Читать книгу Codex Sanguis – Gesamtausgabe - Rebekka Pax - Страница 9

KAPITEL 1

Оглавление

Julius

Septemberhitze stieg aus dem Asphalt und brannte sich durch die dünnen Sohlen meiner Schuhe.

Die Sonne war vor beinahe einer Stunde untergegangen, doch ihr glühender Brodem lag noch immer auf der Stadt. Licht, das ich seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte und trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, in jeder Faser meines Körpers zu spüren vermeinte. Im heißesten Monat des Jahres wünschte ich mir regelmäßig, die Stadt Los Angeles einfach verlassen zu können wie normale Menschen.

Doch ich bin nicht normal und – wie viele behaupten würden – auch nicht menschlich.

Raschen Schrittes näherte ich mich dem Wohnhaus, vor dem die Polizei kreuz und quer ihre Wagen abgestellt hatte. Blaulicht zuckte über die bröckeligen Fassaden heruntergekommener Art-déco-Bauten. In Gegenden wie dieser wechselten die Mieter alle paar Monate. Und jedes Mal verlangten die Landlords mehr Geld für die Bruchbuden, die außer einem billigen Anstrich noch nie eine Renovierung gesehen hatten. Aber angehende Schauspieler und Möchtegern-Playboybunnys, die mit hochtrabenden Plänen in die Stadt der Engel kamen, zahlten ein kleines Vermögen, um in Hollywood zu wohnen. Kurz darauf merkten sie dann, dass hier vor allem zwei Dinge zahlreich waren: Kakerlaken und Drogensüchtige. Von Glamour und Ruhm keine Spur.

Dennoch liebte ich mein kleines Revier, das ich noch aus seiner Glanzzeit kannte.

Ich blinzelte in das grelle Blaulicht und schob mich näher an den Bereich, den die Cops mit Absperrband versehen hatten. Und dann wurde mir flau. Dort lag jemand. Und zwar nicht irgendjemand, sondern Frederik Connan.

Lange hatte ich nach ihm gesucht, ihn vor drei Tagen endlich gefunden und seitdem regelmäßig beobachtet.

Jetzt lag er grotesk verrenkt auf dem Gehweg vor seinem Wohnhaus. Überall verspritztes Rot. Das heiße Blut verbreitete seinen schweren Geruch nach Eiweiß und Eisen, während es in der warmen Nacht zu hässlichem Braun vertrocknete.

Ich ließ mich von den Schaulustigen gegen das Absperrband drücken. Neben mir stand eine alte Frau mit gefärbten Haaren und aufgespritzten Lippen und jammerte in den Ärmel ihres Trainingsanzugs. Ich war mir sicher, die hatte Frederik Connan gar nicht gekannt.

Einige Jugendliche lungerten nicht weit entfernt bei einer alten Palme herum, rissen dumme Witze und versuchten, die Szene mit ihren Smartphones zu filmen.

„So eine Scheiße“, fluchte ich vor mich hin, während ich überlegte, wie kompliziert der Fall jetzt wurde. Alles sah nach Selbstmord aus, doch nach meinen Beobachtungen glaubte ich nicht, dass Frederik der Typ dafür war.

Der Sprung aus dem Fenster musste sein letzter Ausweg gewesen sein. Freitod statt Folter, die Entscheidung war ihm nicht zu verdenken. Vielleicht hatten ihn seine Verfolger auch gestoßen, dafür sprach die dramatische Körperhaltung, in der er den Beton umarmte.

Das Messer, das ich im Auftrag meines Meisters von Frederik hätte stehlen sollen, war für mich nun vorerst unerreichbar. Solange sich die Cops hier herumtrieben, konnte ich die Wohnung unmöglich durchsuchen. Abgesehen davon, dass mir Frederiks Mörder in dieser Hinsicht mit Sicherheit schon zuvorgekommen waren.

Ich starrte die Fassade hinauf zu dem offenen Fenster im vierten Stock. Eine Gardine blähte sich kaum merklich im Wind. Ein Sprung aus dieser Höhe auf harten Asphalt war ein sicheres Todesurteil, und Frederik hatte das gewusst.

Ein flaues Gefühl kroch durch meinen Unterleib und gemahnte mich daran, dass mein Meister über die Entwicklung, die der Fall genommen hatte, alles andere als glücklich sein würde.

Ich kehrte dem Tatort den Rücken, zog im Gehen mein Handy aus der Hosentasche, zögerte einen Herzschlag lang und drückte dann die eingespeicherte Nummer.

Wenig später wartete ich in einer dunklen Gasse in meinem Revier in Hollywood, nicht weit weg von den berühmten Boulevards und Touristenmeilen.

Dennoch war es dunkel hier und bis auf das stete Surren zahlreicher Klimaanlagen still. Minuten streckten sich zu kleinen Ewigkeiten. Ich wurde immer nervöser. Unruhig wie ein gefangenes Tier maß ich die Breite der staubigen Gasse mit wenigen Schritten, zog mir das Haargummi aus den widerspenstigen braunen Locken und band sie gleich darauf wieder zu einem kurzen Zopf. Dann vernahm ich das leise, vertraute Brummen der Limousine und hielt mitten in der Bewegung inne. Die Schultern gestrafft und aufrecht wie ein Gardesoldat erwartete ich meinen Meister.

Scheinwerfer schnitten Kegel in die Dunkelheit und ließen mich geblendet blinzeln.

Der Wagen hielt neben mir, und der Fahrer stieg aus. Während er die Hintertür öffnete, sank ich in die Knie. Obwohl ich Curtis nicht ansah, fühlte ich seinen Blick schwer auf mir ruhen. Wie immer schien er direkt in mein Innerstes schauen zu können.

Als er ausstieg, langte ich nach seiner Rechten, um ihn mit einem Kuss auf den Puls zu begrüßen. Damit ehrte ich das Blut in seinen Adern, das Blut, aus dem ich stammte. Doch heute überwog Furcht die Liebe, die ich für meinen Schöpfer empfand. Und Curtis konnte meine Angst riechen, ich musste förmlich danach stinken.

„Was ist, Julius?“ Seine Stimme klang ruhig, freundlich.

„Ich habe versagt. Frederik ist tot, ich konnte das Messer nicht finden. Gordons Männer waren vor mir dort.“

„Das ist nicht gut.“

Ich hob den Blick und sah Curtis zum ersten Mal direkt an. Er war schlank und für die heutige Zeit fast klein. Sein graues Haar und das hagere Gesicht verrieten, dass er sein sterbliches Leben erst mit über fünfzig Jahren beendet hatte. Er trug, wie so oft, einen Anzug, in dem er eher wie ein Geschäftsmann aussah als wie der mächtige Unsterbliche, der er ist. Einzig seine Augen entlarvten ihn. Seine Emotionen hatten sie blassblau werden lassen, und ich duckte mich unter der Gewalt seines Blickes. Er war wütend.

„Steh auf, Julius.“

Ich erhob mich so steifbeinig, als hätte ich schon viel länger gekniet. Schweigend erwartete ich seine Entscheidung.

Curtis seufzte. „Noch hat Gordon das Messer nicht. Da Frederik tot ist, hat die Waffe ihren Träger verloren. Ich kann spüren, dass die Klinge herrenlos ist. Du musst sie finden, bevor sie unseren Feinden in die Hände fällt. Wenn Gordon das Messer bekommt, kann er jedem Clan in L.A. und jedem Meistervampir gefährlich werden!“

„Ja, ich weiß.“

„Julius, wir beide haben vor fast einem Jahrhundert gesehen, was Gordons Irrsinn anrichten kann. Die anderen Clanherren verstehen den Ernst der Lage nicht. In ihren Augen hat er noch nichts Gefährliches getan, doch er schafft nicht grundlos so viele neue Vampire. Er baut eine Armee auf, wie damals in Paris. Das Messer darf nicht in seine Hände fallen!“

Ich nickte, starrte auf meine Schuhe und verfluchte, dass Curtis diesen Auftrag ausgerechnet mir zugeteilt hatte. Es gab genug andere im Clan der Leonhardt. Andererseits wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ihm dieses verdammte Messer zu besorgen, damit er stolz auf mich war und ich mich seines Vertrauens würdig erweisen konnte.

„Ich werde es finden“, sagte ich daher schnell.

„Steig zu mir in den Wagen.“

Sobald wir beide saßen, schloss der Fahrer die Tür und blieb draußen stehen. Weshalb wollte Curtis mit mir ungestört sein? Kam sie jetzt schon, die Strafe für meine Unfähigkeit? Ich würde sie klaglos erdulden.

„Julius, ich möchte, dass du herausfindest, wem Frederik das Messer hinterlassen hat. Immerhin war er Vampirjäger. Er wusste also, dass wir ihn beobachten.“

„Du meinst, er hat Vorkehrungen getroffen?“

„Mit Sicherheit hat er das. Finde den Erben des Messers, und, Julius …“

Etwas in seiner Stimme verriet mir, dass nun der unangenehme Teil kam. Nach zweihundert gemeinsamen Jahren konnte er kaum noch etwas vor mir verbergen. „Was, Meister?“

„Sobald du den Träger gefunden hast, machst du ihn zu deinem Diener. Vielleicht gelingt es uns auf diese Weise, die Waffe zu kontrollieren. Es heißt, das sei nur Menschen möglich.“

Erschrocken zuckte mein Blick zu dem wartenden Fahrer. Robert war Curtis’ Diener und folgte ihm auf Schritt und Tritt. Der Gedanke an einen menschlichen Schatten widerte mich an.

„Alles, nur das nicht!“

Curtis’ Züge wurden mit einem Schlag hart. „Ich will es so, Julius. Muss ich deutlicher werden?“ Seine Energie fasste wie eine eisige Hand an mein Herz, und ich erstarrte. Mein Schöpfer hatte die Macht, mich zu zerstören, wenn es ihm gefiel. Eilig senkte ich mein Haupt.

„Ich finde den Träger des Messers, versprochen.“

Die bedrohliche Atmosphäre verschwand, als hätte sie nie existiert, und Curtis legte mir die Hand auf die Schulter. „Ich respektiere deinen Wunsch nach Einsamkeit, Julius. Das weißt du. Sonst würdest du nicht alleine auf dem Friedhof leben, sondern bei uns in der Zuflucht. Ich verspreche dir, wenn das Messer erst einmal in unserem Besitz ist, findet sich ein Weg, den Diener wieder loszuwerden.“

Er dachte an Mord. Und ich tat es auch.

***

Amber

Ich saß auf der Rückbank und starrte an den Polizisten vorbei durch die Frontscheibe. Der Wagen bahnte sich seinen Weg durch die Straßen von L.A. Gelbliches Laternenlicht tauchte die Stadt in einen unwirklichen Schimmer.

Es war weit nach Mitternacht, fast schon wieder Morgen. Der Himmel erstreckte sich in orangenem Grau über uns und diente den übergroßen Reklametafeln auf dem Sunset Boulevard als fade Kulisse. Kurz folgte mein Blick einer Gruppe junger Männer, die gerade die Bar Marmont verließen und ausgelassen die Straße hinuntertanzten. Frederik war im gleichen Alter gewesen, doch mein Bruder würde nie wieder fröhlich sein, nie wieder lachen – er würde überhaupt nichts mehr, denn Frederik war tot.

Der Gedanke war sperrig und wollte in meinem Verstand einfach keinen Platz finden. Tot! Mein großer Bruder. Mein Beschützer aus Kindertagen hatte sich mit einem einzigen Sprung zugleich aus seinem und aus meinem Leben katapultiert.

Frederik war immer für mich da gewesen, bis er vor einigen Jahren angefangen hatte, sich zu verändern. Der Gedanke an glückliche Tage ließ meine Augen brennen. Häuser und Menschen verschwammen wie auf einem nassen Aquarell, doch ich kämpfte die Tränen noch einmal hinunter. Ich hatte mir geschworen, stark zu sein, vor allem vor den Polizisten.

Als die beiden Männer vor ein paar Stunden an unserer Haustür klingelten und mir und Ma mitteilten, dass Frederik vermutlich tot war, hatte etwas in mir ausgesetzt.

Meine Gefühle waren seitdem wie abgeschaltet. Es kam mir vor, als beobachte ich mich selbst von einer hohen Warte aus. Alles war dumpf, wie in Watte gepackt und irgendwie fern. Diese seltsame Barriere hatte mir geholfen, die vergangenen Stunden mit schmerzhafter Ruhe durchzustehen, anstatt zusammenzubrechen wie Ma.

Deshalb war ich an ihrer Stelle mit den Polizisten in die Gerichtsmedizin gefahren, um Frederik zu identifizieren.

Der Arzt hatte mich bereits ungeduldig erwartet, ein fetter Typ Anfang fünfzig, kalt und glubschäugig wie ein Fisch. Er bot mir einen Kaffee an und schaute dabei nicht einmal auf. Aber ich nahm es ihm nicht übel. Wahrscheinlich hat jeder, der in der Gerichtsmedizin arbeitet, mehr Trauer gesehen, als für ein Menschenleben gut ist.

Ich war dem Arzt in den Raum mit den Schubladen gefolgt, der am Ende eines langen grauen Flures lag, in dessen Linoleumboden die Räder der Bahren Furchen gekerbt hatten. Mit jedem weiteren Schritt wurde der Geruch nach Chemie und etwas, das die Urinstinkte das Fürchten lehrte, intensiver. Es war der Gestank nach Tod, und er hatte sich muffig und pelzig in meine Kehle geschmiegt und war seitdem geblieben. Ich schmeckte ihn noch immer.

Frederik, oder das, was der Sturz von ihm übrig gelassen hatte, lag nicht in einem der Fächer, sondern auf einem Metalltisch. Auf dem Tuch, mit dem man ihn zugedeckt hatte, prangten an vielen Stellen Blutflecke.

Im kalten Licht der Deckenbeleuchtung wirkte das Rot grell, unwirklich.

Für einen Augenblick wollte ich mich an diese Vorstellung klammern, glauben, dass alles nur ein schlechter Scherz war. Bis der Arzt plötzlich das Laken wegzog.

Ich taumelte einen Schritt zurück und prallte mit dem Rücken gegen den kleineren der beiden Polizisten. Beim Blick in sein gleichgültiges Gesicht fing ich mich wieder.

Das, was da mit zerschmetterten Gliedern vor mir lag, war tatsächlich mein Bruder. Aber andererseits war er es auch wieder nicht.

Frederiks Haut war unnatürlich blass. In seinem Dreitagebart und dem rotblonden Haar klebte Blut. Die braunen Augen starrten aufgerissen ins Leere. Ohne zu überlegen, streckte ich die Hand nach ihm aus und verharrte dicht über seinem Körper. Die Haut strahlte keinerlei Wärme ab.

Kalt, er war kalt.

Plötzlich ekelte ich mich. Gleich darauf setzte die Scham ein, weil ich nicht wagte, das tote Fleisch meines Bruders zu berühren.

„Miss Connan, können Sie uns den Namen des Verstorbenen nennen?“, fragte der fischäugige Mediziner.

„Ja.“ Doch dann blieben mir die Worte im Hals stecken, als würde das schreckliche Unglück erst zur Realität, wenn ich es laut aussprach.

„Das ist mein Bruder, Frederik Connan“, flüsterte ich.

Der Arzt nickte zufrieden und zerrte das Laken zurück an seinen Platz. „Vielen Dank, dass Sie sich herbemüht haben. Die beiden Herren werden Sie nach Hause bringen.“

***

Julius

Ich verneigte mich tief und versuchte, ruhig zu bleiben.

Dieser Ort hier war mir so vertraut wie unangenehm. Curtis und ich befanden uns im Gerichtssaal der Vampirclans von Los Angeles, der in einer gut gesicherten Villa in Malibu untergebracht war.

Ich begleitete meinen Schöpfer nicht oft zu Beratungen der sieben Clanherren, und noch seltener sprach ich vor ihnen.

Doch Fürst Andrassy, der mächtigste und älteste Vampir der Stadt, hatte mich aufgefordert, von Frederiks Tod zu berichten.

Die Augen auf den schwarzen Marmorboden vor mir gesenkt, gab ich eine kurze Zusammenfassung dessen, was ich wusste. Frederik Connan, der in seinem bürgerlichen Leben als Spieledesigner gearbeitet und nachts Jagd auf unsereins gemacht hatte, war nicht mehr.

„Ich bin mir sicher, dass es kein Selbstmord war. Ich war am Tatort. Es roch nach Daniel Gordons Vampiren.“

„Ich glaube dir, Jäger“, sagte der Fürst ruhig.

Der kleine, breitschultrige Ungar musterte mich aus schwarzen Augen. Trotz seiner geringen Größe strahlte er so selbstverständlich Macht aus wie Eis die Kälte.

Er entließ mich mit einer raschen Geste, und ich nahm wieder meinen Platz neben Curtis ein. Während die Clanherren diskutierten, wie mit der neuen Situation umzugehen sei, strich Curtis beruhigend mit dem Daumen über den Puls meines Handgelenkes. Bislang war alles glattgelaufen. Es gab keinen Grund, nervös zu sein, und doch war ich es.

„Wenn Gordon das Messer vor uns findet, wird eine Auseinandersetzung viel riskanter“, warf Liliana Mereley ein und sah in die Runde. „Greifen wir ihn jetzt an!“

Ein anderer Clanherr meldete sich zu Wort. „Ich bin dafür. Gordon rüstet sich, das weiß jeder. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er einen von uns attackiert. Ich will mein Revier nicht verlieren!“

„Nein!“, dröhnte Fürst Andrassys Bass. „Die Beweise reichen nicht aus, um einen Angriff zu rechtfertigen. Wir haben Gesetze, und ich werde sie nicht für euch umschreiben!“

„Im letzten Monat gab es vier Morde an Sterblichen, die auf Gordons Vampire zurückzuführen sind, drei allein in meinem Revier“, klagte ein Meister aus North Hollywood. „Ich wollte Gordon informieren, aber er hat meinen Boten nicht einmal empfangen!“

„Genug, ich weiß das alles.“ Fürst Andrassys Blick glitt von meinem Schöpfer zu mir und wieder zurück.

„Curtis Leonhardt, du hattest schon in der Alten Welt Streit mit Meister Gordon und bist der Hauptkläger in dieser Sache. Ich gebe deinem Jäger zehn Tage Zeit, um die Waffe aufzuspüren. Wenn es nicht gelingt oder Gordon das Messer vor uns findet, berufe ich den Rat erneut ein.“

Ich schluckte. Zehn Tage, das war nichts. Andererseits war es eine kleine Ewigkeit, in der Gordon noch mehr Vampire und damit weitere Soldaten für seinen Krieg erschaffen konnte.

Und doch war mir klar, warum Andrassy zögerte. Bislang hatte Gordon anderen Clanherren gegenüber keine Aggressionen gezeigt. Es war kein Verbrechen, dass er viele neue Vampire schuf. Und dass diese Menschen töteten, kam anfangs nun einmal gelegentlich vor und war bei jungen Vampiren durch den Clanherrn zu bestrafen. Niemand wusste, ob Gordon dieser Pflicht nachkam. Die einzelnen Vampirgruppen in dieser Stadt funktionierten wie kleine, in sich geschlossene Universen, die um ihre eigene Sonne, den Clanherrn, kreisten. Kaum jemand wusste im Detail, was bei seinen Nachbarn geschah.

Ich hörte andere Meister gegen Andrassys Entscheidung protestieren und meine Fähigkeiten infrage stellen. Doch erst als der Fürst selbst die Stimme erhob, wurde ich wirklich aufmerksam.

„Wenn wir das Messer haben, wird Gordon es nicht mehr wagen, uns anzugreifen.“ Er war aufgestanden und stützte die Hände auf den Tisch. „Ein Kampf bedeutet Tote, womöglich Dutzende. Ein Blutbad, wie es L.A. noch nicht gesehen hat. Wenn ich Gordon verurteile, trifft es seinen gesamten Clan. Wollt ihr das wirklich?“

Die Stille war absolut. Ein Schauder erfasste mich, und ich bleckte die Zähne in Erinnerung an ein Grauen, das ich niemals aus meinem Verstand würde tilgen können.

„Julius.“ Curtis’ Stimme flüsterte mahnend durch meine Gedanken. Ich sah ihn an.

Seine Augen waren hell geworden. Auch er erinnerte sich an das Gemetzel in Frankreich, an das Blut Schuldiger und Unschuldiger, das für immer an unseren Händen klebte.

„So weit wird es nicht kommen“, ließ er seine Stimme in meinem Kopf erklingen. „Du findest es, ich vertraue darauf. Wir alle tun es.“

***

Amber

Der Polizeiwagen fuhr mittlerweile durch bekanntes Gebiet, und der Anblick der vertrauten Häuser und Cafés gab mir in seiner Alltäglichkeit etwas Halt zurück.

Die Welt drehte sich weiter. Dort draußen ahnte nichts und niemand, wie es in mir aussah. Einen Augenblick lang überkam mich die Sehnsucht danach, auszubrechen und ins Gewöhnliche zu fliehen.

Diesen Abschnitt des Boulevards lief ich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit entlang. Es war zwar der berühmte Sunset, doch in unserem Viertel Silverlake hatte er viel von seinem weltbekannten Glamour eingebüßt.

Der Fahrer sah sich nach mir um und rang sich ein Lächeln ab.

„Edgecliff Drive?“, fragte er und setzte gleichzeitig den Blinker. Nach etwas mehr als hundert Metern hielt der Wagen vor einem Bungalow. Er hatte schon bessere Tage gesehen, aber er war mein Zuhause. Seitdem Frederik ausgezogen war, wie Dad schon lange vorher, wohnte ich hier nur noch zusammen mit Ma.

Im Wohnzimmer und auf der Veranda brannte noch Licht.

