbe Person waren, was völliger Mumpitz war.

Die andere Frau zuckte mit den Schultern und öffnete den Koffer, wühlte durch diverse Fächer und suchte ein paar Dinge heraus. Sie schaute auf und deutete auf einen Hocker. Na ja, wenn ihre Chefin sie bezahlen und ihr ein kostenloses Umstyling geben wollte, sah sie kein riesiges Problem darin, obwohl sie nicht sicher war, warum sie eines brauchte. Ehrlich gesagt war sie noch immer ein wenig verletzt deswegen.

»Na ja«, drängte April, »haben Sie keine Ausrede dafür?«

Ms. Scarlet gluckste. »Warum sollte ich eine brauchen? Das Mädchen hat sich wie eine verwöhnte Göre verhalten, die dachte, dass sie das Recht auf ein Königinnentum hatte, weil sie clever genug war ein zweites Mal zurückzukehren. Nichts hat mich mehr erfreut als der Tag, an dem das Wunderland sie endgültig verstoßen hat. Ich habe eine Feier gegeben, die Monate dauerte.«

Alles, was April tun konnte, war zu gaffen. »Das war während des neunzehnten Jahrhunderts.«

»Die Zeit im Wunderland bewegt sich anders.« Sie winkte abweisend mit einer Hand. »Manchmal langsamer, manchmal schneller, manchmal rückwärts, manchmal vorwärts, und manchmal … nur manchmal … seitwärts, aber das ist selten. Es gibt keinen Weg wahrlich zu wissen, wann man hineingeworfen wird. Es ist neun Jahre her, seit ich … abgelöst wurde.« Der Ausdruck, der ihre Züge für einen Moment überzog, war reine Rage, aber dann lächelte sie und ihr Gesicht erweichte sich zu dem Vertrauten. Das einer Frau, welche sie willkommen geheißen hat und über die Jahre so nett zu ihr gewesen war. Diese Seltsamkeit war etwas Neues und deshalb war es so alarmierend. »Es könnte ein Jahr später sein, als dann, wann ich gegangen bin, es könnten einhundert sein. Ich denke nicht, dass es so extrem sein wird, aber bei ihrer Rückkehr war Alice nicht zu weit weg in ihrem Alter im Vergleich zum Rest von uns zu dieser Zeit.«

Selbst wenn das wahr war, was nicht sein konnte, waren die Informationen noch immer widersprüchlich. »Wie konnte es einen Nachweis geben, dass das erste Buch geschrieben wurde, bevor sie ihm die Geschichte erzählt hat, was ihr wiederfahren war?«

Die Antwort kam nicht sofort, aber der Primer, die Foundation und der Concealer kamen. Eine Menge Concealer. Etwas, das für ihr Selbstvertrauen nicht im Mindestens Wunder wirkte.

»Charles Dodgson, äh … Lewis Carroll war ein Schriftsteller, April. Er schrieb Geschichten und Gedichte und genoss es sich unsinnige Worte und Rätsel auszudenken. Er hatte bereits Material ohne Handlung. Hast du die Alice-Bücher gelesen, Liebes? Besonders das Erste hatte eine Menge zufälliger Szenen, während das Zweite eine zusammenhängendere Handlung hatte, wo Alice, die halbe Portion, versucht Königin zu werden, die Rote und Weiße Königinnen verspottet und missachtet –« Sie schniefte hochmütig und drückte einen Make-up-Schwamm so fest in ihrer Hand, dass ihre Nägel sich hineinbohrten. »Ich würde sie gerne schütteln, bis sie sich in ein verdutztes Kätzchen verwandelt, so wie das Buch besagte, dass sie es mit mir getan hat, dieser kleine undankbare Mensch.«

Oooooookay. Jemand hatte offensichtlich einige Probleme mit dem Ende von Hinter den Spiegeln und es war wahrscheinlich nicht hilfreich, dass sie dachte, sie wäre die tatsächliche Rote Königin.