Der Blinker tickte laut und erinnerte mich daran, dass ich mich nicht für immer in dem kleinen faradayschen Käfig verstecken konnte. Der Polizist, der mich schweigend von der Pathologie nach Hause gefahren hatte, wollte jetzt sicher weiter.

Ich brachte ein schwaches „Danke“ über die Lippen, dann stieg ich aus und schlug die Tür hinter mir zu. Die kurze Ruhepause, die mir die Fahrt geschenkt hatte, war vorüber. Das Türchen, das den Vorgarten vom Gehweg trennte, knarrte, als ich es aufschob.

Meine Schritte fühlten sich so bleiern an, als würde sich der Boden an meine Füße klammern.

Am liebsten hätte ich mich hineingeschlichen und sofort in meinem Zimmer verkrochen. Ma ins Gesicht sagen zu müssen, dass es wirklich unser Freddy war, der dort kalt und starr auf der Bahre lag, war eine furchtbare Vorstellung. Wie sollte ich sie trösten, wenn ich doch selber so viel Trost brauchte?

Mit der Hand an der Klinke versuchte ich mich zu sammeln, dann öffnete ich die Tür. Im Haus war es vollkommen ruhig. „Ma?“

Keine Antwort. „Charly?“

Als die Stille gerade unheimlich zu werden begann, vernahm ich leise Atemgeräusche. Ma lag auf dem alten, abgewetzten Sofa und schlief in einem Meer aus zerknüllten Taschentüchern. Auf dem Couchtisch standen Medikamente. Ich schlich auf Zehenspitzen näher und nahm eines der Tablettenröhrchen in die Hand. Tavor, ein Beruhigungsmittel. Eine zweite Packung entpuppte sich als Schlaftabletten. Ich hätte schreien können, und Ma wäre nicht wach geworden.

Es war nicht das erste Mal, dass ich sie so sah, aber heute machte ich es ihr ausnahmsweise nicht zum Vorwurf.

Charly nahm Tabletten, seit mein Dad sie betrogen und verlassen und zurückerobert und wieder betrogen und wieder verlassen hatte. Auch wenn ich es nicht gerne zugab – das mitzuerleben hatte mich Männern gegenüber misstrauisch gemacht. Und ich hatte gelernt, meinen Vater ein wenig zu hassen. Er war schuld an Charlys Depressionen, und jetzt konnte er sich auch noch Frederiks Tod auf die Fahnen schreiben. Wegen des Streits zwischen Ma und Dad war mein Bruder damals überhaupt erst nach Europa abgehauen und völlig verändert wiedergekommen. Unsere Familie war wegen Dad zerbrochen.

Mein Hals wurde eng. Ich schluckte die bitteren Tränen herunter, die darauf warteten, geweint zu werden, nahm eine Wolldecke vom Sessel und deckte Ma zu. Im Flur begegnete ich Bildern von Frederik und mir als Kindern, aus einer Zeit, in der wir noch glücklich gewesen waren. Ich floh vor den Fotos die Treppe hinauf in den oberen Stock. Mein kleines Reich, zwei Räume unter der Dachschräge.

Sobald ich einen Fuß hineingesetzt hatte, war es mit meiner Stärke vorbei. Ich ließ mich auf mein Bett fallen.

Zuerst waren da nur der Schmerz und ein schrecklicher, dumpfer Druck in meinem Hals. Ich bekam kaum Luft, atmete mit jämmerlichen, erstickten Lauten ein. Alles tat weh.

Ich rollte mich zusammen wie ein verwundetes Tier und presste die Hände auf den Mund, um nicht laut zu schreien. Ich trauerte stumm und für mich allein, wie immer. Früher hatte ich mich manchmal von Frederik in den Arm nehmen lassen, aber er war nicht da und er würde auch nie wiederkommen. Ich presste die Augen zusammen, doch ich konnte die Erinnerungen an die letzten Jahre nicht aus meinem Kopf verbannen.

All der Streit, den es nach der Europareise zwischen uns gegeben hatte. Waren wir zuvor ein Herz und eine Seele gewesen, hatten wir uns danach binnen Monaten auseinandergelebt, und so war es die letzten zwei Jahre lang geblieben. Nur in einem Punkt hatte er noch Interesse an mir gezeigt: Auf fast schon nervtötende Weise hatte er darauf beharrt, dass ich Selbstverteidigungskurse besuchte. Ich hatte klein beigegeben, weil es das einzige Anzeichen war, dass ich Frederik noch wichtig war. Ansonsten verkroch er sich in der Welt seiner Fantasy-Computerspiele, während ich mir einzureden versuchte, dass er nicht verrückt geworden war, sondern nur einen anderen Lebensstil pflegte als früher. Einen, in dem er sich einbildete, irgend so was wie ein Krieger zu sein, der gegen Untote kämpfte. Das erinnerte mich an etwas.

Mit einem Schlag war ich auf den Beinen. Vor nicht einmal drei Wochen hatte Freddy mir einen Brief geschickt. Hektisch durchwühlte ich die Postablage auf meinem Schreibtisch. Gefunden. Der Umschlag war ungeöffnet. Ich wischte mir über die Augen und ließ mich wieder auf mein zerwühltes Bett fallen.

Auf der Rückseite stand in winziger, ordentlicher Druckschrift: Du wirst wissen, wann du ihn öffnen musst.

Mir wurde mulmig. Bislang hatte ich den Brief für eine von Freddys Spinnereien gehalten, die man besser ignorierte. Doch sein Tod rückte alles in ein anderes Licht.

Was, wenn es ein Hilferuf gewesen war? Was, wenn ich seinen Selbstmord hätte verhindern können? Mit schweißfeuchten, zitternden Fingern riss ich den Umschlag auf. Der Brief war von Hand geschrieben.

Liebe Schwester,

wenn Du das liest, haben mich die Vampire aufgespürt und ich bin vermutlich tot oder einer von ihnen. Meine Mission geht damit auf Dich über. Jetzt musst Du sie bekämpfen. In den kommenden Tagen wirst Du etwas von mir erhalten. Vertraue darauf. Trage es immer bei Dir und höre auf seine Stimme. Es wird zu Dir sprechen und Dich auf den Pfad des Kriegers führen, wie es auch mich geleitet hat.

Hab acht, Schwesterlein, und nur Mut!

Frederik

***

Julius

Nach einer Woche wurde Frederik Connans Leiche freigegeben.

Curtis’ Diener Robert hatte tagsüber Nachforschungen angestellt und mir eine Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen. Woher er die Information hatte, war mir gleich. Die Herren der Vampirclans konnten auf ein breites Netzwerk von Informanten zurückgreifen.

Roberts Worte waren eindeutig. Jemand musste Zugang zu den Polizeiakten bekommen haben. Und darin stand, dass es in Frederiks Wohnung keine Anzeichen für einen Einbruch oder Kampf gegeben hatte. Die Obduktion war ebenso ergebnislos verlaufen. Man ging also weiterhin von Selbstmord aus.

In den vergangenen Tagen hatte ich versucht, mehr über Frederik herauszufinden. Ich war in seiner Wohnung gewesen und hatte sie erfolglos durchsucht. Vom Messer fehlte jede Spur. Doch noch gab es Hoffnung. Curtis hätte es gespürt, wenn die Kraft der mittelalterlichen Waffe wieder zugenommen hätte. Unser Feind Gordon hatte sie also nicht bekommen – noch nicht. Mit dem Mord an Frederik hatten sie sich selbst ins Aus manövriert.

Jetzt galt es, die Waffe und den Erben zu finden, und was war besser dazu geeignet als Frederiks Beerdigung? Jeder, der ihm nahegestanden hatte, würde da sein, jeder der Gäste konnte mein potenzielles Ziel sein.

Die Zeremonie fand am Abend statt. Ich begab mich zum Friedhof, sobald die Sonne es mir erlaubte, mein Versteck zu verlassen, und beobachtete das Ankommen der Trauergäste.

Immer wieder prüfte ich den Wind, der wie heißer Atem über die Grabsteine strich. Von Gordon oder seinen Vampiren roch ich nichts. Als ich sicher sein konnte, dass meine Gegner nicht anwesend waren, näherte ich mich den Menschen, die sich um das offene Grab versammelt hatten.

Ich fiel nicht weiter auf. Bis auf ein weinrotes Hemd trug ich dem Anlass entsprechend Schwarz. Es gab mehrere junge Leute in meinem Alter, oder genauer gesagt dem Alter, das mein Äußeres vorgaukelte. Ich hätte genauso gut einer von Frederiks Freunden sein können. Verwandte standen in kleinen Grüppchen zusammen und spendeten einander Trost. Ihre Unterhaltungen waren leise, geflüstert. Hin und wieder färbte ein Schluchzen die Luft.

Ich sah zu einer alten Weide. Zwischen den silbrigen Blättern schmetterte ein kleiner Vogel in der Dämmerung sein Liebeslied, seltsam schrill und genauso fehl am Platz wie das fröhliche Plätschern eines nahen Brunnens.

Als die Zeremonie begann, blieb ich auf Abstand und ließ mich von den monotonen Worten des Priesters berieseln. Von den umliegenden Gräbern stieg der Geruch nach vergorenem Blumenwasser auf.

Ich wartete ab, bis der Geistliche seine Litanei heruntergebetet hatte, warf mein Häufchen Erde ins Grab und kondolierte der weinenden Mutter. Dann schlenderte ich davon.

Ich hatte mir jeden Gast genau angesehen, doch niemand schien mir die Energie oder die Willenskraft zu besitzen, um das Messer zu führen, geschweige denn das Wissen um die Existenz meiner Art zu verkraften.

Versunken in Grübeleien übersah ich beinahe die junge Frau, die auf dem Boden saß und ihre Hände ins Gras krampfte. Sie hatte rotes, lockiges Haar, in dem die Lichtpunkte einer Laterne glänzten, die durch das Blätterdach fielen. Ihr schlanker Rücken erbebte in stummer Trauer.

Sie hörte meine Schritte und sah auf. Hohe Wangenknochen, Sommersprossen auf Nase und Stirn und eine leichte Bräune, wie sie nur die Natur zauberte. Ich kannte dieses Gesicht, hatte es auf einem Bild in Frederiks Wohnung gesehen. Sie musste seine Schwester sein. Meine Neugier war geweckt.

Ihr meergrüner Blick sagte deutlich, dass sie keine Gesellschaft wollte. Dennoch setzte ich mich neben sie, zerdrückte eine Ameise, die über meine Hose kroch, und schwieg. Das Haar des Mädchens roch nach Sonne und Orangen und weckte damit meinen Hunger. Ihr Blut würde sicher gut schmecken. Ich wollte sie an diesem Sonnenhaar packen und zu mir ziehen, aber stattdessen faltete ich meine Hände über den Knien.

„Warst du ein Freund von meinem Bruder?“, fragte sie und wischte sich hastig eine einzelne Träne von der Wange.

„Ich kannte ihn“, gab ich zurück.

Ihr Blick folgte den Trauergästen, die sich gemeinsam auf den Weg zum Parkplatz machten. Niemand schien auf sie zu warten.

„Frederik war ein Spinner. Er mochte mich nicht, nur seinen Rechner und die blöden Spiele“, sagte sie bitter.

Ich zuckte ratlos mit den Schultern. Was sollte ich dazu auch sagen?

An meinem Daumen klebte ein Ameisenbein. Ich wischte mir die Finger an der Hose ab und stand auf.

„Komm, gehen wir.“ Ich streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen.

Die junge Frau ergriff sie und hielt sie einen Moment zu lange. „Deine Finger sind kalt.“

„Das sind sie immer“, erwiderte ich schulterzuckend.

Schweigend folgten wir den anderen. Ich wurde mit jedem Schritt zuversichtlicher. Frederiks Schwester schien mir die Richtige zu sein. Hinter ihrer Trauer verbargen sich Kraft und Energie. Kein anderer Mensch, dem ich an diesem Abend begegnet war, schien geeigneter als sie, und Frederik hatte sie am allerbesten gekannt. Ich durfte mir meine Chance nicht entgehen lassen. Und außerdem: Selbst wenn sie das Messer nicht hatte, roch sie wahnsinnig gut. Ihr Blut rief nach mir. Mein Magen knurrte prompt. „Mein Name ist Julius.“

„Amber.“

Sie reichte mir wieder die Hand, und der Anflug eines Lächelns streifte ihr Gesicht. „Als ich die Einladungen geschrieben habe, war dein Name nicht dabei.“

„Ich habe die Traueranzeige gelesen“, erwiderte ich schnell.

„Schlechte Antwort, es gab keine.“

Ertappt. Einen Moment war ich sprachlos. Ihre Nähe verwirrte mich. Das war seit Ewigkeiten keiner Frau mehr gelungen, besonders keiner sterblichen.

„Bist du einer von den Typen, die aus Spaß zu Beerdigungen gehen?“, fragte sie irritiert.

„Nein! Ich kannte Frederik wirklich.“

Sie schwieg, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Im Windhauch lag der Duft ihres Parfums und salziger Trauer. Ich fühlte ihren warmen Körper direkt neben mir. Wenn ich nicht nach ihnen jagte, kam ich Menschen selten derart nahe. Amber an meiner Seite zu spüren war ein Genuss, in den sich die Vorfreude auf ihr Blut mischte. Der kurze Spaziergang im ruhigen Rhythmus unserer Schritte brauchte keine hastig gesetzten Worte. Ich ahnte, dass sie jetzt nicht reden wollte, und drängte sie nicht.

Schließlich schlugen Ambers Absätze leise auf dem Asphalt des kleinen Parkplatzes, dann hielt sie inne und sah mit glasigem Blick zu mir auf.

„Wo steht dein Auto?“, fragte sie leise.

„Ich habe keins.“ Ungewöhnlich, das wusste ich selbst.

„Kein Auto in L.A.?“

„Die Metro ist besser, als man denkt. Außerdem habe ich zwei Füße, auf die ich mich verlassen kann.“

Amber sah auf meine Schuhe. Auf dem blankpolierten Leder klebten Grashalme. Eine Strähne fiel ihr ins Gesicht.

„Ich komme nicht mit zur Trauerfeier, das ist eine Familiensache“, entschied ich schnell. Dort gab es zu viele Menschen, die Fragen stellten, zu viele Augen, die mich beobachten würden und sich wunderten, dass ich nicht aß, nicht trank.

Hinter uns schlugen Autotüren zu, Motoren wurden gestartet. Ambers Mutter war nicht weit entfernt und sah zu uns herüber. Sie schwankte wie ein dürrer Baum auf weitem Feld, und Amber schien ihre Schwäche zu bemerken.

„Ich muss los“, sagte sie zögernd.

Wenn sie jetzt ging, war meine Chance vertan. Ich musste schnell handeln, fing ihren Blick auf und benutzte ein klein wenig Magie. „Wenn du morgen Abend noch nichts vorhast, könnten wir ausgehen.“

Ihre Zweifel waren wie ausradiert. Sie errötete. „Wo?“

„Such du etwas aus, nur nicht zu weit von hier.“

„Kennst du das Toi on Sunset, Hollywood?“

Ich nickte. Ein Restaurant – nicht die günstigste Wahl, weil ich dort eine Ausrede dafür brauchte, dass ich nichts aß, was mir in einer Bar erspart blieb. Aber mir würde schon etwas Passendes einfallen. „Um acht?“

Amber wagte nicht noch einmal, mich anzusehen, sondern senkte nur zustimmend den Kopf. Es war ihr wohl peinlich, über die Leiche ihres Bruders hinweg ein Date zu arrangieren. Mit der Fußspitze schob sie ein wenig Kies hin und her, dann wandte sie sich zum Gehen, legte einen Arm um die bebenden Schultern ihrer Mutter und ging mit ihr zum Wagen.

Nach einigen Minuten, als ich schon ein gutes Stück gegangen war, fuhren sie langsam an mir vorbei. Ambers Blick folgte mir. Ich sah sie an, bis das Dunkel ihre Konturen hinter der Scheibe verwischte.

***

Daniel Gordon

Von Weitem sah es aus, als würde ein engelhaftes Wesen am Fuß von Frederik Connans Grab stehen. Reglos starrte es in die nächtliche Finsternis des Friedhofs.

Der Meistervampir Daniel Gordon fuhr sich geistesabwesend durch seine goldenen Locken und beobachtete die Männer beim Schaufeln. Sie gruben Frederiks Leiche aus. Er konnte die frische Lackierung des billigen Holzsargs bereits riechen.

Der Vampirjäger hatte es zwar geschafft zu sterben, bevor Gordons Männer ihm das Messer abgenommen hatten, aber entkommen konnte er ihm nicht, niemals. Gordon lächelte bei der Vorstellung, die Waffe bald in seinem Besitz zu haben. Sie war der Schlüssel zu seinem Aufstieg. Bald würde er nicht mehr nur einer von sieben Clanherrn in L.A. sein, dessen Territorium aus South Central und anderen dreckigen Vierteln der Millionenmetropole bestand.

Eine kleine Armee von Vampiren stand bereit, um im mächtigen Schatten des Messers loszustürmen und ein Revier nach dem anderen zu übernehmen. Erst würden die Clanherren und die anderen Meister fallen, durchbohrt von der Holzklinge. Und dann, wenn die Clans führerlos waren, würde er, Daniel Gordon, die Regentschaft übernehmen. Mit jedem Coup würde seine Armee wachsen und schließlich sogar groß genug sein, um dem mächtigsten Vampir der Stadt die Stirn zu bieten.

Wenn erst einmal der Fürst von L.A. vor ihm kniete, dann, ja dann …

Gordon musterte den kleinen, hageren Voodoo-Hexer, der in einer mit Fellstreifen und Figürchen behängten Tasche wühlte, aus der es nach Tod und scharfen Kräutern stank. Ob seinem seltsamen Komplizen zu trauen war? Bei der Höhe seines Lohns sorgte er besser dafür, dass alles glattlief, sonst würde er es mit der unangenehmen Seite des Daniel Gordon zu tun bekommen.

Eine Schaufel stieß auf Holz, und wenig später hatten die Helfer den Sarg an die Oberfläche gewuchtet und lösten eine Verschraubung nach der anderen.

Der Hexer umkreiste den Sarg und begann mit seinen Beschwörungen, bespuckte den lackierten Deckel mit Alkohol und Puder. Plötzlich schien die Magie von überall herbeizuströmen, aus dem Boden, der Luft und aus dem Hexer selbst.

Ein Helfer brachte ein wild flatterndes Huhn, der andere stieß den Sargdeckel auf.

Gordon trat einen Schritt näher und beobachtete fasziniert, wie der Hexer mit dem Vogel mehrfach über die Leiche strich und ihm dann die Kehle durchschnitt. Blut spritzte. Federn trudelten langsam zu Boden. Als das Huhn aufhörte zu zucken, schien es seine Arbeit getan zu haben, und der Kadaver wurde achtlos zur Seite geworfen.

Dann winkte der Hexer Gordon heran. „Meister, Meister, an meine Seite.“

Widerstrebend leistete er der Anweisung Folge. Das Ritual brauchte mehr Blut, und kein anderes war so mächtig wie jenes, das in seinen eigenen Adern floss. Er schob seinen Ärmel hoch und streckte dem Hexer unwillig das Handgelenk hin.

Der Voodoo-Zauberer ritzte ihn mit einem kleinen Messer, fing das Blut in einer goldenen Schale auf und ließ es dem Leichnam in den Mund laufen.

Die elektrisierende Magie verschwand genauso plötzlich, wie sie gekommen war. Das Ritual war beendet.

Er hatte mehr erwartet. Der Tote schien unverändert.

Gordon versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. „Und jetzt?“, fragte er und drückte den Schnitt in seiner Haut zusammen, der sich sofort schloss.

„Jetzt gehört Frederik Connan dir, Meister. Er wird in einigen Minuten erwachen.“

Der Vampir konnte es noch immer nicht ganz glauben. „Und dann ist er ein Zombie und tut alles, was ich sage?“

Das Gesicht des Hexers verzog sich missbilligend. „Er ist untot, kein Zombie. Er denkt und fühlt, aber sein Körper wird vergehen. Sobald er seine Aufgabe erfüllt hat, wird der Zerfall immer schneller voranschreiten. Ich kann den Prozess einige Wochen verzögern, aber nicht aufhalten. Die Einbalsamierung ist nicht gut, dazu war die Beerdigung zu billig.“

Der Voodoo-Priester reichte Gordon ein Amulett. „Hänge ihm das hier um, sobald er sich aufsetzt. Meine Aufgabe ist erfüllt.“

Gordon sah ihn ungläubig an. „Und wer beseitigt das alles hier?“

Die Helfer des Priesters schlugen bereits den Weg zum Parkplatz ein. Der Hexer selbst lächelte bösartig. „Du besitzt doch jetzt einen Untoten, Meister.“

In diesem Augenblick schlug Frederik Connan die Augen auf, sah den Vampir an und begann zu schreien.

***

Amber

„Keine Mutter sollte ihr Kind begraben müssen, das ist einfach nicht richtig!“ Charlys Klage hallte von der stuckverzierten Decke des hohen Zimmers wider.

Überraschend waren wir zu einem Notar gerufen worden und hockten nun ein wenig verloren in seinem feudalen Büro. Anscheinend hatte Frederik ein Testament hinterlassen.

Nachdem uns die Sekretärin hereingeführt und uns mit Kaffee und einigen staubtrockenen Keksen versorgt hatte, ließ uns der Notar nun bereits eine kleine Ewigkeit warten.

Unauffällig sah ich auf das Display meines Smartphones. Es war schon fast Viertel vor sieben.

Mit einem mulmigen Gefühl dachte ich an meine Verabredung mit dem Fremden vom Friedhof. Mir war immer noch nicht ganz klar, warum ich überhaupt zugesagt hatte. Aber da war dieses unbeirrbare Gefühl, dass das Treffen wichtig war, beinahe, als hätte ich keine andere Wahl, als hinzugehen. Es war wie ein kleiner Fixstern in der allumfassenden bleiernen Taubheit, die mich seit Frederiks Tod befallen hatte.

Es fiel mir leichter, mich abzukapseln und die Gedanken auf etwas anderes zu lenken, als mich vom Schmerz auffressen zu lassen.

Die Verabredung mit diesem Julius war der Strohhalm, an den ich mich klammerte. Er schien nett, sah gut aus und konnte mir zudem vielleicht etwas mehr über Freddy erzählen. Eine gute Begründung dafür, ihn wiederzusehen. Na ja, wohl eher eine gute Ausrede. Unser Abschied auf dem Parkplatz hatte sich regelrecht in mein Hirn gebrannt, und das an einem Tag, an dem sonst alles andere in Trauer verschwommen war.

Sein Blick hatte etwas tief in mir angesprochen. Eine geheime Sehnsucht. Vielleicht war dieser Julius doch mehr als eine Ablenkung. Vielleicht. Ausreichend groß und schlank, mit halblangem braunen Haar und hellen Augen entsprach er zugegebenermaßen fast schon meiner Vorstellung von „perfekt“.

Aber wenn der Anwalt uns noch lange warten ließ, konnte ich unsere Verabredung vergessen.

Als mir klar wurde, was ich da gerade gedacht hatte, presste ich mit aller Kraft den Rücken gegen die harte Lehne. Der Schmerz tat gut und lockerte das feste Knäuel, zu dem sich Wut und Scham in meiner Mitte vermengt hatten.

Mein Bruder lag erst einen Tag unter der Erde, und ich hatte nur meine Verabredung im Kopf. Ich musste mich auf das Wesentliche konzentrieren: Frederiks letzten Willen. Der Termin würde so lange dauern, wie er eben dauerte.

Freddy hatte uns etwas mitzuteilen, das ihm sehr wichtig gewesen war, und ich wollte es, verdammt noch mal, wissen!

Charly hockte zusammengesunken neben mir und wischte sich Tränen von den Wangen.

Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen wünschte ich mich weit weg von ihr. Immer, wenn ich Ma weinen sah, fürchtete ich, dass auch meine eigene Mauer fallen könnte.

Charly hob den Kopf und sah mich aus geröteten Augen an.

„Wie kannst du nur so kalt sein, Amber?“, sagte sie und tupfte sich die tränenfeuchten Augen. „Trauerst du denn gar nicht um deinen Bruder?“

Genug! Ich sprang auf und ging einige hektische Schritte, rang nach Worten.

Sie ließ nicht locker. „Amber, ich habe dich etwas gefragt.“

„Natürlich trauere ich, Ma. Aber nicht jeder kann sich so die Augen ausheulen wie du.“ Ich bereute meine Worte sofort. Im nächsten Augenblick kamen auch mir die Tränen.

„Oh Gott, wann kommt dieser Mensch endlich?“, entfuhr es mir. Energisch drängte ich die Tränen zurück und stopfte meine Trauer an eine Stelle im Herzen, an der sie nicht ganz so wehtat. Irgendwie würde ich die kommende Zeit schon durchstehen.

***

Julius

Ich erwachte, noch ehe die Sonne im Meer versank.

Die Luft in meinem kleinen Reich war kühl und ein wenig feucht vom nahen Friedhofssee. Ich hatte mir die Gruft vor allem deshalb ausgesucht.

Der Tod saß noch in meinen Beinen, und ich wartete ungeduldig, bis die Taubheit auch dort nachließ und mich das Leben für die kurze Dauer einer Nacht wiederhatte. Diese Minuten waren die schlimmsten: die kurze Spanne, in der ich weder das eine noch das andere war.

Sobald ich meine Beweglichkeit gänzlich zurückerlangt hatte, stieg ich aus dem Sarg, strich Zudecke und Kopfkissen glatt und schob den Deckel zu. Vom Tischchen daneben lächelte mich ein blankpolierter Schädel an. Er hatte der vormaligen Bewohnerin dieses hübschen Plätzchens gehört, einem Filmstarlet aus den Zwanzigern, das sich totgesoffen hatte.

Im Kerzenlicht wusch ich mich, zog mich um und übertünchte den schwachen Erdgeruch meiner Haut mit etwas Parfum.

Schon bald würde ich der Erfüllung meines Auftrags ein Stück näher kommen. Sicherlich konnte ich von Frederiks Schwester ein paar nützliche Hinweise ergattern. Außerdem würde ich ihr Blut trinken, entweder, weil sie das Messer hatte und ich sie Curtis’ Wunsch gemäß zu meiner Dienerin machen musste, oder nur, um meinen Hunger zu stillen.

Der Gedanke ließ mich eilen. Schnelle Schritte trugen mich die Treppe hinauf. Oben blieb ich vor der verschlossenen Türe stehen. Erst nachdem ich mit all meinen Sinnen nach unliebsamen Beobachtern geforscht hatte, verließ ich mein Refugium.

Es war die magische Stunde, und der Friedhof gehörte mir ganz allein. Noch stand ein Rest Licht am Himmel und wärmte meine Haut fast unangenehm.

Lange Palmenschatten tanzten über das kurzgeschorene Gras, Kolibris schwirrten wie dicke Hummeln zwischen den Rosenbüschen. Bei den Blumenrabatten pflückte ich für Amber rote und weiße Rosen, dann ging ich zum Tor.

Mein Friedhof, der den feinen Namen Hollywood Forever Cemetery trug, lag als grüne Oase zwischen heruntergekommenen Wohnhäusern und kleinen Autowerkstätten und grenzte mit dem Haupteingang an den vielbefahrenen Santa Monica Boulevard.

Ich trat durch das kleine Seitentor und schloss wieder ab. Den Schlüssel hatte ich mir bei einem Wärter ergaunert.

Die Nebenstraße lag wie ausgestorben da. Nur in einer Werkstatt wurde noch im Lampenschein gearbeitet, an den anderen waren die mit hässlichen Graffitis übersäten Rolltore bereits hinuntergelassen worden.

Meine Uhr zeigte eine knappe halbe Stunde bis acht, ich musste mich beeilen.

Bald stürzte der Lärm der La Brea Avenue auf mich ein. Dann erreichte ich den Sunset und überquerte an einer Ampel die Straße.

Weißes Neonlicht brachte die Buchstaben über dem Toi on Sunset zum Strahlen. Der Eingang klaffte wie eine finstere Höhle in der Häuserwand.

Ich war schnell gewesen und hatte noch fünf Minuten Zeit.

Vor der Tür des Restaurants stand ein Metalfreak und rauchte. Er trug eine schwarze Schürze und einen Bart, der so lang war, dass er sich hin und wieder im nietenbesetzten Gürtel verfing.

Er war einer der Kellner des Toi. Auf den ersten Blick hätte hier kaum jemand das beste Thaifood der Stadt erwartet. Laute Rockmusik dröhnte aus dem Restaurant und es duftete nach Kokosmilch und exotischen Gewürzen.

Amber verspätete sich. Als sie schließlich aus dem Taxi stieg, wirkte sie überrascht, dass ich überhaupt noch da war. Sie trug Schwarz. Eine enge Jeans, ein Shirt mit kleinen aufgedruckten Ornamenten und eine kurze Jacke mit glänzenden Knöpfen. Das lockige Haar fiel ihr frei über die Schultern.

„Schön, dass du da bist“, sagte ich erleichtert. Curtis hätte mir die Hölle heißgemacht, wenn ich wieder ohne Ergebnisse zu ihm gekommen wäre.

„Entschuldige die Verspätung“, sagte sie erschöpft. Die ausgebesserte Schminke verriet, dass sie geweint hatte.

Ich reichte ihr die Rosen. Amber lächelte und roch an den Blüten, dann kam auch schon ein Kellner und bat uns in das Restaurant, das in gemütlichem Halbdunkel lag.

Wir bekamen einen Tisch auf einem kleinen Podest direkt vor der Fensterscheibe. An der Decke über uns quietschte ein aus Eisenteilen geschweißter Drache.

Während sich Amber in die Speisekarte vertiefte, ließ ich meinen Blick über die Wände streifen. Poster vergangener Rockglückseligkeit, zerschmetterte Gitarren, gebrochene Trommelstöcke. In jedem Winkel des Raumes hingen kleine Fernseher, über die Musikvideos flimmerten.

Amber tauchte wieder hinter ihrer Karte auf.

„Ach, ich nehme doch sowieso immer mein Lieblingsgericht.“ Sie tippte mit dem Finger auf ein Gericht. „Das da, den scharfen Catfish, dazu braunen Reis. Kann ich nur empfehlen.“

„Hört sich gut an.“ Ich schluckte, jetzt kam der unangenehme Teil. „Tut mir wirklich leid, aber ich habe schon gegessen“, fuhr ich fort und versuchte, dabei angemessen zerknirscht zu wirken. „Ich war so furchtbar hungrig, dass ich mir etwas vom Imbiss holen musste, während ich auf dich gewartet habe. Jetzt habe ich leider keinen Hunger mehr. Aber bitte, iss du etwas. Ich sehe dir gern zu.“

Amber sah mich betroffen an und murmelte ein „Tut mir leid“.

Volltreffer: Sie hatte ein schlechtes Gewissen, anstatt mich merkwürdig oder unhöflich zu finden. Besser hätte es nicht laufen können.

Die Wahrheit war, ich hatte Hunger, sogar großen. Die Haut meiner Begleiterin duftete wunderbar, und all die Menschen um mich herum tränkten die Luft mit berauschender Lebensenergie. Der Gedanke an ein Blutbad war verführerisch, doch ich war zivilisiert, ich konnte warten.

Amber winkte den Kellner herbei, während ich aus dem Fenster starrte. Meine Zunge tastete nach den scharfen Zähnen. Ich schnitt mich und genoss für einen kleinen Moment den köstlichen Geschmack von Kupfer. Die Wunde schloss sich sofort, und ich lächelte Amber an wie eine Katze, die eine ahnungslose Maus betrachtet.

Wir bestellten und ich bat den Kellner außerdem, uns eine Vase für die Rosen zu bringen. Nachdem er wieder verschwunden war, versuchte ich, die Stille zu füllen. „Wie geht es dir?“

„Ach, ich …“, stotterte sie. Tränen glänzten in ihren Augen.

Ich wartete geduldig, bis sie sich wieder gefasst hatte, übte mich in einem mitfühlenden Gesichtsausdruck und reichte ihr meine Stoffserviette als Taschentuch. Am liebsten hätte ich alle Antworten, die ich brauchte, aus ihr herausgezwungen, aber für den Fall, dass ich später wirklich genötigt war, einen Blutbund mit ihr einzugehen, musste ich freundlich bleiben.

„Gerade waren wir bei einem Anwalt. Ich hätte nie gedacht, dass Frederik überhaupt weiß, was ein Anwalt ist.“ Ihre Stimme klang rau. „Es ging um sein Erbe, so etwas Idiotisches. Er hatte doch fast nichts. Meine Ma bekommt alles, was sie an Erinnerungsstücken aus der Wohnung behalten will, der Rest geht an seine Kumpels.“

Der Kellner kam, stellte uns die Vase hin und goss uns Wasser mit Eisstückchen in riesige Gläser. Dann schlurfte er im Rhythmus der Musik davon. Amber starrte ihm hinterher.

„Und was hat dein Bruder für dich bestimmt?“, fragte ich betont beiläufig.

Als Amber schließlich antwortete, wich sie meinem Blick aus.

„Einen bescheuerten Brieföffner aus Holz.“ Sie zerknüllte ihre Serviette und strich sie wieder glatt. „Was soll ich denn damit? Ich bekomme E-Mails, keine Briefe!“

Ich war alarmiert. Das musste es sein, das Objekt, dem ich seit Monaten hinterherrannte. Und Amber präsentierte es mir fast auf dem Silbertablett. „Hast du ihn dabei?“, fragte ich und unterdrückte nur mühsam meine Aufregung.

Amber nickte mit zusammengepressten Lippen und hob ihre Handtasche auf den Schoß. Einige Tränen bahnten sich den Weg durch ihre Wimpern und tropften auf das Leder.

„Hier, ich will ihn nicht.“

Sie reichte mir einen in ein Micky-Maus-Handtuch gewickelten Gegenstand. Ich rollte das Tuch auseinander, und dann lag es vor mir. Das Messer. Tod so vieler Vampire.

„Das ist kein Brieföffner“, sagte ich mit belegter Stimme.

Mit den Fingerspitzen strich ich vorsichtig über das feuergehärtete Holz und die alte lateinische Inschrift, die kaum noch zu entziffern war. Der Name Paulus fiel mir auf, sowie deus und benedictus, für den Rest hätte selbst ein Vampir eine Lupe gebraucht.

Die bloße Berührung versetzte mein Fleisch in heilige Furcht.

Etwas in mir wollte davonrennen, so schnell und so weit wie irgend möglich.

Die Magie des Messers schlief nur. Wie eine lauernde Bestie wartete es auf den richtigen Augenblick, den richtigen Träger. Es wunderte mich, dass ich es überhaupt berühren konnte. Aber herrenlos, wie die Waffe war, hatte sie viel von ihrer Kraft eingebüßt.

Ich konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Sogar Ambers Gegenwart rückte in den Hintergrund. Das Messer war das Einzige, was zählte. In meinem Kopf tobten Warnungen, grauenhafte Berichte von Vampiren, die eine Begegnung überlebt hatten. Die unscheinbare Waffe war das Schlimmste, was sich unsere Art vorstellen konnte. Hätte ich wählen müssen, wäre ich lieber in der Sonne verbrannt, als durch das Messer mein Ende zu finden. Ich ballte die Hände zu Fäusten, um Amber nicht sehen zu lassen, dass sie plötzlich zitterten.

„Aber was ist es dann?“, fragte Amber.

„Ein Messer!“

„Aus Holz? Und ist es antik, irgendwie wertvoll oder so?“

„Nein“, wiegelte ich ab, „nichts dergleichen.“

Der Kellner brachte den frittierten Catfish sowie eine Schale mit haselnussbraunem Reis und riss Amber und mich aus der merkwürdigen Anspannung, die uns befallen hatte.

Meine Begleiterin wandte sich dem Essen zu. Sie benutzte die Holzstäbchen geschickt, um sich Reis und Fisch auf den Teller zu häufen, und schon nach den ersten Bissen überzog ihr Gesicht eine angenehme Röte.

Ich hätte Amber gerne mehr Aufmerksamkeit gewidmet, doch das Messer lag noch immer vor mir auf dem Tisch. Seine Nähe wurde mir mit jeder Minute unangenehmer. Wie konnte so ein kleiner Gegenstand nur so viel Macht besitzen? Das Messer schürte meine Angst, und noch schlimmer, es schien darauf zu reagieren. Je mehr ich mich fürchtete, desto schmerzhafter wurde seine Nähe. Mein Herz begann zu brennen, als sei Säure am Werk. Bald würde es zu spät sein und ich nur noch einen Gedanken kennen: Flucht!

Aber ich musste widerstehen! Ich war keine zweihundert Jahre alt geworden, um nun vor so einem Ding einzuknicken. Meine Hände wollten mir anfangs nicht gehorchen, doch schließlich griff ich nach dem Messer und wickelte es wieder in das Tuch. Dann schob ich es zu Amber hinüber. Der Schmerz ließ augenblicklich nach. Ich atmete auf.

Wenn Frederik seine Schwester zur Erbin bestimmt hatte, dann war sie mein Ziel. Curtis’ Befehl war eindeutig gewesen. Ich saß also meiner neuen Dienerin gegenüber. Der Gedanke, sie töten zu müssen, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, gefiel mir heute weit weniger als noch vor einigen Tagen. Aber für immer an einen Menschen gebunden zu sein, war eine grauenhafte Vorstellung. Also würde Amber den Preis für meine Freiheit zahlen müssen. Bedauerlich, aber besser als die Alternative.

Sobald wir hier raus waren, würde ich von ihr trinken.

Bei dem Gedanken an ihr Blut krampfte sich mein Magen zusammen. Ich fühlte mich fiebrig. In einer selbstzerstörerischen Regung trank ich einen großen Schluck Wasser, das sich wie ein lähmendes Elixier in meinem Magen ausbreitete, und der Hunger rückte wieder in den Hintergrund.

Wir verbrachten die restliche Zeit mit harmlosen Plaudereien über die anderen Gäste und den selbst für Los Angeles ungewöhnlich heißen Sommer. Schließlich war es Zeit zu gehen, und ich ließ die Rechnung bringen. Mit ihr kamen zwei Glückskekse, die wir uns gegenseitig vorlasen.

Ihr sonniges Gemüt lässt Sie schnell Freundschaft schließen, stand auf meinem.

Amber verzog ihren Mund zu einem schiefen Grinsen.

„Sonniges Gemüt?“, scherzte sie und brach ihren Keks auf. Ihre Zukunft beginnt jetzt.

Das klang wie mein Startsignal. Ich sah sie an und rief meine Kräfte herauf. Tauchte tief in Ambers meergrüne Augen und ließ sie einen kleinen Teil meiner Macht schauen. Kühle Energie strömte aus meiner Haut. Sie erschauerte und drehte verwirrt den Kopf zur Seite. „Was war das?“

Ich hätte alles sagen können in diesem Moment. Amber stand nun unter meiner Kontrolle, ohne es zu merken. Magie streichelte ihre Haut und hielt ihre Seele vorsichtig wie einen zerbrechlichen Schmetterling.

„Gehen wir?“, fragte ich und stand bereits.

Sie konnte den Blick nicht von meinen Augen lösen, ergriff meine dargebotene Hand, und ich führte sie vorbei an den vollbesetzten Tischen, an denen ahnungslose Menschen Nichtigkeiten austauschen. Von uns blieb nur ein verlassener Strauß Rosen zurück.

Vor der Tür empfing uns kühler Seewind. Palmen, die Blätter ins warme Licht der Straßenlaternen getaucht, schwangen träge hin und her. Der Strom der Autos floss auch zu dieser fortgeschrittenen Stunde noch unverändert.

Amber überließ sich meiner Führung. Ihr Geist war wach, und doch konnte sie mir keine Bitte abschlagen. Die Magie verband uns wie ein unsichtbares Seil.

Ich hatte nur die negativen Gefühle aus Ambers Gedanken verbannt. Wenn sie meine Dienerin werden sollte, musste sie sich später an alles erinnern können.

Schweigend schlenderten wir den Sunset Boulevard hinunter.

Außerhalb des Zentrums war es jetzt völlig dunkel. Hier stießen Reklametafeln mit ihren spitzen Lichtfingern nach der Finsternis und hielten die Nacht auf Abstand.

„Gehen wir dort hoch, noch ein wenig spazieren“, sagte ich und zog meine Begleiterin mit sanfter Gewalt in eine der kleinen Nebenstraßen, die sich nördlich bergauf schlängelten.

„Da ist es so finster“, protestierte sie halbherzig.

„Keine Angst, ich passe schon auf.“

Sie drückte sich dichter an mich, und ich legte den Arm um ihre Schultern. Schritt um Schritt entflohen wir so dem Boulevard und seinen Autos.

Der Straßenlärm wurde rasch leiser, und die rauschenden Wedel der alten Palmen übernahmen das Regiment. Wir schwiegen wieder und lauschten der Nacht. Fledermäuse huschten umher.

Hier zwischen den alten Holzhäusern schien die Welt noch in Ordnung. Ein kleiner Bungalow duckte sich hinter dichten Sträuchern. Die einst strahlend blaue Farbe war zum großen Teil abgeblättert und verlieh dem Bauwerk den Anschein, als sei es gerade dabei, sich zu häuten.

Ich drückte Ambers Hand. „Das Haus steht leer. Hast du Lust auf ein kleines Abenteuer?“

„Julius, ich mache nichts Illegales!“, protestierte sie.

„Nur eine kleine Besichtigung.“ Meine Energie floss stärker und wischte ihre Bedenken fort wie lästige Insekten.

Wir bückten uns unter einigen Bananenstauden hindurch und schlichen über weichen, satten Rasen auf die Terrasse. Der Garten war verwildert. Gusseiserne Stühle und ein kleiner Tisch ragten nur noch zur Hälfte zwischen ausladenden Oleanderbüschen hervor.

Wir setzten uns auf eine alte Hollywoodschaukel, die unter unserem Gewicht bedrohlich knarrte. Ameisenheere bevölkerten die Terrasse, und die schwere Süße fauler Aprikosen tränkte die Luft. Beim Anblick der Insekten zog Amber die Beine hoch und schmiegte sich an mich. Das war etwas mehr Nähe, als ich erwartet hatte. Ich bemühte mich, nicht vor der Berührung zurückzuweichen, und milderte den Strom meiner Magie ein wenig ab.

„Es ist paradiesisch hier“, sagte sie und sah mit ihren schönen grünen Augen zu mir auf. In ihrem Atem, der mein Gesicht streifte, flüsterte das Blut einen schnellen Rhythmus. Die Beute war direkt vor mir. Mit dem Hunger kam die Lust.

Obwohl ich es eigentlich nicht vorgehabt hatte, küsste ich Amber vorsichtig auf den Mund, ihre Lippen nur ein seidiger Hauch, der in mir den Wunsch nach mehr weckte.

Ich wollte ihre lebendige Wärme spüren. Begierig legte ich meine Hand in ihren Nacken und rieb mit dem Daumen über ihren Puls, während unsere Küsse leidenschaftlicher wurden. Der Rhythmus ihres Herzens elektrisierte mich, wie es nichts sonst vermocht hätte.

Plötzlich ging eine Veränderung mit Amber vor. Ihre Schultern bebten, die Küsse wurden heftiger, verzweifelt. Sie weinte. Überrascht ging ich auf Abstand.

„Nicht aufhören, bitte“, flüsterte sie.