»Wie auch immer«, sagte Ms. Scarlet, während sie einen Lidschattenpinsel herauszog und ihn in ein silbriges Pigment tauchte. »Er hatte bereits ein paar unsinnige Szenen geschrieben und war so von den phantastischen Geschichten vereinnahmt, dass er sie überarbeitet und miteinander verbunden hat. Das Wunderland ist magisch, oftmals gefährlich oder merkwürdig, und es ist erheblich anders zu dieser Welt, das ist wahr, aber wenn du dorthin gehst und absoluten Unsinn und Possen erwartest, wirst du bitter enttäuscht. Lewis Carrolls Wunderland ist eine Geschichte, ein Märchen seiner Anfertigung, das auf dem Gefasel eines Kinds basiert, für das er eine unangemessene Faszination hatte. Der echte Ort«, sie schloss ihre Augen und atmete tief ein, als ob sie die Luft in dieser imaginären Welt roch. »Es gibt keinen anderen Ort wie diesen.«

Das restliche Make-up wurde in völliger Stille aufgetragen. Als Ms. Scarlet fertig war, hielt sie einen Handspiegel hoch, um ihre Arbeit stolz vorzuzeigen. April nahm die Gabe an und gaffte. Ihre Chefin war heimlich eine Meisterin der Kosmetologie. Abgesehen von dem Augen-Make-up, das dunkler als gewöhnlich war, und dem roten Lippenstift, der das Kupfer in ihrem mahagonifarbenen Haar hervorbrachte, sah sie noch immer ziemlich wie sie selbst und nicht wie eine völlig Fremde aus.

»Bist du sicher, dass du nicht die Kleidung wechseln willst? Ich habe ein zusätzliches Kleid.«

Make-up war eine Sache. Bei der Arbeit Verkleiden zu spielen eine andere. »Ich hasse Kleider.«

Ms. Scarlet warf ihren Kopf zurück und lachte. »Wie ich mir wünsche, dass ich das Gesicht des Hutmachers sehen könnte, wenn du seine Talente beleidigst. Ich wusste, ich habe den perfekten Findling ausgewählt.«

April legte den Spiegel in einer langsamen, kalkulierten Bewegung ab, so dass sie nicht ihre Fäuste ballte. »Wie haben Sie mich genannt?« Was bedeutete das überhaupt? Findling? So wie … sie hat sie von der Straße aufgesammelt, ganz nach dem Motto wer’s findet, darf’s behalten, oder so?

»Nichts Schlimmes, falls es das ist, was du denkst.« Sie stand auf. »Dein Haar sieht anständig genug aus. Du solltest es öfter offen tragen. Es hat solch hübsche Wellen.« Jaah, und sie sollte wahrscheinlich auch mehr lächeln, richtig?

»Ähm, danke? Aber ich gehe nicht ins Wunderland.« Die Vorstellung ließ sie gegen ein Lachen ankämpfen. Würde ihre Chefin sie in den Spiegel schmettern? Was passierte, wenn April nicht darin verschwand?

Ms. Scarlet legte ihre Hände auf ihre Hüften und wölbte eine Braue. Sie sah herrschaftlich aus, wenn sie das tat. Es war beunruhigend, wie sehr sie wie die legendenumwobene Rote Königin aussah. »Und warum nicht?«

»Ich habe Fantasien und Märchen aufgegeben, als ich Jahre in einem Waisenhaus verbracht habe, bevor eine Pflegefamilie nett genug war mich aufzunehmen.« Und sie wurden dafür belohnt, indem sie von einem betrunkenen Sattelschlepperfahrer getroffen wurden und unverzüglich bei dem Zusammenstoß starben. Sie waren auf ihrem Weg gewesen, um die Adoptionspapiere zu unterschreiben, um sie zu überraschen. Die Traurigkeit hatte sie nie verlassen. Sie waren anständige Leute gewesen und sie hatten gewollt, dass sie ihre Tochter wurde. Etwas, das ihre echten Eltern nicht gewollt hatten. Sie hatte sie nie gekannt.

»Und deshalb bist du der perfekte Findling.«

Da war wieder dieses Wort.

»Komm schon, April. Leb ein wenig. Wenn ich nur ein Lügensack bin, dann kannst du darüber lachen und wirst noch immer für die Mühe bezahlt. Aber wenn ich das nicht bin …« Ms. Scarlett umklammerte ihre Schultern und schüttelte sie. »Wenn ich das nicht bin, könntest du ein Abenteuer, eine Romanze, was auch immer du dir erträumst, haben!«