Nun, wenn das so war … Vorsichtig küsste ich die Tränen von ihren Wangen, schmeckte ihre Haut, das Salz und darunter ihren ureigenen Geschmack. Ich konnte nicht länger warten, mein Hunger wurde zu groß. Wie magnetisch angezogen, näherte ich mich ihrer Kehle.

„Weine nicht“, flüsterte ich heiser gegen ihren Puls, „weine nicht, alles wird gut.“

Ich fühlte, wie sich meine Augen veränderten. Der Hunger, so wie jedes andere starke Gefühl auch, ließ sie heller werden, goldbraun wie Honig. Zum Glück sah Amber es nicht.

Sie strich mir mit den Händen über den Rücken. Ihr Hals war nah, der Puls flatterte unter der Haut und wollte befreit werden. Ich konnte das Blut durch ihre Haut und unter dem Parfum riechen. Als meine spitzen Zähne ihren Hals streiften, erfasste ihr Instinkt plötzlich meine Natur und die uralte Angst der Beute vor dem Räuber erwachte.

Amber entglitt einen Moment lang meinem Einfluss und riss den Kopf zurück. Ihr Körper wurde steif in meinen Armen.

Ich hielt sie fest und tat ihr weh dabei. Aber ich konnte sie nicht vollständig betäuben, denn dann wäre alles umsonst gewesen.

„Julius, nein, was tust du?“ Sie versuchte, mich von sich zu stoßen. Doch es war zu spät. Ambers rasendes Herz rief in wildem Trommelstakkato nach mir.

Beute, die sich wehrte, war so viel aufregender!

Mit einer Hand erstickte ich ihren Schrei, mit der anderen hielt ich ihre Arme fest. Jetzt entdeckte Amber meine Raubtieraugen. Mit letzter Anstrengung bäumte sie sich auf. Ihr Fuß zertrümmerte die morsche Armlehne der Bank und versetzte die Schaukel in unharmonische Schwingungen.

Aber Amber konnte nicht fliehen. Ein kehliges Lachen entrang sich meiner Kehle.

Ein letzter Blick in Ambers Augen ernüchterte mich. Sie hatte schreckliche Angst, ihre Gedanken gellten durch meinen Kopf: Ich will nicht sterben. Bitte, bitte, ich will nicht sterben!

„Du wirst nicht sterben!“, sagte ich, doch sie kämpfte nur noch stärker.

Warum ist denn hier niemand? Warum?, hörte ich ihre Gedanken toben, während sie versuchte, mich in die Hand zu beißen. Bilder rasten durch ihren Kopf: ihr toter Bruder, blutbefleckte Laken, ihre weinende Mutter, meine brennenden Augen.

Es hatte keinen Sinn, ihr zu erklären, was geschah, nicht jetzt! Wir hatten ohnehin keine Wahl, weder sie noch ich. Curtis wollte es so, der Rat wollte es. Wer war ich, dagegen aufzubegehren? Entschlossen, meine Aufgabe zu erfüllen, bog ich Ambers Kopf zurück. Ihre Muskeln zitterten bei dem Versuch, mir Paroli zu bieten.

„Verzeih mir!“, murmelte ich, dann sanken meine Zähne in ihr warmes, weiches Fleisch. Ich ritzte ihre Halsschlagader und trank. Trank in tiefen, langen Zügen die Sonne aus ihrer Haut.

Darauf hatte ich schon den ganzen Abend gewartet. Augenblicklich strömte meine Magie in ihren Körper und teilte meine Wonne mit ihr. Sie radierte die Angst vollständig aus Ambers Körper. Bei einem normalen Opfer hätte ich in diesem Moment auch die Erinnerung an den Biss, mein Aussehen und den Schmerz gelöscht. Nicht bei ihr. Ihr nahm ich nur den Schmerz.

Mit jedem Herzschlag ergoss sich mehr von Ambers Blut in meine Kehle, während ich ein unzerreißbares Band zwischen uns knüpfte. Es war der erste Schritt auf dem Weg, sie zu meiner Dienerin zu machen.

Ambers Gegenwehr erstarb, und meine Magie entfaltete volle Wirkung. Die Lust prickelte als warmes, wohliges Gefühl durch ihren Körper. Mit zitternden Fingern strich sie mir über den Rücken, spielte mit meinem Haar und flüsterte meinen Namen wie etwas Kostbares, Heimliches.

Ich trank lange. Dann war es endlich genug und ich schluckte die letzten Tropfen hinunter. Ich wollte, durfte Amber nicht töten.

Sie presste eine Hand auf die Wunde und sah mich an. Ihr Blick glich dem eines erschrockenen Kindes, das erkennen muss, dass die Welt nicht immer fair spielt.

Ich starrte in ihre Augen, leckte das Blut von meinen Lippen und fühlte mich auf ungewohnte Weise schuldig. Auch wenn ich sie jetzt am Leben ließ, hatte ich sie mit meiner Tat letztlich doch zum Tode verurteilt.

Langsam ließ mein Einfluss auf ihr Bewusstsein nach, und damit auch die Kraft, die mich für eine Weile unwiderstehlich gemacht hatte. Amber sah mich unverwandt an. Meine Augen gewannen unter ihrem Blick langsam ihre normale Farbe zurück.

Ich spürte einen Gedanken aufblitzen. „Vampir!“

„Ja, das bin ich.“

Angst brach sich die Bahn und war im nächsten Moment schon wieder fort, weil ich es so wollte. Amber sollte mich nicht fürchten und konnte es auch nicht, solange ich es verhinderte.

Sie öffnete kurz den Mund, doch kein Wort kam heraus. Es war noch zu früh, das Durcheinander in ihren Gedanken zu groß.

Verstört ließ sie sich gegen die hölzerne Lehne sinken. Wir saßen einfach nur da und schwiegen über all das, was wir voneinander erfahren hatten. Das Blut war wie eine Brücke gewesen. Während ich trank, hatte ich ihre Gedanken geschaut, ihren Kummer, ihre Einsamkeit. Wir waren uns überraschend ähnlich. Ich zog Amber in meine Arme, der Blutverlust ließ sie selbst in der warmen Nacht frösteln. Sanft wiegte die Hollywoodschaukel hin und her und hüllte uns in einen süßen Albtraum.

„Du hast mein Blut getrunken, Julius“, flüsterte Amber.

„Ja, das habe ich.“

„Dann, dann bist du wirklich …?“ Sie brachte das Unglaubliche nicht über die Lippen. Ihr Verstand kämpfte mit aller Macht gegen die Realität des Erlebten. Amber glaubte nicht an Übernatürliches, so viel hatte ich wahrnehmen können.

„Ja, ich bin ein Vampir.“

Sie schüttelte den Kopf, und ihre Stimme überschlug sich. „Nein, das kann nicht sein, das ist Blödsinn, du wärst vielleicht gerne einer, aber du bist kein Vampir, du bist irgendein irrer Freak, du bist genauso durchgeknallt wie Frederik, du …“

„Scht!“ Ich legte ihr einen Zeigefinger auf die Lippen. „Du weißt, dass es stimmt.“

„Nein, nein, ich …“

„Ich habe dein Blut getrunken.“

„Das ist kein Beweis. Du bist pervers oder hast irgendeinen verrückten Fetisch.“

„Ich bin, was ich bin“, sagte ich geduldig. „Erinnerst du dich daran, wie du hierhergekommen bist?“

„Ich … nicht richtig, ich … Nein, ich erinnere mich nicht! Vielleicht hast du mir was in mein Glas getan.“

„Solche billigen Tricksereien habe ich nicht nötig, Amber. Ich bin ein Vampir, und ich wollte, dass du mir folgst.“ Zum Beweis griff ich Amber mit unsichtbarer Hand ans Herz.

Erschrocken berührte sie ihre Brust und sah mich an. „Wie hast du das gemacht?“

Ich blieb ihr die Antwort schuldig. Langsam reifte der Gedanke in ihrem Kopf.

„Also stimmt es?“ Mit der Erkenntnis formte sich noch eine andere Überlegung. „Dann hat mein Bruder die ganze Zeit über die Wahrheit gesagt? Und ich habe ihm nicht geglaubt! Ich dachte, Frederik wäre verrückt.“ In ihren Worten lagen Schmerz und Fassungslosigkeit.

„Es gibt uns, und es gab uns schon immer, Amber, so lange, wie die Menschheit existiert.“

„Ich habe ihn ausgelacht, ich … Das war einer der Gründe, warum wir fast keinen Kontakt mehr hatten.“ Sie sah mich an, und ihr Blick wurde plötzlich seltsam unklar.

Der Blutverlust forderte endgültig seinen Tribut. Amber verlor das Bewusstsein und sackte in sich zusammen. Ich hielt sie fest, bevor sie von der Bank rutschte, und zog ihren erschlafften Körper in meine Arme.

Jetzt, unbemerkt, küsste ich die Wunde an ihrem Hals und leckte sie sauber, bis nur noch vier dunkle Punkte blieben. Die beiden tieferen Einstiche von den Eckzähnen, die die Ader versehrt hatten, füllten sich erneut mit Blut, doch es floss jetzt langsam und würde bald verkleben.

Nachdenklich berührte ich mit den Fingerspitzen Ambers Sommersprossen. Wenn ich sie wirklich an mich binden wollte – und das musste ich –, war es höchste Zeit für das Ritual.

Ich atmete tief durch, zwang mich zur Ruhe und versuchte, mich auf die Kraft zu konzentrieren, die meinen toten Körper ans Leben band. Sobald ich sie wie einen heißen kleinen Kern über meinem Herzen spürte, wagte ich es.

„Bei meinem unsterblichen Blut, Amber Connan“, flüsterte ich, „bei meinem Fleisch rufe ich dich zu mir. Zwei Leiber, zwei Herzen, geeint. Tag und Nacht, Leben und Tod.“

Ich beugte ihren Kopf zurück, biss mir ins Handgelenk und ließ das Blut vorsichtig auf ihre geöffneten Lippen tropfen. „Mein Blut, das Band zu binden, dich an mich, mich an dich. Schutz und Schirm für dein Leben.“

Amber schluckte, ohne zu erwachen, und durch mein Blut schlossen sich die Wunden an ihrem Hals.

Sobald ich die letzten Worte gesprochen hatte, wuchs die Magie zu einem dichten Gewebe, floss wie ein kühler Strom aus meinem Arm und ergoss sich durch den Mund in ihren Körper. In mir fühlte ich etwas entstehen.

Es war das Siegel, das erste von fünfen. Jedes einzelne machte die Bindung zwischen Vampir und Diener stärker. Das letzte schenkte dem Menschen sogar Unsterblichkeit. Noch lag unser einziges Siegel verschlossen da wie eine kleine Pforte. Amber würde meine erste Dienerin sein, und so musste ich noch lernen, wie ich es öffnen konnte, um mit ihr in Kontakt zu treten. Aber es war vorhanden! Ich hatte ihr mein unsichtbares Zeichen aufgedrückt, das jeder andere Unsterbliche zu respektieren hatte. Sie war jetzt mein Geschöpf! Das Messer und seine Trägerin gehörten mir und damit meinem Meister, Curtis Leonhardt, und seinem Clan. Der Auftrag war erfüllt. Mein Schöpfer würde stolz auf mich sein.

Die Erinnerung an Ambers Blut lag wie warmer Samt in meinem Mund. Ich strich ihr über die Wange und stellte mit leichtem Unwillen fest, dass der Bluttausch auch etwas in mir verändert hatte. War sie bis eben nur eine Mahlzeit und ein hübscher Flirt, so fühlte es sich nun an, als kannte ich Amber lange wie eine gute Freundin. Ihr Schmerz oder Leid zuzufügen, schien abwegig. Ob Curtis ahnte, was er mir mit dieser Verbindung antat? Oder hatte er es gar von langer Hand geplant? Ging es ihm gar nicht nur um das Messer, sondern auch darum, mich durch eine List zu einem Leben zu drängen, das er für einen Vampir meines Alters angemessen fand – mit menschlichem Diener und damit mehr Macht? Und eines Tages vielleicht sogar mit einer eigenen Camarilla, einer Gruppe aus Vampiren von meinem Blut, deren Meister ich war, so wie Curtis der meine war? Zuzutrauen war es ihm, denn er hatte mich schon oft genug in diese Richtung gedrängt, und ich wusste genau, wie sehr ihm meine Alleingänge missfielen. Dass er mich bislang hatte gewähren lassen, lag vor allem daran, dass ich das erste Geschöpf von seinem Blut war. Kein anderer genoss so viele Freiheiten wie ich. Lange Zeit waren sie mir selbstverständlich erschienen, und ich hatte seinen Großmut ausgereizt, wo ich nur konnte. Vielleicht hatte ich es in den letzten Jahren zu weit getrieben.

Als Amber schließlich erwachte, stand der Mond bereits hoch am Himmel. Sofort tastete sie nach der Wunde am Hals und fand nichts. Ihr ungläubiger Blick durchbohrte mich förmlich. Ich leckte nervös meine Lippen, als würde noch immer Blut daran kleben, denn ich fühlte mich nicht ganz wohl bei dem Gedanken daran, was ich ihr angetan hatte. Sie war jetzt Teil meiner Welt, wusste es aber noch nicht.

„Bin ich tot?“ Sie setzte sich auf und sah mich an.

„Nein, keine Angst.“

Ich nahm ihre Hand und küsste die Knöchel.

Es war, als flösse ein schwacher elektrischer Strom zwischen uns, eine Nachwirkung des Bluttausches. Mit einem Menschen hatte ich diese Erfahrung noch nie gemacht.

Flucht war für Amber nun keine Option mehr. Das Siegel wirkte auch in ihr und ließ sie meine Nähe suchen.

„Du siehst so anders aus“, flüsterte sie verwundert und strich mir über die Wange. Mein Blut bewirkte, dass sie mich zum ersten Mal so sah, wie ich wirklich war. Bleiche Haut, die in starkem Kontrast zu meinem dunklen Haar stand, und brennende hellbraune Augen.

Unsicher fuhr sie mit ihrem Zeigefinger über meinen Mund, teilte meine Lippen. Ich zeigte ihr, was sie sehen wollte: mein Raubtierlächeln. Lange, spitze Eckzähne und die etwas kürzeren äußeren Schneidezähne mit einwärts gebogenen Spitzen. Amber zuckte zurück.

„Fürchtest du, was du siehst?“, fragte ich neugierig.

Sie zögerte, dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf. „Nein, ich … ich weiß nicht, warum … ich sollte Angst haben, aber ich habe keine.“

Natürlich, das Siegel hatte sie ihr genommen. Denn sie war nun ein Teil von mir, auch wenn sie das noch nicht wusste: Mein Blut floss in ihren Adern, sie war mein.

„Warum fürchte ich dich nicht, Julius? Irgendetwas stimmt mit mir nicht, irgendetwas ist seltsam.“ Ihre Stimme wurde lauter.

Anscheinend hatte der Bluttausch noch etwas verändert, denn sie konnte plötzlich meinen Einfluss spüren. „Es ist, als fehle mir ein Teil meiner Gefühle, ausgelöscht, einfach weg“, sagte sie erschrocken. „Was hast du getan?“

„Nichts“, antwortete ich ausweichend. „Ich wollte nur nicht, dass du Angst vor mir hast.“

„Und dann lässt du einen Teil von mir Hokuspokus einfach so verschwinden?“ Sie blitzte mich wütend an.

Sie gefiel mir, wenn sie wütend war. Ich lächelte vorsichtig. „Ja, das habe ich. Hokuspokus, so wie du sagst. Sei froh, dass du die Schmerzen nicht spüren musstest, als ich von dir getrunken habe.“

„Na großartig, vielen Dank. Warum hast du mich überhaupt gebissen?“

Nein, von dem Siegel würde sie jetzt noch nichts erfahren, und auch nicht von meinem Auftrag. Überhaupt lief diese Unterhaltung ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Warum hatte mich Curtis nicht ausführlicher davor gewarnt, was geschehen würde, wenn ich mit einem Menschen Blut tauschte?

Ich entschied mich für die einfachste der möglichen Antworten: „Ich habe von dir getrunken, weil ich hungrig war und weil du mir gefällst.“

„Und wenn dir eine Frau gefällt, verhext du sie und tust ihr weh? Ist das so üblich bei Vampiren?“

„Ich habe dir nicht wehgetan, Amber.“ Nun ja, zumindest erinnerte sie sich nicht mehr an den Schmerz.

„Sieh mich an, bitte.“

Sie hob den Kopf. Als sie mir in die Augen sah, wich die anfängliche Kälte langsam aus ihrem Blick.

Ich versuchte, die richtigen Worte zu finden. „Du gefällst mir, Amber, das habe ich nicht einfach so dahingesagt. Dein goldenes Haar, deine Sommersprossen. Du bist ein Sonnenkind, alles an dir ist Licht, alles ist hell, deine Haut duftet nach Sonne. Und ich vermisse den Tag so sehr.“ Na bitte, das war noch nicht mal gelogen.

Amber wandte sich von mir ab, errötete und drückte kurz meine Hand.

„Es tut mir leid, dass ich von dir genommen habe, Amber. Vergib mir.“

Sie nickte. War das ein Ja? Mehr würde ich im Augenblick wohl nicht bekommen. Nach Minuten des Schweigens fragte sie: „Und was wird jetzt? Sehen wir uns wieder, bin ich so eine Art unfreiwillige Blutbar für dich, oder was?“

„Du pflegst wirklich keine besonders schöne Ausdrucksweise, Amber Connan.“ Grimmig biss ich die Zähne zusammen. Die Sache würde sich wohl schwieriger gestalten als gedacht. Meine Gereiztheit kehrte zurück, aber ich durfte sie Amber nicht sehen lassen. Ich brauchte ihr Vertrauen, also würde ich weiter den Galan mimen, was mir bei einer hübschen Frau wie ihr zum Glück nicht sonderlich schwerfiel. Außerdem hatte sie mich neugierig gemacht.

„Wie wäre es, wenn wir uns wie zwei normale Sterbliche verabreden und ins Kino gehen würden, oder tanzen?“, schlug ich daher vor.

„Ins Kino? Ich glaub das alles nicht“, murmelte sie, doch dann ließ sie zu, dass ich sie in meine Arme zog. Erleichtert spürte ich ihren Herzschlag ruhiger werden.

Zwischenzeitlich war ich mir nicht mehr so sicher gewesen, ob Amber wirklich mein geworden war. Einen Menschen an sich zu binden war weitaus komplexer, als ihm in einem unbeobachteten Augenblick Blut einzuflößen, das verstand ich jetzt.

Aber im Moment war alles vergessen. Mein Magen war voll, ich saß an einem Plätzchen, das jeden Dichter vor Neid hätte erblassen lassen, und hatte eine Frau mit köstlich duftender, warmer Haut an meiner Seite und den Auftrag meines Meisters erfüllt. Ich war voll und ganz mit mir zufrieden. Glücklich stieß ich uns mit den Füßen ab und genoss das sachte Schwingen der Hollywoodschaukel.

Dann war das Idyll mit einem Schlag vorbei. Meine Sinne schlugen Alarm. Da waren Eindringlinge in meinem Revier! Ich spürte ihre Totenmagie. Es waren zwei, vielleicht drei.

Sie kamen näher, und sie waren auf der Jagd!

Ihre Absicht zu töten hing wie ein dunkles Versprechen in der Luft.

Ich straffte meine Schultern und strengte meine Sinne an. Wer waren sie? Es konnte nur eine Antwort geben: Daniel Gordons Clan. Sie waren auf der Suche nach dem Messer, doch ich war ihnen zuvorgekommen.

Ich schob Amber unsanft von mir und sprang auf.

Mit einer Hand zog ich sie hinter mir her, mit der anderen griff ich nach ihrer Handtasche. „Komm, wir müssen verschwinden!“

Sie stolperte durch das Gras und schien meine Furcht zu spüren, als sei es ihre eigene. Das Siegel funktionierte, jetzt wusste ich es mit Sicherheit. Palmenblätter peitschten in unsere Gesichter, dann waren wir zurück auf der Straße vor dem Bungalow und ich sah mich hektisch um.

Amber starrte mich erschrocken an. Meine Augen hatten wieder von dunklem zu sehr hellem Braun gewechselt. Ambers Körper spiegelte meine Gefühle. „Julius, was ist denn?“, brachte sie hervor.

„Andere Vampire, sie haben uns aufgespürt!“

Die Kraft des Messers pulsierte durch die Tasche, und meine Hand verkrampfte sich schmerzhaft. Das würde nicht mehr lange gut gehen.

Sie hatten uns den Rückweg zum Boulevard abgeschnitten.

Einen der Verfolger konnte ich sogar noch aus dieser Entfernung ausmachen. Er stand unter dem Straßenschild Ecke Sunset. Ein Riese, schwarz in eine blendende Korona aus Scheinwerferlicht gehüllt. Autos rasten an ihm vorbei.

Ich drückte Amber die Tasche in die Hand. „Nimm das Messer und lass es auf keinen Fall los.“

Sie öffnete den Reißverschluss mit zitternden Fingern. Sobald Amber die Holzklinge in der Hand hielt, packte ich sie am Arm und hetzte über die Straße. Fort von hier, den Berg hinauf in die Dunkelheit.

Die Jäger hatten uns eingekreist und nur einen Fluchtweg gelassen. Wir rannten genau dorthin, wo sie uns haben wollten. Palmen flankierten die Avenue, huschten in endlosen Reihen an uns vorbei, und trotzdem kam es mir vor, als bewegten wir uns kaum von der Stelle. Verflucht sei die menschliche Langsamkeit.

Ich war ein guter Kämpfer, doch drei Vampire, denen ich unbewaffnet entgegentreten musste, waren eindeutig zu viel. Gordon hatte sicherlich nicht seine schwächsten Kreaturen geschickt.

Wir überquerten eine verlassene Kreuzung. Amber stolperte über den Bordstein. Sie streifte ihre hochhackigen Schuhe ab und rannte jetzt barfuß, aber noch immer nicht schnell genug.

Ihr Atem ging immer schwerer und kam stoßweise. Ich hatte davon gehört, dass Vampire die Siegel dazu nutzen konnten, ihrem menschlichen Diener Kraft zu schicken, doch ich wusste nicht wie! Reichte ein Siegel dafür aus, oder mussten es alle fünf sein?

Ich zerrte Amber weiter, doch die Verfolger kamen unablässig näher. Ihre Blicke durchdrangen die Nacht stechend wie Lichtpfeile. Einer der Angreifer war sehr alt.

„Was … wollen … die von uns?“, keuchte Amber.

„Das Messer, sie wollen das verdammte Messer.“

„Warum?“

„Es ist mächtig.“

Amber hatte nicht mehr genug Atem, um weiterzusprechen. Ihre Kräfte würden bald versagen. Ich konnte sie zurücklassen, meine eigene Haut retten und vielleicht mit dem Messer fliehen. Das war es, was mein Meister von mir erwartete, und ich war kurz davor, es zu versuchen. Das Messer hatte Priorität. Doch es war zu spät.

Amber schrie auf, als plötzlich wie aus dem Nichts ein riesiger Vampir in Rockerkluft vor uns auftauchte. Weißblondes Haar hing ihm in langen Strähnen über eine abgewetzte Lederweste. Unter seiner Haut spielten Muskeln. Eine Mauer aus Beton hätte uns nicht effektiver stoppen können als sein schierer Anblick.

„Julius Lawhead!“

Ich schnellte herum. Zwei weitere Vampire waren hinter uns aufgetaucht. Einer sah aus wie ein älterer Banker mit grau meliertem Haar, der andere wie ein schlaksiger Junge. Den Banker kannte ich, es handelte sich um Tristan, Meister Gordons rechte Hand. Ich hatte ihn nie anders als im Anzug gesehen.

Er war mindestens dreihundert Jahre alt, und seine Energie fuhr wie eine eisige Windbö über meine Haut. Ich straffte den Rücken, wollte nicht zeigen, dass mich seine kleine Machtdemonstration beeindruckt hatte. Ihm war ich haushoch unterlegen.

Amber drückte sich panisch an mich, ihre Finger klammerten sich um den Holzgriff der Waffe.

„Gib das Messer heraus, Lawhead, und deinem kleinen Mädchen passiert nichts!“ Wieder war es Tristan, der sprach.

„Niemals!“, erwiderte ich und taxierte unsere Umgebung. Wir waren auf dem Hof einer kleinen Autowerkstatt, standen zwischen ausgeschlachteten Karosserien und einer alten Hebebühne. In der Luft hing der zähe Gestank von Motoröl. Keine Menschenseele war da, um uns zu helfen. In dieser Gegend ließ man die Jalousien herunter und verriegelte die Tür, wenn jemand um Hilfe schrie.

„Einer gegen drei. Willst du unbedingt sterben?“, drohte der Rocker.

„Was machen wir nur?“ Der Anblick der drei war für Amber mehr als überzeugend.

„Kämpfen!“

„Okay“, sagte sie – nicht mehr als das. Ich hoffte, es bedeutete, dass sie nicht einfach so aufgeben würde.

Die Vampire umkreisten uns wie hungrige Schakale, kamen näher und näher. Tristan hielt sich heraus, wie er es immer tat. Er glich einem adeligen Heerführer aus alter Zeit, der seine Armeen wie Schachfiguren lenkte und vom nächsten Hügel aus bei einer Tasse Tee zusah, wie sich das Fußvolk gegenseitig abschlachtete.

Der Weißblonde schlug seine Fäuste zusammen. Es klirrte. Schlagringe blitzten auf. Er zuckte mit der Oberlippe wie ein tollwütiger Köter, dann rannte er auf uns zu.

Amber schrie auf und wich zurück.

Ich duckte mich unter dem ersten Schlag des Hünen, aber dem zweiten war ich schutzlos ausgeliefert. Seine stahlverstärkte Linke bohrte sich in meine Seite, zertrümmerte Rippen und schickte ein Blitzlichtgewitter aus Schmerzen durch meinen Körper. Ich taumelte zurück, wich einigen Schlägen aus, fing andere ab.

Mein Gegner war jung, doch auch als Mensch musste er bereits enorme Kräfte besessen haben.

Erneut erwischte mich die Eisenfaust des Rockers, diesmal traf sie meinen Arm. Schmerz, Taubheit. Er sonnte sich in seiner scheinbaren Überlegenheit. Mich zu unterschätzen würde ihm nicht gut bekommen.

Ich täuschte ein Ausweichmanöver an, schnellte vor und schlug ihm mit aller Kraft auf die Kehle.

Röchelnd unterlief er meine Deckung und schloss seine Arme wie Schraubstöcke um meine Schultern. Ich saß fest, versuchte ihn zu treten, blieb aber erfolglos.

Tristan gab dem schlaksigen Vampirjungen ein Zeichen, dass er sich das Messer holen sollte.

„Amber, wehr dich!“ Sie musste endlich anfangen, sich zu verteidigen! Stattdessen wich sie immer weiter zurück und hatte sich womöglich schon aufgegeben.

Mein Widersacher presste alle Luft aus meinen Lungen. Die gebrochenen Rippen gaben nach, sangen einen Choral aus Schmerzen, immer schneller, immer schriller.

Mir wurde schwarz vor Augen. Die langen weißen Haare des Fleischberges klebten in meinem Gesicht.

Er schwitzte und grunzte vor Anstrengung. Ich zweifelte nicht daran, dass seine Bemühungen, mich zu zerquetschen, schon bald Erfolge verzeichnen würden.

Jetzt blieb mir nur noch eine Möglichkeit. Ich musste meine menschliche Hülle fallen lassen. Etwas, das ich in Ambers Gegenwart eigentlich hatte vermeiden wollen. Als ich zubiss und seine Schulter zerfetzte, begann der Riese zu schreien.

Seine Schreie steigerten sich zu erbärmlichem Jaulen, Angstgeruch stieg aus seinen Poren, aber sein Griff lockerte sich nicht.

Ich bekam eine Hand frei, fasste in sein Haar und riss seinen Kopf nach unten, näher zu mir. Seine Kehle kam in meine Reichweite und ich biss erneut zu. Blut spritzte in meine Augen. Im letzten Moment erahnte ich durch den roten Schleier eine Bewegung, dann traf mich ein Faustschlag mit der Gewalt eines Zuges.

Ein Knall, ein hölzernes, knöchernes Krachen. Mein Gesicht explodierte in Schmerz. Gleißende Helligkeit, dann Schwärze. Die Beine gehorchten mir nicht mehr, und im nächsten Augenblick lag ich auf dem Betonboden.

Alles drehte sich.

Als der Nebel endlich lichter wurde, sah ich, dass auch der Hüne schwankte. Ich spuckte ihm ein Stück seiner Halsschlagader vor die Füße und würgte Blut. „Das gehört dir, du widerlicher Bastard!“

Hilflos presste er die Hände auf seine Kehle und versuchte, das heraussprudelnde Blut aufzuhalten. Ein alter Vampir hätte die Wunde heilen können, doch nicht er. Für ihn war es zu spät. Er brach in die Knie.

Meinen Gegner fallen zu sehen, gab mir Kraft. Ich kam schwankend auf die Beine und sah mich um. Die beiden anderen hatten es auf Amber abgesehen. Sie stand mit dem Rücken gegen einen rostigen Ford gepresst und fuchtelte ziellos mit dem Messer. In ihren Augen stand blankes Entsetzen. „Julius!“

„Du musst das Messer benutzen! Töte sie!“, stieß ich hervor und wiederholte meine Worte in ihren Gedanken, doch sie verstand mich nicht.

Im gleichen Moment schloss sich die Eisenfaust des sterbenden Vampirs um meinen Knöchel. Verzweifelt trat ich auf das Handgelenk meines Widersachers und zerrte ihn ein Stückchen hinter mir her. Er ließ nicht los.

Ich konnte Amber nicht helfen. Ich hätte meinem Gegner jeden Finger einzeln brechen müssen, doch so viel Zeit hatten wir nicht.

Wenn ich Amber jetzt nicht beistand, war alles verloren. Es gab nur eine Lösung. Ich musste das Siegel benutzen, auch wenn ich noch nicht recht wusste, wie.

Ich presste eine Hand auf meine schmerzenden Rippen und suchte nach Ambers Bewusstsein, doch ich stieß auf eine Mauer aus Angst. So ging es nicht! Und uns rannte die Zeit davon.

Die Pforte in mir, das war der richtige Weg. Wieder versuchte ich es. Das Siegel gab mit einem kleinen Widerstand nach, und ich spürte erleichtert, dass ich endlich Zugang zu Ambers fremdem, warmem Körper bekam. Ihr Blick flackerte irritiert in meine Richtung.

Der junge Vampir ließ sich die Chance nicht entgehen. Er stieß Amber zur Seite, haschte nach dem Messer und griff ins Leere.

„Stich zu!“, brüllte ich und versuchte ihre Bewegung zu lenken.

Ambers Hand schnellte vor und das Messer ritzte den Arm des Angreifers. Er schrie, als habe er in heißes Öl gefasst, und die Haut färbte sich augenblicklich schwarz.

Nun hatte das Messer seine Trägerin gefunden. Uralte Magie floss durch Ambers Arm. Ich wurde mit einem Schlag aus ihrem Geist geschleudert. Die neu erwachte Kraft der Waffe brandete als riesige Druckwelle durch die Nacht und ließ mein unsterbliches Herz schmerzen.

Was hatte ich nur getan?

Gefesselt an die starre Hand des sterbenden Vampirs musste ich mitansehen, wie sich Amber vom schüchternen Mädchen in das Werkzeug des Messers verwandelte. Wie eine Furie stürzte sie sich auf den jungen Vampir und rammte ihm wieder und wieder die Klinge in den Leib.

Nun regte sich Tristan, der die Szene mit wachsender Fassungslosigkeit beobachtet hatte. Doch anstatt einzugreifen, zischte er nur: „Dafür werdet ihr büßen!“, und dann verschwand er in der Nacht, schnell wie ein Schatten. Mit einem Mal war der Spuk vorbei.

Amber hielt sich mit einer Hand an dem Autowrack fest und schwankte. Ihr Atem ging schwer und rasselnd, während sie auf ihr am Boden liegendes Opfer starrte.

Die Haut ihres Gegners wurde schwarz und blasig, als hätte sie ihn mit kochender Tinte übergossen. Er schrie, während er zu einem zuckenden Stückchen Nacht wurde und sich langsam in dampfende Schwaden auflöste.

Während mein Gegner seinen letzten Atem aushauchte und meinen Fuß endlich freigab, starrte ich Amber an – das Monstrum, das ich erschaffen hatte.

Amber hob ihren Kopf. Ihre Rechte krampfte sich so fest um das Messer, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Ich starrte in ihre Augen, dann auf ihre Hand und das Messer. Denn plötzlich galt ihre Aufmerksamkeit mir, und ihr Blick ließ es mir eiskalt den Rücken hinunterlaufen.

„Julius.“ Ihre Stimme bebte.

Ich bekam es mit der Angst. Sollte ich davonlaufen oder bleiben? Das Messer schrie nach meinem Blut. Ambers Augen riefen nach mir. Sie erkannte sich selbst nicht wieder.

„Julius, was habe ich getan?“

„Du hast ihn getötet“, sagte ich trocken. Zu mehr war ich nicht fähig.

Die Luft war getränkt von Blutgeruch. Blut war es auch, was mein Shirt verklebte und auf meinem Gesicht zu einer krümeligen Maske trocknete.

Mein Gott, was musste ich für einen Anblick abgeben? An Ambers Stelle hätte ich nicht gezögert. Sie hatte gesehen, wie ich einem riesigen Kerl die Kehle zerfetzte!

Sie tat einen Schritt auf mich zu. Das Messer in ihrer Hand zitterte begierig.

Es stieß mich ab und zog mich an. Ich war in seinem Bann gefangen wie Wild im Licht der Scheinwerfer. „Nein, Amber.“ Ich zitterte am ganzen Körper. Sollte das mein Ende sein? Einfach so?

Es war nicht richtig, dass ein menschlicher Diener seinen Herrn tötete. Nicht richtig, verdammt!

„Lauf nicht weg.“ Ihre Stimme klang kalt wie Metall.

Ich hätte es nicht einmal gekonnt, wenn ich gewollt hätte.

Meine Beine waren bleiern und wie verwachsen mit dem Betonboden. Ich konnte mich nicht rühren.

Dann war Amber bei mir.

Mit allen Sinnen spürte ich die wunderbar warme Lebendigkeit ihres Körpers, und doch erfasste mich zugleich Entsetzen. Ich schloss die Augen.

Sollte der Tod kommen. Ich würde nicht um Gnade winseln.

***

Amber

Da stand er nun, wie zur Salzsäule erstarrt, das hübsche Gesicht blutverschmiert. Was hatte dieser verdammte Kerl mir nur angetan? Ich hatte gedacht, mit Frederiks Selbstmord sei mein Leben an seinem tiefsten, dunkelsten Punkt angekommen. Und dann kam der daher, wedelte mit ein paar Rosen, lullte mich ein mit netten Worten und was weiß ich noch. Und im nächsten Moment sog er mich aus und machte mich zur Mörderin.

Er ist an allem schuld. Du weißt es, säuselte das Messer. Es klebte an meinen Fingern, als sei es mit einer halben Tube Pattex beschmiert. Das Ding war fast noch schlimmer als der Kerl, der vor mir stand. Warum nicht zustechen und diesem Albtraum damit hoffentlich ein sofortiges Ende bereiten?

Ich setzte das Messer auf Julius’ Brust. Er spannte die Kiefermuskeln an und bleckte die Zähne, wich aber nicht zurück. Konnte oder wollte er nicht?

Das Messer zerrte an mir. Wenn ich nicht gegengehalten hätte, wäre es wie von allein in seiner Brust verschwunden. Direkt ins Herz und aus. Es war so einfach.

Mittlerweile zitterte Julius am ganzen Körper. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, seine Muskeln zuckten, als stünde er unter Strom. Aber wollte ich ihn wirklich umbringen? Das Messer schien eine klare Meinung zu haben: Alle Vampire müssen sterben, zischte seine Stimme durch meinen Kopf. Es versuchte, mich zu manipulieren. Doch ich war keine Puppe, weder die eines verhexten Messers noch die eines Vampirs.

„Julius, öffne die Augen und sieh mich an.“

Seine Lider flatterten. Er wandte gequält den Kopf.

„Julius!“ Ich schrie ihn an, und endlich öffnete er die Augen, die nun beinahe wolfsgelb waren. Erst da erkannte ich in seinem Blick, dass er Höllenqualen litt. Trotzdem kostete es mich große Willensanstrengung, das Messer so weit zurückzuziehen, dass es seine Brust nicht mehr berührte. Seine Krämpfe ließen umgehend etwas nach, und seine Pupillen nahmen einen wärmeren Honigton an. Fragend neigte er den Kopf zur Seite.

Ich hätte Angst vor ihm haben, ihn verdammen sollen, doch etwas war in dem verwilderten Garten passiert. Mehr als ein Kuss, der mich über meine elende Stimmung hinwegtrösten sollte: Julius war dort von einem Fremden zu einem vertrauten Wesen geworden. Nur verstand ich noch immer nicht, wie.

Eines war mir jedoch klar geworden: Ich wollte ihn nicht töten! Mit dieser Gewissheit gewann ich immer mehr Einfluss über das Holzmesser.

Langsam hob ich meine Hand und strich Julius über die Wange. Das warme Licht der Großstadtnacht spielte mit seinen Zügen. Doch sein Blick flackerte wieder abwärts.

„Ich will, dass du mich ansiehst, Julius, nicht das Messer. Hier bin ich.“

Er presste die Zähne aufeinander und warf seinen Kopf in den Nacken, fort von meiner Hand, von meiner Berührung. „Nun bring es doch endlich hinter dich, Mädchen!“, keuchte er. „Ich halte das nicht länger aus!“

Spielte er mir wieder nur etwas vor?

Zögernd ließ ich das Messer noch etwas tiefer sinken. Julius löste sich aus seiner Starre, griff sich an die Brust und rang japsend nach Luft. Ich wartete, bis er sich wieder ein wenig gefangen hatte.

„Ich will Antworten.“

„Ja, ja, die sollst du bekommen“, sagte er schnell, womöglich etwas zu schnell.

„Der Julius aus dem Restaurant, der Rosen verschenkt und in romantische Gärten einbricht, gibt es den oder war das nur Schauspielerei?“

Er räusperte sich und richtete sich wieder auf. Ich konnte zusehen, wie er sich erholte. Meine Waffe aber ließ er nie ganz aus dem Blick.

„Hast du all das nur getan, um das Messer zu bekommen? Hast du mich benutzt?“

Es war leicht zu erkennen, wie er nach Worten suchte und dass mir die Antwort nicht gefallen würde. „Es war das Messer, das mich zu dir geführt hat. Aber wie du siehst, kann ich es dir nicht wegnehmen. Und das habe ich auch gar nicht vor. Mein Auftrag war, dafür zu sorgen, dass es nicht in die falschen Hände gerät. Abgesehen davon … mag ich dich.“

Wenigstens log er nicht, zumindest fühlte es sich nicht so an. Ich griff nach seiner Hand.

„Wage es nie wieder, in meine Gedanken zu kriechen, nie wieder!“

„Nicht, wenn du es nicht willst“, antwortete er sichtlich erleichtert. Ich ließ das Messer endgültig sinken. Julius wandte sich ab und ich hörte ihn mit leiser Verwunderung murmeln: „Ich lebe!“

***

Julius

Mein Körper fühlte sich an, als seien alle Nervenenden gereizt, jede Bewegung schmerzte, aber es wurde minütlich besser. Ich konnte noch immer nicht ganz glauben, dass ich dem Tod tatsächlich von der Schippe gesprungen war.

Wie ich Curtis erklären sollte, dass ich Amber zwar zu meiner Dienerin gemacht, ihr dann aber sofort versprochen hatte, sie nicht zu beeinflussen, war mir ein Rätsel.

Amber steckte das Messer ein. „Gib mir ein paar Minuten, Julius. Ich muss einen klaren Kopf bekommen.“

„Natürlich. Ich bin hier.“

Mit müden Schritten lief sie zurück zur Straße und setzte sich in Sichtweite auf den Bordstein.

Mir war es nur recht, sie einen Moment lang los zu sein, denn ich hatte hier noch etwas zu erledigen.

Ich sah mich suchend um. Auf dem Boden neben der schwarzen Brühe, die einmal ein Vampir gewesen war, fand ich, was ich suchte.

Eine Klinge, nicht viel länger als eine Handspanne, aber versehen mit der Silberlegierung, die Vampiren die Kraft der Unsterblichen entzieht.

Nach einem kurzen Blick zu Amber, die mir noch immer den Rücken zudrehte, ging ich zu dem Leichnam des blonden Vampirs.

Ich wollte ein für alle Mal sichergehen, dass mir der Hüne nicht noch einmal das Leben schwer machte. Denn wenn sein Meister früh genug hier eintraf, würde er ihn eventuell noch retten können.

In all den Jahren, die ich auf der Erde verbracht hatte, war ich genug Stehaufmännchen begegnet, um hundertprozentig sicher sein zu wollen.

Ich kniete mich neben ihn, setzte das Messer unter den Rippen an und rammte es bis zum Heft in sein Herz. Der Vampir hatte sich nicht geregt. Ich ließ das Messer stecken und zerrte den Toten in den Schatten einiger Büsche am Rand des Hofs. Er hinterließ eine breite Blutspur, doch die ersten Sonnenstrahlen würden sie zu Asche vergehen lassen.

Der Leichnam selbst aber würde nur langsam und schwelend verbrennen. Da ich es nicht darauf ankommen lassen wollte, dass er morgens entdeckt wurde, tippte ich eine kurze Nachricht in mein Handy. Die Clans hatten Leute für so etwas, und als Henker der Stadt erteilte ich ihnen oft Aufträge.

***

Amber

Nachdem die Wirkung des Adrenalins abgeklungen war, fühlte ich mich so unsicher auf den Beinen, als würde ich jeden Moment zusammenklappen. Vielleicht hatte ich einen Schock. Meinen ersten echten.

Jetzt hockte ich auf der Bordsteinkante, die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen, als könne ich auf diese Weise dem Strudel, der in mir tobte, Einhalt gebieten. Kakerlaken huschten durch den Rinnstein. Vielleicht zog sie der Leichengestank der teerartigen Überreste des jungen Mannes an.

Auch wenn Julius glaubte, ich sei ganz auf mich und mein Elend konzentriert, hatte ich ihn aus dem Augenwinkel genau beobachtet und gesehen, wie er sich über den langhaarigen Toten gebeugt hatte. Das Messer in seiner Hand, nur ein kurzes Aufblitzen von Metall, gefolgt von dem feuchten Geräusch, mit dem es im Körper des Toten verschwunden war. Julius war routiniert vorgegangen, wie ein professioneller Mörder, und doch ließ mich das auf eine seltsame Weise kalt.

„Oh Gott, bitte lass das alles nicht wahr sein!“, flüsterte ich und rieb mir die Augen. Das flaue Gefühl in meinem Inneren blieb. Beinahe, als stecke dort, unter den Rippen, nahe am Herzen, ein Fremdkörper. Ich schob es auf die Übelkeit, die sich in mir ausgebreitet hatte, seit ich einen Mann getötet hatte.

Ich.

Ich hatte getötet.

Mein Blick fiel wieder auf das Messer, dieses merkwürdige hölzerne Ding. Es lag neben mir auf dem Bordstein. Kein Zweifel, das war die Waffe, auf die sich Frederiks geheimnisvoller Brief bezog. Die Stimme, die darin erwähnt wurde, hatte ich deutlich hören können: Töte! Töte den Vampir, töte das Monstrum!