»Vermutlich …« Aber wirklich eine Romanze? Mit wem, dem verrückten Hutmacher?«

Sie erlaubte es ihrer Chefin sie in den Ausstellungsraum mit den Kerzen und Rosen zu zerren. April sah sich und ihr geschminktes Gesicht, wie das Haar wellenartig über ihre Schultern stürzte, zerrissene Jeans, schäbige Sneaker und ein dunkelgraues T-Shirt, das möglicherweise einmal zu viel gewaschen worden war. Ehrlich gesagt fühlte sie sich immer ein bisschen fehl am Platz, und nicht wegen all dem Pech und der Einzelgänger-Atmosphäre, die sie abstrahlte. Es war einmal, da hatte sie sich nach Abenteuer, Romantik und Fantasie gesehnt. Aber diese Tage waren vorbei, als ihr die einzige gute Sache, die ihr widerfahren war, in nur einem Augenblick weggenommen wurde.

»Wag es nicht zu weinen und meine harte Arbeit zu verschmieren.« Ms. Scarlet klatschte ihr auf den Arm. Es stach. »Ich will nicht, dass du besorgt bist, aber das hier wird einen winzig kleinen Blutaustausch benötigen.«

April begegnete ihrem Blick im Spiegel, ihre Miene vollkommen ernst. Sie wirbelte herum und funkelte sie von Angesicht zu Angesicht an. »Wie bitte?« Und das war nicht einmal das Verrückteste gewesen, das sie den ganzen Tag gesagt hatte.

»Ich schneide in deine Handfläche und dann in meine, wir verschränken die Hände und berühren dann den Spiegel. Spiegel funktionieren nicht für jeden; ansonsten würde es jeder hindurchschaffen und die geheime Fähigkeit dieses Spiegels wäre nicht mehr so geheim, oder etwa nicht? Da ich früher dort gehaust habe, wird mein Blut kombiniert mit deinem ihm sagen, dass er dich dorthin bringen soll, um dich zu testen.«

Es gab jetzt einen Test? Niemand hat gesagt, dass es einen Test geben würde!

Moment … Warum stresste sie sich überhaupt deswegen, wenn es doch vollkommener Schwindel war?

Aber April wurde nicht die Chance gegeben zu diskutieren. Ms. Scarlet hob einen unheimlichen goldenen Dolch mit Rubinen im Griff auf, den sie unter einem Handhandtuch versteckt hatte, und packte dann Aprils Hand. »Wenn du dich wehrst, wird er tiefer schneiden als beabsichtigt«, sagte sie durch zusammengebissene Zähne, versuchte einen beständigen Griff um ihre Hand und den Dolch zu halten. Sie kerbte ihre linke Handfläche ein, in der Nähe ihres Daumens. Sie ließ April los, tat dasselbe mit ihrer eigenen und warf den Dolch zur Seite, als ob er Abfall war und keine unbezahlbare Antiquität.

Sie hielt schützend ihre Wunde in einer Hand und schüttelte ihren Kopf. »Sie haben den Verstand verloren.«

Ms. Scarlet lachte, aber dem mangelte es an Humor. »Wohl kaum. Gib mir deine Hand.«

»Nein.« Sie drehte ihren Körper weg, als die Frau nach ihr grapschte.

»Jetzt, Mädchen!«

Etwas an dem autoritären Tonfall ließ sie sich fügen. Vorsichtig bot sie die verwundete Hand dar. Der Schnitt war nur ein kleiner oberflächlicher Kratzer gewesen, aber pochte, als ob bis zum Knochen geschlitzt wurde. Blut strömte ungehindert heraus.

Ihre Wunde war gegen Ms. Scarlets gepresst, die es offenkundig nicht kümmerte, wie unhygienisch es war. April hoffte, dass ihre Chefin keinerlei Krankheiten beherbergte. Wenn man die Situation bedachte, wäre es nicht überraschend, wenn sie geistig krank war.

»Gemeinsam legen wir unsere blutigen Hände auf das Glas.«

Nickend trat April mit der Frau an den Spiegel heran und schluckte schwer. Das Glas war neblig, beinahe als ob hinter der Oberfläche Rauch aufgestiegen war. Gänsehaut brach über ihrer Haut aus. Sie legte zur selben Zeit wie ihre Chefin ihre Handfläche auf das Glas.

Die feste Oberfläche wurde eisig, so kalt, dass es brannte, und alles verschwand. Puff. Eine rauchig dunkle Leere öffnete sich unter ihrer Handfläche, und bevor sie reagieren konnte, schubste Ms. Scarlet sie hinein.

Das Verzaubern

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