Und genau das hatte ich getan.

Meine Hände. Jetzt waren es Mörderhände, und doch sahen sie aus wie vorher. Kein Spritzer Blut klebte daran, kein verräterischer Makel, kein Kainsmal.

Ich fühlte mich schuldig, empfand gleichzeitig aber auch ein Fünkchen Trotz.

Eigentlich hatte ich mich doch nur verteidigt. Es war mein Recht, um mein Leben zu kämpfen, nur dass mein Bruder mir kein Pfefferspray vermacht hatte, sondern ein mörderisches Holzmesser mit eigenem Willen.

Was auch immer Frederik sich dabei gedacht hatte, mir das Messer zu vererben – ich wollte es nie wieder benutzen. Auch jetzt kroch mir sofort wieder ein kalter Schauer über den Rücken, als ich mich erinnerte. Diese Schreie!

Und dann das Gefühl, als das Messer plötzlich die Kontrolle über meinen Körper gewann. Minutenlang, oder vielleicht nur ewige Sekunden, war ich zu einer Marionette an seinen Fäden geworden.

Nein, um nichts in der Welt würde ich das ein zweites Mal zulassen!

Ein Zittern durchlief meinen Körper. Heiß und kalt im Wechsel. Die Hoffnung, dass dies ein Albtraum war und ich einfach daraus erwachen würde, hatte ich schon längst aufgegeben.

Mit einem Mal schien die Gegend noch verlassener als zuvor. Hektisch sah ich mich um. Julius und auch die Leiche des Langhaarigen waren verschwunden. Dunkelheit schien die Seitenstraßen aufzufüllen und die Schatten noch dichter werden zu lassen. Es war unheimlich.

Mit einem Sprung war ich auf den Beinen.

Ich wollte jetzt nicht alleine sein, selbst wenn meine einzige Gesellschaft aus einem blutrünstigen Vampir bestand.

Das Messer schien meine Aufmerksamkeit anzuziehen, als warte es nur darauf, dass ich es hochhob und Julius auch noch ermordete. Mit einem Fußtritt bugsierte ich es in meine Handtasche und schloss den Reißverschluss. Den Riemen mit beiden Händen fest umklammert, ging ich langsam über den Hof. So sehr ich mich anstrengte leise zu sein, meine Schritte warfen leise Echos zwischen den Betonmauern der Einfahrt.

„Julius?“

Da war er. Er beugte sich mit nacktem Oberkörper über eine Regentonne und wusch sich Gesicht und Hals. Seine Bewegungen waren steif, als hätte er Schmerzen. Beim Näherkommen enthüllte das gelbliche Großstadtlicht große Blutergüsse auf seiner bleichen Haut. Einer hatte die deutliche Form des Schlagrings. Meine Erinnerung sprang zurück zu Julius’ Kampf mit dem Rocker und dem Klang brechender Knochen.

Kein normaler Mensch hätte solche Prügel überlebt.

Julius’ Anblick zerstreute meine letzten Zweifel. Wenn mich diese Kerle alleine aufgespürt hätten, wäre ich jetzt tot gewesen und sie hätten sich einfach genommen, weshalb sie gekommen waren.

Ich war Julius dankbar, doch gleichzeitig fürchtete ich ihn auch. Ich konnte nicht einfach ignorieren, was er war und was er getan hatte. In seinem Magen befand sich mein Blut. Aber Ekel wollte sich nicht einstellen.

Julius rieb sich mit den Händen übers Gesicht, fuhr sich durchs Haar und trocknete sich dann mit einem sauberen Stück seines T-Shirts ab. In seinen Armen und Schultern bewegten sich Muskeln, die nicht danach aussahen, als hätte er sie sich in einem Fitnessstudio antrainiert. Zweifellos war das nicht Julius’ erster Kampf gewesen.

Wider jede Vernunft stieß er mich nicht ab. Ich war schon von vielen ersten Dates getürmt, die weit besser verlaufen waren als dieses, sprich: ohne Blut und Leichen. Es war unvernünftig und regelrecht dumm, nicht einfach das Messer dazulassen und abzuhauen.

Doch etwas war in diesem Garten mit uns geschehen, etwas, das mich alle Vorsicht vergessen ließ. Ich wollte unbedingt mehr über diesen Fremden wissen.

Als er sich zu mir umdrehte, schrak ich dennoch zurück. Sein ebenmäßiges Gesicht war kaum noch wiederzuerkennen, das rechte Auge begann zuzuschwellen, über die Wange zog sich ein verkrusteter Riss, und aus seinen Haaren tropfte eine hellrote Mischung aus Wasser und Blut.

Unbewusst presste ich die Handtasche mit dem Messer an mich.

„Da bist du ja“, sagte Julius mit rauer Stimme. Seine Augen flackerten kurz hell auf und zuckten zu meinen um den Taschenhenkel verkrampften Händen, dann nahm er sein Sakko von einem Autowrack und zog es im Gehen über. Das dreckige T-Shirt ließ er achtlos fallen.

„Ich muss nach Hause, Amber.“

***

Julius

Als wir aufbrachen, war die Nacht schon weit fortgeschritten. Zu meiner Überraschung begleitete Amber mich, worauf ich still gehofft hatte. Hatte das Siegel sie beeinflusst, oder tat sie es freiwillig? Ganz gleich, was es war, mit der Trägerin des Messers an meiner Seite fühlte ich mich sicherer. Ich hatte viele Feinde, und das hier war der perfekte Augenblick, um den Henker von L.A. auszuschalten. Sie hätten mich überfahren und irgendwo liegen lassen können, bis die Sonne den Rest erledigte. Geschwächt, wie ich war, hätte ich mich nicht schnell genug heilen können. Die Begegnung mit dem Messer wirkte nach.

Ich lief gebeugt und presste mir eine Hand auf die gebrochenen Rippen. Bei jedem Schritt rieben die gesplitterten Knochen gegeneinander. Es tat weh, aber ich hatte schon viel Schlimmeres erlebt. Ein oder zwei Tage Schlaf, ein Schluck von Ambers Blut, den sie mir nicht geben würde, und ich wäre wieder der Alte.

Ich erahnte die Fragen, die durch Ambers Kopf tobten, doch es sollte ihr überlassen bleiben, wann sie sie stellte. Mein Blut in ihren Adern erschwerte es mir und anderen meiner Art, ihre Gedanken zu lesen.

Dafür hatten wir nun das Siegel. Aber wenn ich es benutzte, würde sie es merken, dessen war ich mir sicher.

„Die Männer“, begann Amber zögernd, „warum wollten sie das Messer?“

Ich erzählte ihr von Gordon, seinem Hunger nach Macht und neuen Revieren.

„Und dafür braucht er das Messer?“

„Ja. Es ist eine starke Waffe, wie du selbst gesehen hast.“

Ich gab einen Moment nicht acht, stolperte über eine hochstehende Betonplatte und fing meinen Sturz gerade noch an einem der Alleebäume ab. Amber blieb neben mir stehen, die Hand um die Tasche mit dem Messer gekrallt, während ich darauf wartete, dass der Schmerz in meinen Rippen wieder nachließ.

„Und wofür willst du das Messer haben?“

„Mein Meister, Curtis Leonhardt, hat mir den Auftrag erteilt, es zu holen.“

„Dein Meister … Clans … Julius, ich verstehe kein Wort. Ist er dein Boss?“

„Ja, auch das. Er ist mein Schöpfer und Beschützer, mein Vater, mein Herr. Er befiehlt, ich führe aus.“

Amber sah mich skeptisch an. War es denn so unglaublich, was ich sagte?

„Julius, wir leben im 21. Jahrhundert!“ Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch.

Der herablassende Gesichtsausdruck, mit dem sie mich ansah, verärgerte mich. „Ich bin kein Mensch, sondern ein Vampir. Du verstehst das nicht“, antwortete ich ein wenig zu scharf.

„Ja, da hast du recht, das verstehe ich wirklich nicht.“

In der Hecke neben uns schlug ein Vogel an und mahnte zur Eile.

Um alles in der Welt wollte ich es vermeiden, mich mit bloßen Händen in irgendeinem Vorgarten eingraben zu müssen.

„Wir sollten weitergehen, Amber, der Morgen ist nicht mehr fern.“

Jeder Schritt tat weh. Der Hüne hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Mein Schädel dröhnte, und wenn ich die Zähne fest aufeinanderbiss, knirschte es in meiner Wange. Doch das war nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die das Messer durch seine bloße Berührung ausgelöst hatte. Sie würden mich sicher noch in meinen Träumen heimsuchen.

Ich konnte es noch immer spüren, auch wenn es wieder verborgen in Ambers Handtasche lag.

Immer wieder stolperte ich über die Betonplatten, die die Wurzeln der alten Bäume angehoben hatten.

Amber hielt anfangs Abstand zu mir, aber nachdem ich zum zweiten Mal fast gefallen wäre, stützte sie mich.

Ihre Berührung tat gut, stärkte mich. Das musste das Siegel sein. Ohne es zu ahnen, gab sie mir von ihrer Lebensenergie.

Wie ein betrunkenes Liebespaar torkelten wir die Gower Street entlang.

Seit fast zehn Minuten hatte Amber kein Wort mehr gesagt.

Verstohlen betrachtete ich sie von der Seite. Ihr Gesicht war neutral wie das eines Vampirs nach langer Übung. Ihre Körpersprache verriet Widersprüchliches. Sie mochte mich, das war einfach zu erraten. Immer wenn sie glaubte, ich sähe es nicht, blickte sie mich an und ihr Herzschlag wurde schneller. Dennoch entströmte ihrer Haut aber nach wie vor der Duft von Angst.

Ich überlegte, Amber nach ihren Gefühlen zu fragen, doch das nahende Tageslicht kroch bereits durch die Straßen und färbte die Schatten blau.

Mir blieb keine Zeit mehr. In den Baumwipfeln über uns lärmten die Papageien.

„Wir müssen uns beeilen, bitte“, drängte ich und sah mit Erleichterung die Spitze des Watchorn-Obelisken zwischen den Palmwipfeln auftauchen.

Das Monument war Teil des Hollywood Forever Cemetery. Auf seiner Spitze glänzte schon die Morgenröte.

Vor dem Seiteneingang, durch den bei Tag Bestatter und Gärtner hereinkamen, blieben wir stehen. Ich kramte den Schlüssel für das Tor aus meiner Hosentasche.

Amber sah mich ungläubig an. „Hier wohnst du? Das ist kein Witz?“

„Ja“, antwortete ich betreten. Plötzlich war es mir unangenehm, dieser jungen, modernen Frau gestehen zu müssen, dass wir jegliches Klischee erfüllten und auf Friedhöfen schliefen.

Amber schluckte ihre Antwort herunter und sah mich fragend an. „Was passiert jetzt mit mir, was ist mit dem Messer?“

„Du behältst es natürlich. Es ist dein Erbstück.“

„Kannst du es nicht nehmen? Ich will es nicht.“

Meinte sie das ernst? Ich lachte bitter auf. „Ich kann es nicht mal berühren, ohne Höllenqualen zu leiden. Wie soll ich es da aufbewahren?“

Sie zuckte mit den Schultern und antwortete nicht.

Ich fasste eine ihrer rotgoldenen Strähnen und drehte das weiche Haar zwischen den Fingern. „Komm heute Abend um acht wieder her, ja? Ich möchte dich gerne wiedersehen.“

Sie sah sich kurz in der verlassenen, dreckigen Seitenstraße um, schien hin- und hergerissen. Das, was Amber heute Nacht mit mir erlebt hatte, sprach deutlich gegen mich.

„Ich schwöre, dass dir nichts geschehen wird. Sag Ja!“

„Ich weiß nicht, Julius. Ich sollte ablehnen, das wäre das einzig Vernünftige.“

„Amber, bitte, wir müssen reden.“

Nervös sah ich nach Osten. Der Himmel war hell, verdammt hell, und meine Beine wurden schwer wie Blei. Bald würde ich zu schwach sein, um den Weg zu meinem Mausoleum zurückzulegen. Kurzerhand umarmte ich Amber, barg ihr Gesicht in meinen Händen und sah ihr aus nächster Nähe in die Augen, als hätte ich noch die gleiche Macht über sie wie vor unserem Bluttausch. „Bis heute Abend also“, sagte ich beschwörend.

Dann hielt mich nichts mehr. Ich schloss das Tor auf und rannte los, als sei der Teufel hinter mir her.

Die Rasensprinkler zischten wie wütende Schlangen, während mich die rasch aufgehende Sonne zu meinem Mausoleum trieb. Mit einem Satz sprang ich die drei Stufen hinauf und öffnete die alte Eisentür. Kühle Luft schlug mir entgegen. Die Treppe in die Gruft war steil, und ich musste mich an den Wänden abstützen, um nicht zu fallen. Der kurze Abstieg erschien mir heute unendlich lang.

Mit letzter Kraft schob ich den Sargdeckel zur Seite, stieg hinein und sank tief in die Kissen, ehe die Sonne meine Bewegungen vollständig lähmte.

***

Amber

Die Sonne war gleißend hell. Es tat gut, hineinzustarren, auch wenn es schmerzte. Schon warfen die breiten Blätter des Feigenbaums die ersten Schatten auf die Terrasse, die sich direkt ans Haus anschloss und das Zentrum eines grünen Durcheinanders bildete, in dem Obststräucher, Lilien und ein großer Orangenbaum wuchsen. Mein kleines Paradies, dem ich nur hin und wieder mit Mäher oder Zange zu Leibe rückte.

Hier saß ich nun, mit dem Messer auf dem Schoß, während die Sonne auf mich hinabbrannte, wie um mir zu beweisen, dass ich nicht zu einem Wesen der Nacht geworden war. Einer Kreatur, die in Märchen und schlechte Filme gehörte, aber doch nicht in die Realität, nicht in mein Leben!

Ich schloss die Augen, es ging nicht mehr. Tränen wuschen das blendende Licht davon.

Nachdem Julius einfach so abgehauen war, hatte auch ich es keinen Moment länger in der düsteren Seitenstraße ausgehalten. Ich war das kurze Stück zum weniger unheimlichen Santa Monica Boulevard gehetzt und hatte ein Taxi gerufen. Die wenigen Minuten, die ich warten musste, lief ich auf dem Kunstrasen, den sie vorm Haupteingang des Friedhofs verlegt hatten, unruhig auf und ab, bereit, sofort das Messer zu zücken, sobald sich jemand näherte. Doch der Sonnenaufgang schien sie alle vertrieben zu haben.

Wenig später wurde ich sicher vor der Haustür abgesetzt.

Mein Zuhause. Das war Silverlake.

Viele mexikanische Einwanderer lebten hier, aber auch Künstler, Musiker und Studenten. Der Sunset Boulevard war in dieser Gegend schmaler, gewundener und gesäumt von kleinen Läden und Cafés.

Anders als viele meiner Freunde und Bekannten, die gefühlt alle ein, zwei Jahre umzogen, konnte ich mir nicht vorstellen, woanders zu wohnen. Ein Nomadenleben war nichts für mich.

Und dann gab es da noch zwei weit praktischere Gründe, weshalb ich noch immer bei meiner Ma lebte. Das Haus war groß genug, um sich aus dem Weg zu gehen, und mein Gehalt als Vergolderin schlicht zu klein, um bei den hohen Mieten in Los Angeles anständig leben zu können. Ein Garten und selbst ein winziger Balkon wären nicht drin gewesen.

Jetzt, am späten Vormittag, glomm die Sonne von einem bleiernen Himmel. Ein typischer Septemberhimmel, dessen Blau von Staub und Smog geschluckt wurde.

Trotz der allgegenwärtigen Helligkeit fiel es mir schwer, die Erinnerungen an die vergangene Nacht auf Abstand zu halten. Mein Leben war zu einem Albtraum mutiert.

Zwischen meinen Schulterblättern breitete sich wieder dieses Brennen aus, das gemeinsam mit dem Druck in der Magengrube eine Panikattacke ankündigte, die es zu unterdrücken galt. Ich zwang mich, ruhiger zu atmen.

Statt der Horrorbilder tauchte diesmal zuerst Julius aus meiner Erinnerung auf. Warum fühlte ich mich so verbunden mit ihm, obwohl unsere Begegnung so kurz und traumatisierend gewesen war?

Ich ertappte mich dabei, unserem Wiedersehen entgegenzufiebern, auch wenn mich beinahe pausenlos die Erinnerungen an sein blutverschmiertes Gesicht heimsuchten.

Ich rieb mir mit den Händen über die Stirn und drückte die Handgelenke auf die geschlossenen Augen, bis weiße und rote Punkte durch die Schwärze tanzten. Das Bild verschwand.

Er hatte mein Blut getrunken!

Der Typ ist ein Perverser, ein Kannibale. Und doch war er etwas anderes als das, das spürte ich ganz genau.

Kein Zweifel, Julius war gefährlich. Das Monster in ihm lebte dicht unter der Oberfläche und lechzte nach meinem Blut. Ich konnte es fühlen. In seiner Gegenwart schrie jede Faser meines Körpers nach Flucht. Doch etwas hinderte mich. Die Macht, die Wildtiere vor ihrem Häscher erstarren ließ – und mehr als das.

Es war der Ausdruck in Julius’ Bernsteinaugen, der die Waage zu seinen Gunsten kippen ließ. Die Einsamkeit darin und die Verletzlichkeit.

Abgesehen davon würde er mir verdammt viele Fragen beantworten müssen. Erst dann würde ich mir überlegen, ob ich ihn weiterhin sehen wollte.

Es wäre das Vernünftigste gewesen, heute Abend gar nicht erst zum Friedhof gehen. Aber meine Neugierde war stärker, war es immer schon gewesen.

Ich rief mir den Moment vor dem Restaurant ins Gedächtnis, als ich Julius durch das Taxifenster gesehen hatte. Schlank und groß und unbeweglich hatte er dort gestanden, in der Hand den Blumenstrauß. Die Menschen, die an ihm vorbeigingen, schienen ihn gar nicht wahrzunehmen, doch ich sah ihn. Und dann sein erleichtertes Lächeln, als ich ausstieg.

Ich erinnerte mich an seinen Duft. Die herbe Schwere seines Parfums und darunter verborgen der erdige Herbstgeruch der Haut. Frisch wie das Versprechen von Schnee an einem kalten Wintertag, und das im Hochsommer in L.A.

Und dann, ganz plötzlich, veränderte sich das Bild. Julius brach zusammen. Seine Haut floss, kochte schwarz und er schrie. Zuerst fraß das Messer ein Loch in seine Brust, dann breiteten sich die Schwären immer weiter aus. Erst ganz zum Schluss erreichten sie sein Gesicht. Er flehte mich an aufzuhören, doch in mir war nur Triumph.

Du weißt, dass du ihn töten musst, Amber. Der Dämon will dich nur manipulieren, er will sich von dir nähren, und wenn er genug hat, zerquetscht er dich. Er reißt dir die Arme und Beine aus wie ein Kind, das ein Insekt quält, denn mehr bist du nicht für ihn. Töte den Dämon! Befreie die Welt von diesem Übel!

Das Messer manipulierte meine Gedanken. Seine Stimme dröhnte durch meinen Kopf. Vernichte ihn, du weißt, wo er sich versteckt. Er schläft, jetzt ist es einfach, tu es, sofort! Vernichte den Dämon, vernichte ihn, vernichte ihn!

Verzweifelt stemmte ich mich gegen den Hass, der mein Inneres flutete, doch ich kam kaum dagegen an. Wären nicht fast all meine Probleme gelöst, wenn ich einfach tat, was die Stimme mir sagte? Wäre das nicht wunderbar einfach?

Aber ich wollte keine Mörderin sein. Niemals!

Mit einem Aufschrei stieß ich die Waffe von mir. Das Messer polterte auf den verblichenen Holzboden der Terrasse und schien mich von dort aus anzustarren.

„Vergiss es, ich werde niemals zu deinem Werkzeug, du Scheißding. Ich werde mein Leben so leben, wie es mir gefällt, such dir wen anders!“

Wie zur Antwort schmerzte mein rechter Arm, mit dem ich das Messer geführt hatte, als erwachten darin glühende Fäden.

„Kannst du vergessen“, sagte ich grimmig und starrte in die sacht schwingenden Wedel einer Bananenstaude, um meine Ablehnung zu unterstreichen.

Der Einfluss des Messers schwand.

Obwohl die Sonne unvermindert vom Himmel brannte, war mir plötzlich kalt. Ich rieb mir über die schweißfeuchten Arme und fühlte, wie mir die Kälte in die Knochen kroch.

Das Messer lag noch immer auf dem Boden. Ich brauchte einen Moment, um mich zu überwinden, dann beugte ich mich vor und hob es auf. Ich erwartete, wieder die unheimliche Stimme zu hören, doch diesmal blieb die Waffe stumm.

Vielleicht sollte ich mir meinen Widersacher mal genauer ansehen.

Die Klinge war fast schwarz und die Maserung so fein, dass sie mit bloßem Auge kaum zu erkennen war. Ich entdeckte eine Inschrift im Holz, aber sie war so abgewetzt, dass ich nur jeden dritten Buchstaben lesen konnte. Silberne Muster wanden sich um den Griff und verstärkten den Rücken der Klinge. Der Griff war hohl und ließ sich mit etwas Mühe aufschrauben. Er enthielt drei Knochenstücke, Haare, die nach Mensch aussahen, Holz, Silber und Gold, davon allerdings so wenig, dass es kaum von Wert war, sowie ein dünnes Pergamentröllchen, auf dem ein lateinischer Text stand, vermutlich ein Gebet, und der Name „Paulus“. Für eine Übersetzung reichten meine Kenntnisse leider bei Weitem nicht aus.

Ich drehte das Messer nachdenklich in der Hand und ließ die Sonne darauf scheinen. Dieses Ding musste der Grund dafür sein, dass Frederik sich so verändert hatte.

Ob er in den vergangenen Jahren überhaupt noch einen klaren Gedanken hatte fassen können? Wie viel des alten Frederik war überhaupt noch in ihm gewesen? Es tat mir weh, dass ich ihm womöglich Unrecht getan hatte. Vielleicht wäre es ihm mit meiner Hilfe gelungen, sich vom Einfluss der Waffe zu befreien.

Ich scheute mich, darüber nachzudenken, wie vielen Untoten mein Bruder das Messer in den Jahren seit seiner Veränderung wohl in die Brust gejagt hatte.

Untot, das galt auch für Julius, wurde mir mit mulmigem Gefühl klar, auch wenn sich nach wie vor alles in mir dagegen sträubte, an die Existenz von Vampiren zu glauben.

Unwillkürlich tastete ich nach dem kleinen Silberkreuz an meinem Hals, obwohl ich es gar nicht aus Glaubensgründen trug, sondern als Erinnerung an meine verstorbene Großmutter.

„Hast du etwas gesagt, Schatz?“

Ich fuhr erschrocken herum. Ma trat barfuß und mit fast lautlosen Schritten auf die Terrasse. Sie war blass und schien gerade wieder geweint zu haben. Ich sah zu ihr auf und drückte ihre Hand.

„Nein, ich habe nichts gesagt“, erwiderte ich knapp. Wenn ich ihre Tränen sah, würde ich meine womöglich nicht länger zurückhalten können, also wandte ich mich ab.

„Wir müssen bald los“, sagte sie.

„Ja, ich weiß.“

„Ich war seit Jahren nicht mehr in seiner Wohnung.“

Auch ich hatte Frederik nur selten besucht. Aber es war fast Monatsende, und die Wohnung musste in den nächsten Tagen geräumt werden. Ich scheute diesen Gang nicht weniger als Mama. Im Moment begrüßte ich allerdings sogar diese makabre Ablenkung, und schleichend kehrte auch meine Neugier zurück.

Wenig später saß ich am Steuer von Frederiks uraltem Ford Mustang. Das Lenkrad war mit Fell überzogen und ekelhaft speckig. Er hatte mir den Wagen vermacht, und nach einem dringend nötigen Aufenthalt in der Werkstatt fuhr ich ihn heute zum ersten Mal. Er roch noch nach Freddys Zigaretten.

Ma saß zusammengekauert auf dem Beifahrersitz.

Nachdem wir uns eine gefühlte Ewigkeit über verstopfte Boulevards gequält hatten, bogen wir endlich in Freddys Straße ein.

Auf dem Gehweg vor dem Haus war nichts mehr zu sehen. Dennoch machten wir einen Bogen um die Stelle, an der vor etwas mehr als einer Woche noch ein riesiger Blutfleck geprangt hatte. Sein Blutfleck.

Wie schnell die Stadt doch vergisst, dachte ich, während wir aus der grellen Mittagssonne in den düsteren Hausflur traten. Einen Moment lang fühlte ich mich blind. Ich schob mir die Sonnenbrille in die Stirn und blinzelte mehrfach.

Das Treppenhaus war muffig und dunkel, und der bittere Geruch von altem Erbrochenen stieg mir in die Nase. Im zweiten Stock angekommen, durchtrennte ich das Klebeband, mit dem die Polizei die Tür versiegelt hatte, und schloss auf. Den Reserveschlüssel, den Freddy uns bei seinem Einzug gegeben hatte, hatten wir in all den Jahren nicht ein einziges Mal benutzt.

Beim Eintreten traf uns fast der Schlag.

In der kleinen Wohnung herrschte völliges Chaos. Die Spurensicherung war nicht gerade pfleglich mit dem Inventar umgegangen, doch wahrscheinlich hatte es vorher auch nicht viel besser ausgesehen.

Wände und Möbel waren grau gesprenkelt. Es sah aus, als sei ein Staubsaugerbeutel explodiert.

„Mein Gott, was ist das?“ Ma hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.

„Sie haben nach Fingerabdrücken gesucht, das kennst du doch aus dem Fernsehen“, antwortete ich bemüht geduldig, auch wenn ich meine gesamte Selbstbeherrschung gerade eigentlich für mich brauchte.

Entschlossen, diese Sache so schnell und gründlich wie möglich hinter mich zu bringen, fischte ich eine Rolle schwarzer Müllsäcke aus meinem Rucksack und riss einen davon ab. Während Charly liebevoll Frederiks Zeichnungen von den Wänden nahm und in einer Mappe verstaute, fing ich mit dem Schlafzimmer an.

Hier sah es aus, als wäre Frederik nur mal eben für das Frühstück einkaufen gegangen. Auf dem Nachttisch stand ein halbvolles Glas Wasser, das Bett war ungemacht, und davor lagen Socken und ein schmutziges Shirt.

Entschlossen drehte ich Bett und Nachttisch den Rücken zu und öffnete die Schränke.

„Nicht weinen“, murmelte ich leise vor mich hin und begann, den Inhalt des Kleiderschranks für die Heilsarmee in Säcke zu verpacken.

Für eine Weile füllte mich die monotone Arbeit vollkommen aus. Erst als ich am Boden des Schranks ankam, war es damit vorbei – und zwar schlagartig.

Unter Bergen miefender Turnschuhe lag eine mittelgroße, flache Holzkiste, die anscheinend absichtlich dort verborgen worden war.

Beim bloßen Anblick breitete sich Gänsehaut auf meinen Armen aus. Eine Weile starrte ich die Kiste unschlüssig an. Wollte ich wirklich wissen, was darin war?

Erst jetzt fiel mir auf, wie still es eigentlich war. Außer dem ewigen Straßenlärm war nichts zu hören. Kein Ton von Ma.

Alarmiert drückte ich mich vom Boden hoch und blickte vorsichtig ins Wohnzimmer. Ma stand reglos am Fenster und sah in den aschgrauen Himmel. Ihre zitternden Finger umklammerten den Rahmen. Es war das Fenster, aus dem Frederik in den Tod gesprungen war.

Ich überlegte, zu ihr zu gehen, doch dann begriff ich, dass sie diesen Augenblick wohl für sich brauchte, um ganz und gar zu verstehen, dass ihr Sohn von ihr gegangen war.

Leise schloss ich die Tür und setzte mich mit der flachen Kiste auf das Bett. Eine Weile ließ ich meine Finger unschlüssig über das glattpolierte Holz gleiten, dann fand ich genug Mut und drückte auf die kleinen Hebel auf der Vorderseite. Zwei schlichte Metallverschlüsse schnappten auf, und der Deckel hob sich ein wenig. Ich stieß ihn mit spitzen Fingern zurück.

„Ach du Scheiße, Frederik!“

Eingebettet in roten Samt lag eine moderne Armbrust mit Dutzenden Pfeilen. In einem gesonderten Fach verbargen sich Pflöcke, so spitz und kunstvoll gearbeitet, dass sie eher hölzernen Dolchen mit dreieckigem Querschnitt glichen.

Das Messer war augenscheinlich nicht die einzige Waffe, die Frederik sein Eigen nannte. Er musste sein komplettes Leben auf die Jagd nach Vampiren ausgerichtet haben. Während ich die sorgfältig gepflegten Waffen musterte, kam mir ein schrecklicher Verdacht: Er hatte es gern getan. Diese Erkenntnis tat mehr weh als alles andere, und sie veränderte etwas in mir. Auf einmal war ich wütend auf ihn, so wütend, wie ich es noch nie gewesen war.

Sich nicht gegen den Einfluss des Messers wehren zu können, war eine Sache und vielleicht verzeihbar. Aber dass Frederik Freude am Töten gehabt hatte …

Ich stopfte die Kiste in meinen Rucksack und warf ihn aufs Bett. Der Zorn blieb. Nur, weil Freddy Superheld spielen wollte, hatte er sein Leben verloren und meines gleich mit aus der Bahn geworfen. Und Julius war nicht besser, er machte alles nur noch schlimmer.

Ich schlug mit der Faust ins Kopfkissen, so verdammt hilflos fühlte ich mich in dieser ganzen Sache.

Warum hatte ich Frederik in der Vergangenheit nicht wenigstens ein einziges Mal zugehört? Dann hätte ich jetzt womöglich gewusst, warum er sterben musste und warum er ausgerechnet mir diese verfluchte Waffe vererbt hatte. Leider half mir die späte Reue nicht, denn ich würde ihn nie wieder fragen können. Und dabei war es doch seine Schuld, dass mir plötzlich Vampire nach dem Leben trachteten. Ob Julius das auch tat, würde ich bald herausfinden dürfen. Vertrauen konnte ich ihm nicht.

Einfach vor ihm und dem Messer davonzulaufen, war keine Option, das hatte ich inzwischen begriffen. Es gab zu vieles, das ich nicht wusste, zu viele unbekannte Kräfte, die plötzlich auf mein Leben einwirkten.

Zu viele Gefahren.

Ich brauchte wirklich dringend Antworten, und Julius kannte sie. Warum sonst war er bei Frederiks Beerdigung gewesen, warum sonst hatte er meine Nähe gesucht? Julius musste wissen, was es mit all dem auf sich hatte!

Heute Morgen war all das noch so neu für mich gewesen, dass ich gar nicht gewusst hätte, welche Fragen ich stellen sollte, selbst wenn Julius mir nicht ausgewichen wäre. Doch diesmal würde ich alles erfahren, was ich wissen wollte.

Ich würde mir meine Antworten holen! Notfalls auch mit dem Messer.

***

Julius

Feuer.

Jede Faser meines Körpers brannte.

Ich träumte von dem Messer, litt Höllenqualen, war gefangen in meinem Albtraum, der so lange währte, wie die Sonne am Himmel stand.

Als die Schatten länger wurden und ich endlich, endlich erwachte, fühlte ich mich schwächer als am Morgen zuvor.

Mit dem Sonnenuntergang kroch der Tod aus meinem Körper und nahm die Lähmung mit, die ihn befallen hatte. Bang erwartete ich wie jeden Abend den schmerzhaften ersten Herzschlag. Er kam und ging wie ein Erdbeben, dann konnte ich mich endlich wieder bewegen und schob den Marmordeckel des steinernen Sargs zur Seite.

Es war stockfinster, doch sobald ich mich aufsetzte, wusste ich, dass sie da war. Amber. Noch trennten uns mehrere Fuß Erde, doch schon jetzt konnte ich spüren, dass sie wütend war. Ihre Emotionen wallten in alle Richtungen und wurden von dem verfluchten Messer noch verstärkt.

Ich stemmte mich gegen meine Instinkte, die nach Flucht schrien.

Klare Gedanken, das war es, was ich jetzt brauchte. Und einen ordentlichen Schluck Blut. Was ich wohl vorerst vergessen konnte, weil Amber zwei Stunden zu früh gekommen war und mir keine Zeit mehr zur Jagd blieb.

Großartig!

Vielleicht hätte ich sie gestern doch töten und das Messer einfach bei Curtis abliefern sollen. Im Augenblick bereitete sie mir nur Scherereien.

Ich starrte in die weiche, tröstliche Dunkelheit und wäre am liebsten liegen geblieben, doch der Durst würde mich früher oder später an die Oberfläche treiben, direkt in ihre Arme. Ich tastete nach den Streichhölzern und der Kerze auf dem Tischchen neben dem Sarg.

Schwefelgeruch kitzelte meine Nase, als ich ein weiteres Streichholz entzündete, und bald tauchten zuckende Flammen die Kammer in freundliches Zwielicht.

Ich wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, das aus einem porösen Kupferrohr in ein altes Weihwasserbecken in der Ecke tropfte. Das Behältnis verlieh der Flüssigkeit keinerlei besondere Kraft, und selbst wenn es sich um richtiges Weihwasser gehandelt hätte, wäre ich durch meinen Unglauben vor unangenehmen Konsequenzen geschützt gewesen, da die Symbole des Christentums nur Vampire beeinflussen konnten, die in ihrem sterblichen Leben religiös gewesen waren.

Amber ging dort oben unruhig auf und ab. Ich konnte sie fühlen. Ohne das Siegel hätte ich sie wie jeden anderen Menschen nur als gesichtslosen warmen Schatten gespürt, aber unsere neue Bindung gab mir Gewissheit, dass sie es war.

Ich ließ mir absichtlich Zeit, wählte sorgfältig meine Garderobe aus. Die Tricks, die ich üblicherweise bei meiner Beute anwendete, würden bei Amber dank des Siegels nicht wirken, also musste ich ihr gefallen. Schwarze Hose, weißes Hemd, Sakko, klassisch elegant und zeitlos. Ein Blick in den Spiegel zeigte, dass die Schwellungen und Blutergüsse in meinem Gesicht verschwunden waren. Nur durch meine Braue zog sich eine schmale Kruste. Wangenknochen und Rippen schmerzten noch ein wenig. Morgen würden auch die restlichen Spuren des Kampfes verschwunden sein.

Als ich schließlich den Weg nach oben antrat, fühlte ich durch das Siegel nach wie vor Ambers Anspannung und Wut. Ich öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinaus.

Sie saß mit dem Rücken zu mir auf dem Rasen und schaute zum Teich, auf dessen schattenblauem Wasser Seerosen trieben.

Leise trat ich in die noch junge Nacht. Die Tür schloss geräuschlos, das häufige Ölen der Scharniere war die Mühe wert gewesen. Ich ging die drei Marmorstufen hinunter und brachte einige Schritte Abstand zwischen mich und mein Mausoleum, um Ambers Aufmerksamkeit nicht auf das Versteck zu lenken.

„Guten Abend“, sagte ich schon aus einiger Entfernung, um sie vorzuwarnen. Sie zuckte dennoch wie vom Blitz getroffen zusammen und war im nächsten Augenblick auf den Beinen.

„Julius!“

„Keine Angst, Amber, ich will dich nicht fressen“, sagte ich und hob beschwichtigend die Hände.

„Schlechter Scherz.“

„Ich weiß, entschuldige bitte. Du machst mich nervös.“

Ambers Gesicht war wie versteinert. Sie hatte sich die Haare streng nach hinten gebunden, trug enge Jeans und ein Top, beides schwarz. In ihrem Gürtel steckte das Messer, wütend und selbstbewusst, als sei es bereits zu einem Teil von ihr geworden.

„Darf ich näher kommen?“, fragte ich. In meinen Worten hörte ich Unsicherheit mitschwingen und hasste mich dafür.

„Ich weiß nicht, Julius.“ Amber schien hin- und hergerissen.

Würde sie mich umbringen wie gestern meinen Artgenossen? Meine Instinkte schrillten Alarm und übernahmen für einen Augenblick die Oberhand.

„Gut, dann gehe ich lieber“, sagte ich und machte auf dem Absatz kehrt. Sollte sich Curtis doch selber mit ihr herumschlagen. Das Experiment war missglückt. Es war nicht möglich, dass ein Vampir das Messer durch einen Diener führte. Das Ganze war nichts weiter als eine hübsche Idee gewesen, die nicht funktionierte.

Die Waffe war dafür einfach zu stark, fraß zu gierig an uns und unserer Magie.

„Bleib, bitte“, drang Ambers Stimme von hinten an mein Ohr.

„Versprich mir, dass du das Messer aus dem Spiel lässt, und ich schwöre, dir nichts zu tun“, erwiderte ich.

„Ich verspreche es. Solange du nichts machst, was ich nicht will.“

„Okay“, erwiderte ich beruhigend und versuchte dabei, so menschlich wie möglich zu wirken. Ich wollte ihr keine Angst machen, ganz im Gegenteil.

Amber nickte erleichtert. Die Anspannung wich aus ihrem Körper, und mit einem Mal kehrte das Leben in sie zurück. Sie war wieder sie selbst, zumindest ein bisschen. Das Messer hatte seinen Einfluss verloren.

Ich tat den ersten Schritt, dann gingen wir aufeinander zu, bis wir direkt voreinander standen, so nah, dass sich unser Atem vermengte.

„Schön, dass du gekommen bist“, sagte ich leise.

Sie schwieg und musterte mich, mein Gesicht, meine Augen.

Ihre Nähe war wie süßes Gift. Seit dem Bluttausch wollte ich sie berühren, beschützen und fühlte mich durch die Macht des Messers doch immer wieder von ihr betrogen.

„Verdammt, Curtis“, fluchte ich leise. Er hatte genau gewusst, was er mir antat.

„Was hast du gesagt?“

„Nichts. Du bist zu früh.“

„Es tut mir leid, aber ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Das ganze Haus ist voller Leute, die meisten kenne ich noch nicht einmal! Und jeder will mit mir reden. Aber ich mag das nicht, ich kann das nicht. Nicht so. Ich … ich …“ Sie rang nach Luft.

„Amber.“

„Und dann noch das Messer. Das ist alles zu viel für mich, Julius. Du, deine Art, deine ganze Welt. Verdammt!“

„Ich weiß, dass es schwer ist.“

„Nichts weißt du. Du machst mir Angst.“

Bestürzt sah ich ihr in die Augen und las darin, dass sie die Wahrheit sagte: Sie fürchtete sich beinahe zu Tode. Aus ihrer Haut stieg der verführerische Duft von Beute.

Irritiert bezwang ich meinen Jagdtrieb und nutzte die Gabe meiner Gattung, auch wenn ich Amber versprochen hatte, es nicht zu tun. In mir erhob sich ein kalter Hauch, eine Kraft, die ich seit dem Beginn meiner Existenz als Vampir geschult hatte. Sie war in der Lage, meine Beute zu betäuben und ihr Vergessen zu schenken.

Jetzt konzentrierte ich sie auf Amber. Wie ein feiner Regen perlte die Magie über ihre Haut, wusch die Angst davon und weckte Ambers Begehren. Ihre Schultern entkrampften sich. Sie seufzte erleichtert.

Ich hätte es so weit treiben können, dass sie sich mir lusttrunken hingab, gleich hier und jetzt auf dem Friedhof. Doch nichts lag mir ferner als das. Wie ein Strudel verschluckte mein Körper den Energiefluss wieder, und Amber schwankte vorwärts, als fehlte ihr plötzlich eine Stütze.

„Ich habe den ganzen Tag an nichts anderes denken können als an das verdammte Messer.“ Sie sah zu mir auf, dann setzte sie leise hinzu: „Und an dich.“

Ich streifte mit den Fingern ihren Handrücken.

Sie zuckte zurück. „Nicht … Vielleicht später.“

Ich schob meine Hände in die Hosentaschen und ließ meinen Blick schweifen, um Amber nicht anzustarren, was den Hunger noch weiter gesteigert hätte. Mein Körper verlangte nach Blut, um sich zu heilen. Dringend. Die Verbindung durch das Siegel machte Amber zu einer noch wertvolleren Blutquelle.

„Was nun?“, fragte sie.

„Vielleicht ist es besser, wenn wir uns in zwei Stunden woanders treffen, dann können wir über alles reden“, antwortete ich ausweichend.

„Warum nicht jetzt?“

„Weil …“ Konnte ich es wirklich sagen? „Weil ich noch nicht getrunken habe, deshalb.“

Ambers Blick grub sich in meinen. „Und?“

„Und ich habe Hunger.“

Amber sah sich um, als läge die Antwort irgendwo zwischen Rosen und Palmen verborgen oder tief in einem der Mausoleen. Unsicher, flatterhaft, tastete ihre Hand nach dem Messer. Ihr Blick bekam etwas Traumwandlerisches.

„Amber, nicht!“

„Ja, ich …“ Worte wie aus weiter Ferne.

„Du kontrollierst das Messer, nicht umgekehrt.“

Sie straffte ihren Rücken und atmete tief ein. Die Aura des Messers verschwand, und Amber legte ihre warme, lebendige Hand in meine.

Mein kleiner Finger glitt wie von selbst auf die weiche Unterseite ihres Handgelenks und fühlte den aufregenden Rhythmus des Blutes durch ihre Adern rauschen. „Du brauchst mich nicht zu fürchten. Ich habe versprochen, dir nichts zu tun.“

„Es ist nur … deine Augen, sie sahen gerade so merkwürdig aus.“

Ich verfluchte meinen Raubtierblick. „Das ist der Hunger, die Augen sind sein Fenster in die Welt. Es tut mir leid, wenn sie dir Angst gemacht haben. Sie bedeuten nichts. Ich kann den Durst genauso kontrollieren wie du das Messer. Alles okay?“

„Ja, ist wieder gut.“

„Dann komm mit.“ Ich führte sie zu meinem Lieblingsplatz, einer kleinen Marmorbank direkt am Seerosenteich. Sie stand unter einem fast hundert Jahre alten Wacholderbaum. Die dichten, dunklen Zweige verströmten wohlige Düfte und dienten einem kleinen Käuzchen als Zuhause, dessen klagender Ruf meine Einsamkeit spiegelte.

Die Bank war schmal und so kurz, dass sich unsere Körper berührten. Ich hoffte, dass mein erst vor Kurzem erwachter Leib nicht zu kalt war. Bewusst nutzte ich meine verbleibende Energie, um meinen Körper lebendiger und wärmer zu machen. Mein Herz schlug schnell, und ich atmete tief und gleichmäßig. Ich musste Ambers Vertrauen gewinnen, so lautete Curtis’ Auftrag.

Amber starrte auf den Teich. Sie beobachtete die riesigen Kois, die als träge, farbige Schatten durch das Wasser glitten.

Ich zwang mich, nicht auf die zarte Ader zu schauen, die an ihrer blassen Schläfe schlug.

Amber hielt noch immer meine Hand. Gedankenverloren ließ sie ihren Daumen in meiner Handfläche kreisen.

„Woher hatte mein Bruder das Messer?“, fragte sie schließlich.

„Ich weiß es nicht“, antwortete ich ehrlich. „Vor fast vier Jahren wurde es zum ersten Mal hier in der Stadt benutzt, und es war von Anfang an in Frederiks Besitz.“

Amber schwieg eine Weile, dann sah sie mich an.

„Was geschieht jetzt mit dem Messer?“

„Das entscheidet mein Meister. Er weiß, dass ich dich und die Waffe gefunden habe.“

„Da ist es schon wieder. Meister!“, sagte Amber.

Aus ihrem Mund klang es fast wie eine Anklage.

„Entscheidest du auch manchmal für dich selbst?“

„Natürlich!“

„Und wenn dir dieser Meister zum Beispiel verbieten würde, mich zu treffen?“

„Das würde er nicht, das ist meine Privatsache.“

„Aber wenn?“

„Ich würde ihn bitten, es noch einmal zu überdenken.“

„Julius!“ Sie sah mich ernst an. „Könnte er es?“

Ich blickte auf meine Knie. „Ja.“

„Aber wieso?“, fragte sie verständnislos.

Ich schwieg. Wie sollte ich ihr erklären, was es bedeutete, in einem Vampirclan zu leben? Unser Alltag war so fernab von ihrer modernen Welt. Vor zweihundert Jahren hätten mich die Menschen sofort verstanden, aber heute, wo jeder tat, wozu er gerade Lust hatte, wo alle Regeln über Bord geworfen oder bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht worden waren …

Curtis Leonhardt war mein Meister, durch sein Blut hatte ich meine Kraft und mein unsterbliches Leben erlangt. Wie sollte ich ihm dafür nicht dankbar sein können? Er hatte mich erschaffen und besaß dadurch ein grundlegendes Recht auf meinen Gehorsam.

Amber strich mir über den Rücken und riss mich damit aus meinen Grübeleien. „Es ist schon in Ordnung, wenn du nicht darüber reden willst, Julius“, sagte sie, und ich beließ es dabei.

Sie ist jetzt meine Dienerin, erinnerte ich mich. Allein schon das Wort würde ihr nicht gefallen. Aber für mich bedeutete es, dass ich mir Zeit lassen konnte. Amber würde schon noch früh genug erfahren, was wichtig war. Erst einmal musste ich ihr Vertrauen gewinnen.

Ich sah ihr in die Augen, lächelte und musste es nicht einmal vortäuschen.

Aus Ambers Gesicht wich die Traurigkeit, als könne sie ihre Gefühle ebenso gut wegsperren wie ich meinen Hunger. Sie erwiderte mein Lächeln.

Ich hatte eine Idee. „Was machen wir jetzt?“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Gehen wir in einen Klub?“, schlug ich vor. „Du suchst aus.“

Amber lachte befreit. „Klingt gut. Aber du solltest wissen, dass normale Klubs nicht mein Fall sind.“

„Meiner auch nicht“, gab ich zurück, grinste breit und ließ sie meine Reißzähne sehen.

„Es ist zwar noch ein bisschen früh, aber dann los. Ab zur Freakshow!“

Ein Hauch von Bitterkeit lag in ihren Worten. Sie griff meine Hand fester und lief einfach los. Das hier war anscheinend ihre Art, mit Trauer umzugehen, und es war vielleicht nicht unbedingt die falsche.

Scheinbar willenlos ließ ich mich von ihr davonziehen und taumelte wie ein verliebter Falter in ihrer Duftspur.

Unser Ziel war das wohl reizloseste Auto, das ich je gesehen hatte.

Der alte Mustang parkte direkt neben dem Seiteneingang des Friedhofs. Er war übersät mit Beulen und Rostflecken, und seine Farbe glich der eines faulen roten Apfels. Den Wagen kannte ich, ich war ihm viele Nächte heimlich gefolgt. „Er hat dir die hässliche Schleuder vermacht?"

„Ja, hat er. Ist eine bessere Erinnerung als das Messer.“

„Entschuldige.“

„Nicht schlimm, es ist wirklich grausig.“

Wir stiegen ein, der Motor erwachte hustend zum Leben, und schon waren wir unterwegs. Die Gower Street zog vorbei.

Amber setzte den Blinker. Ich lehnte mich in dem muffigen Sitz zurück und sah aus dem Fenster, während wir langsam den Santa Monica Boulevard hinunterfuhren. Erstaunt stellte ich fest, dass ich seit langer Zeit zum ersten Mal wieder einen Hauch von Glück verspürte. Und das, obwohl aus dem Wagen der Geruch toter Vampire stieg. Warum nicht die Zeit, die ich mit Amber verbringen sollte, angenehm gestalten? Ich nahm mir vor, ihre letzten Tage oder Wochen zu etwas Besonderem zu machen. Der Tod, den ich ihr bringen würde, wenn Curtis seine Ziele erreicht hatte, sollte sanft und schmerzlos sein. Ein bittersüßer Schmerz zog mir die Brust zusammen. „Ich bin froh, dass ich dir begegnet bin.“

Amber sah mich überrascht an, doch ich starrte aus dem Fenster, ohne eine Antwort zu erwarten. Drei Straßen weiter bekam ich sie dennoch.

„Ich bin auch froh darüber, Julius.“

Amber schwieg die ganze restliche Fahrt über, und ich versuchte, sie nicht zu stören. Aus der Anlage dröhnte Musik von Diary of Dreams. Der Song Play God! schien Amber besonders zu gefallen, denn sie spielte das Stück gleich dreimal hintereinander.

Ich beobachtete ihr Mienenspiel im Licht der Laternen, bis wir schließlich auf einem Parkplatz in einer kleinen Nebenstraße des Wilshire Boulevard parkten. Als Amber ausstieg, sah sie ratlos an sich hinab. Das Messer steckte mehr als auffällig in ihrem Gürtel. „Ich sollte es wohl nicht im Wagen lassen.“

Ich schüttelte energisch den Kopf. „Auf keinen Fall!“

Amber hatte noch eine dünne schwarze Spitzenbluse auf der Rückbank liegen, doch auch nachdem sie diese übergezogen hatte, zeichnete sich der Griff noch deutlich ab. „So komme ich unmöglich rein.“

„Solange du nicht abgetastet wirst, wird es niemand bemerken. Ich kümmere mich um die Türsteher, sie werden dich wie Luft behandeln.“

Sie schenkte mir einen überraschten Blick und zog eine Braue hoch.

Ich zuckte mit den Schultern, und wir machten uns auf den Weg.

Ich hatte Amber die Wahl des Klubs überlassen, und sie hatte sich wie erhofft für einen Gothic-Laden entschieden. Nirgendwo sonst konnte sich unsereins derart frei bewegen. Ich brauchte mir nicht einmal die Mühe zu machen, meine Reißzähne und die blasse Haut zu verbergen.

Das Malediction Society, das in der oberen Etage eines Art-déco-Hauses direkt am Wilshire Boulevard untergebracht war, gefiel mir besonders. Es hatte Stil und viele dunkle Winkel, und sogar die Musikauswahl war gut.

Schweigend warteten wir darauf, dass die Fußgängerampel umsprang. Ich legte meinen Arm um Ambers Schulter und spielte mit ihren roten Locken.

Sie sah zu mir auf. „Ist deine Haut immer so kalt?“

Hastig zog ich den Arm fort und ging auf Abstand. „Entschuldigung.“ Ich hatte nicht achtgegeben. Länger als einige Minuten musste ich die Illusion von Lebendigkeit sonst nie aufrechterhalten. In Ambers Nähe war ich erschreckend unkonzentriert. Ungeduldig hämmerte ich mit der Faust auf den Ampelknopf.

Amber sah mich überrascht an. „Habe ich etwas Falsches gesagt, Julius?“

Mein Gesicht schien Bände zu sprechen.

Amber griff nach meinem Arm und legte ihn entschlossen zurück auf ihre Schulter. Ich ließ ihn dort.

Endlich wurde es Grün und ich konnte diesem unangenehmen Gespräch entfliehen. Mehr und mehr schwarzgekleidete Gestalten fanden mit uns den Weg zu dem Hintereingang, durch den man den Klub betrat.

Ein bulliger Türsteher kontrollierte unsere Führerscheine auf das Alter, und ich ließ mich von ihm betatschen, wobei ich mir Zugang zu seinen Gedanken verschaffte und dort ein wenig Chaos stiftete, um Amber unbemerkt an ihm vorbeiziehen zu können. Er würdigte sie keines Blickes.

Ich folgte meiner Begleiterin, die zielstrebig die Treppen bis ins Dachgeschoss hinaufstieg. Erst auf dem letzten Stück, das durch ein Metallgerüst zur Kasse führte, holte ich sie ein, und wir stellen uns ans Ende der Schlange.

Wir befanden uns nun auf dem Dach des Nebengebäudes, nur geschützt durch ein Gitter. Der Wind strich angenehm kühl durch die Eisenstreben und trug einen Hauch von Meeresluft mit sich. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich ganz auf meine Sinne. Ambers Körper strahlte Wärme ab wie ein kleines Kraftwerk. Der Duft ihrer Haut und dessen, was darunterlag, war verführerisch. Mein Körper reagierte mit erhöhtem Puls und einem flauen, fast schmerzhaften Gefühl in der Magengegend.

„Kennst du den Laden?“, fragte Amber plötzlich.

Ich öffnete die Augen und sah sie an.

Ich spürte, dass meine Pupillen jetzt wieder von einem brennenden Bernsteingelb waren, doch die Farbe würde rasch verblassen und dunkler werden, sobald ich den Hunger wieder in seine Schranken verwiesen hatte.

Wieder Ambers entsetzter, unschuldiger Blick. Wie ich das genoss. Zur Ablenkung zupfte ich ihr das Haargummi aus dem Zopf. „Ja, ich kenne den Klub. Ich war hier schon öfter … essen.“

Ich konnte es nicht lassen, mit zwei Fingern über ihren Hals zu fahren. Die Ader klopfte verheißungsvoll unter meiner Berührung.

Amber legte eine Hand auf das Messer, und ich zuckte wie von der Tarantel gestochen zurück. Kaum hatte sie es berührt und an seine Wirkung gedacht, griff es kalt nach meinem Herzen.

Aber als Amber mein schmerzverzerrtes Gesicht sah, zog sie die Hand sofort wieder weg. „Verdammt, warum hast du das gemacht?“, fluchte ich.

„Du weißt, warum. Eine Warnung. Ich bin keine Salatbar, an der du dich einfach bedienen kannst, merk dir das.“

Einige Gäste musterten uns irritiert. Ich riss mich zusammen und stellte mich wieder neben Amber, die sich zu mir lehnte und jetzt leiser sprach.

„Ich hab nicht geahnt, dass es so wehtut. Aber du solltest ein bisschen vorsichtiger sein mit dem, was du sagst und tust.“

Ich atmete tief durch und versuchte, das Messer zu vergessen. Es gelang mir nicht. Überraschenderweise waren Ambers und meine Kräfte ausgeglichen. Ich hätte sie mit einem Schlag töten können – aber sie auch mich.

Endlich waren wir an der Reihe und ich zahlte.

An der Bar bestellte ich einen Rotwein für Amber, dann schlenderten wir gemeinsam durch den kleinen Klub. Über der Tanzfläche hingen riesige alte Kristallleuchter zwischen einem Geflecht feiner Wurzeln, die blau beleuchtet waren.

So früh am Abend saßen die meisten Gäste noch in einer der halbrunden Ledersitzecken, die sich an den Außenwänden entlangzogen.

Wir beendeten unsere kleine Erkundungstour und blieben in der Nähe der Tanzfläche stehen, mit der Bar im Rücken. Von hier aus hatte ich einen guten Blick auf die ankommenden Gäste. Frauen in weiten Röcken, geschminkte Männer mit toupierten Strähnen, andere ganz in Lack oder behängt mit Ketten. Ich sah den Menschen nach, verfolgte einzelne eine Weile mit den Augen und erwählte keinen.

„Komm tanzen“, sagte ich, ergriff Ambers Hand und zog sie, ohne eine Antwort abzuwarten, hinter mir her. Sie folgte mir widerwillig, doch schon bald wurden ihre Bewegungen flüssiger und ihre Anspannung verschwand. Es war ein Genuss, ihr zuzusehen. Amber schloss die Augen und überließ sich den langsamen Rhythmen und dem getragenen Gesang.

Es wurde jetzt wirklich Zeit für mich. Ich sah mich um, mit allen Sinnen. Der Durst lenkte meinen Blick.

Nicht weit entfernt tanzte eine junge Frau und flirtete mit mir. Sie hatte für meinen Geschmack etwas zu viel Schminke aufgetragen, war aber dennoch hübsch anzusehen. Ihren Bewegungen nach zu urteilen, floss eine nicht unerhebliche Menge Alkohol in ihren Adern.

Die Frau strich sich durch das lange, schwarz gefärbte Haar und tanzte aufreizend auf mich zu. Sie war es.

Ich ließ Amber zwischen den anderen Tanzenden zurück und bahnte mir meinen Weg zum Rand. Wie von einem unsichtbaren Band gezogen, folgte mir meine Beute nach. Ich musste mich nicht umsehen, ich konnte es spüren. Mittlerweile war der Klub gut gefüllt.

Ich steuerte einen dunklen Winkel an. Ein Stehtisch und eine Säule würden uns vor dem Discolicht abschirmen.

Selbst wenn jemand sah, wie ich zubiss, was höchst unwahrscheinlich war, würde er uns für Freaks halten und nicht weiter beachten.

Angezogen wie eine Motte vom Licht, taumelte die junge Frau auf mich zu.

„Hi“, sagte sie und starrte gebannt in meine Augen.

„Hi“, sagte auch ich. Wie ein heißer Regen wusch meine Energie alle Barrieren aus ihrem Körper.

„Wie heißt du?“, fragte ich.

„Julia“, flüsterte sie.

„Ein schöner Name.“

Während wir Belanglosigkeiten austauschten, grub ich mich durch ihre Gedanken und überlegte, womit ich die recht auffällige Verletzung erklären konnte, die sie bald haben würde. Ich konnte ihre Wunde mit meinem eigenen Blut verschließen, doch das tat ich nur ungern. Vampirblut war etwas Besonderes, ein Geschenk, das man nicht leichtfertig an Wildfremde vergab.

Ich nahm Julia in den Arm und strich ihr durchs Haar, während ich Amber beobachtete. Meine Beute schmiegte sich an mich, legte ihren Kopf in den Nacken und wartete vergeblich. Ich wollte sie nicht küssen.

Als ihr Geist vollends mir gehörte, schob ich sie bis zur Wand in den dunkelsten Winkel und führte ihre Hand zu meinem Mund.

Statt zuzubeißen, riss ich die Haut mit einem Eckzahn auf. Das Blut floss langsam, und das Trinken bereitete mir Mühe. Bei einem zweiten Versuch gab der Daumenballen mehr her, und mein Magen füllte sich.

Julia bekam von alldem nichts mit.

Ihr Körper lehnte schwer gegen meinen, und ich hielt sie mühelos mit einem Arm. Sie war wach und starrte wie hypnotisiert in die tanzenden Lichtpunkte der Discokugel. Mit den Fingern ihrer Linken berührte sie hin und wieder meinen Nacken oder wühlte in meinem Haar. Sie war gefangen in einer weißen Leere, in der ihr weder Schmerz noch Angst etwas anhaben konnten.

Ihr Blut schmeckte schmutzig und ein wenig fad, dennoch empfand ich unendliche Erleichterung und Glück, als es durch meine Kehle rann.

Mein Körper wuchs an dem fremden Leben, der gestohlenen Energie. Bis in die Fingerspitzen rauschte mir das wunderbare goldene Gefühl, während Julias Herz ruhig gegen meinen Brustkorb schlug.

Zwischen zwei Zügen seufzte ich auf und entspannte mich ein wenig, was sich gleich darauf als Fehler erwies.

Amber! Sie beobachtete mich, und das Messer tat es auch, das spürte ich ganz deutlich. Plötzlich fühlte sich das Blut in meiner Kehle an, als versuchte ich, Steine zu schlucken. Doch ich hatte noch nicht genug, um meinen angeschlagenen Körper zu heilen.

Ich hielt den Mund noch immer auf Julias Hand gepresst und drehte mich langsam um.

Da war sie! Amber stand keine zwei Schritt entfernt an der Säule, und ihre grünen Augen sprühten Funken. So früh hätte sie mich nicht bei der Jagd sehen sollen, dafür kannten wir uns nicht gut genug.

Julia regte sich in meinem Arm und wimmerte leise. Das Geräusch holte mich schlagartig zurück. Ich musste mich jetzt auf meine unfreiwillige Wohltäterin konzentrieren, durfte die Gewalt über ihren Geist nicht verlieren, sonst gab es eine Katastrophe. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie sie plötzlich aufwachte und den Klub zusammenschrie. Ich webte meine Magie wieder ein wenig dichter, doch dann zwang ein nagender Schmerz meinen Fokus erneut auf Amber.

Das Messer streckte durch seine neue Trägerin die Fühler nach mir aus. Immer wieder bohrte es sich in meine Gedanken, seine Nähe schwächte meine Fähigkeiten. Eile war geboten. Mit angestrengtem Saugen erleichterte ich mein Opfer um einige weitere Quäntchen Blut und war endlich gesättigt.

Amber beobachtete mich. Der Einfluss des Messers wuchs mit jeder Sekunde. Es streckte seine gierigen Feuerfinger nach mir aus, meine Haut fühlte sich an, als würde sie kochen.

Ich fauchte, wollte angreifen, doch dann besann ich mich und nahm all meine Kraft zusammen, um die Sache trotz des Schmerzes zu Ende zu bringen.

Julias Hand blutete kaum noch. Ich kroch in ihren Verstand und weckte sie. Jetzt musste alles ganz schnell gehen. Ich gab ihr einen sanften Stoß, und sie machte mehrere unsichere Schritte. Als sie schließlich gegen einen Tisch taumelte, hatte sie mich bereits vergessen. Noch war sie wackelig auf den Beinen, und es geschah genau das, worauf ich gehofft hatte: Sie stützte sich ab und einige Gläser kippten um und gingen klirrend zu Bruch.

Ein Kellner sah das Unglück und eilte hinzu.

„Oh Gott, ich habe mich geschnitten!“, war das Erste, was Julia über die Lippen brachte.

Wieder mal eine perfekte Inszenierung, und auch die Kraft des Messers ließ endlich nach.

Während ein Kellner der ahnungslosen Julia ein Taschentuch für ihre Hand reichte, ging ich zu Amber. Ungläubig beobachtete sie, wie sich mein Opfer etwas geschwächt, aber wohlauf zu ihren Freundinnen gesellte.

Amber schüttelte den Kopf und ging davon. Ihre Schritte waren energisch, die Haltung steif. Kein Zweifel, was sie beobachtet hatte, machte sie wütend.

„Amber, warte! Bitte bleib stehen!“

Ich holte sie ein und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie fuhr herum und starrte mich an. Ihre Augen funkelten gefährlich.

„Das ist es, was ich bin, Amber! Ich kann es nicht ändern!“

„Und das machst du jede Nacht?“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, denn genauso war es. „Ich kann nicht anders existieren, es gibt keine Alternative.“

Sie presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Und ich habe dich geküsst.“

Aus ihrem Blick sprach Ekel. Es war verletzend. Aber warum traf mich das so sehr? Ich würde doch nicht … Sicher war es das Siegel, das mich manipulierte. Es wäre töricht gewesen, mehr Gefühl zu investieren, als unserer Sache förderlich war. Das Messer hatte Priorität, und erst dann kam, mit einem gehörigen Stück Abstand, die Dienerin.

„Du hast Blut an der Unterlippe.“

„Entschuldige.“ Ich wischte mir hastig über den Mund.

„Ich brauche jetzt was zu trinken“, sagte Amber schließlich.

Ich folgte ihr zur Bar, wo sie einen weiteren Rotwein bestellte. Zu ihrer Überraschung orderte ich ebenfalls ein Glas. Wir stießen an, ohne einander in die Augen zu sehen. Amber trank einen Schluck. Ich ließ den schweren Syrah durch meinen Mund fließen, spülte damit den Blutgeschmack fort und spuckte den Wein unauffällig wieder zurück ins Glas.

Amber beobachtete mich schweigend. Ihr Körper sandte ein verwirrendes Durcheinander von Gefühlen aus, da waren Wut, Angst und Unsicherheit, aber auch ein Funken Begierde.

Wir schlenderten zurück zur Tanzfläche.

Dann spürte ich plötzlich die Gegenwart eines anderen Vampirs. Ich wusste sofort, wer es war. Der schwule Steven. Es war nicht nett, ihn so zu nennen, doch der Name war irgendwie hängen geblieben. Hin und wieder jagte auch er hier. Er war viel jünger als ich, aber genauso vorsichtig, daher ließ ich ihn gewähren. Ich hätte den Klub auch für mich beanspruchen können, doch das war meiner Meinung nach altmodischer Unsinn.

Amber sah mich fragend an. Das Messer hatte sie gewarnt.

„Er gehört zu meinem Clan. Er wird dir nichts tun“, flüsterte ich ihr ins Ohr.

„Wo ist er?“

„Ich glaube, er jagt auf der Terrasse, ich weiß es aber nicht genau.“

Ambers Herz schlug heftig vor Furcht, und das, so wusste ich mittlerweile, konnte gefährlich werden. Ich stand hinter ihr und legte ihr die Arme um die Taille. Sie ließ es zu.

„Hab keine Angst. Er fürchtet dich mehr als du ihn.“

Sie kämpfte gegen die Macht des Messers an, bis es aufgab und verstummte. Ich beugte mich vor und lehnte meinen Kopf gegen ihren. Ihr Haar war weich und roch gut. Ich drückte die Wange daran.

Julias Blut hatte mir Kraft gegeben und meine Haut warm und lebendig gemacht. Ich war satt, dennoch strichen meine Lippen über Ambers seidige Wange und glitten hinab zu ihrem Hals.

Amber erzitterte unter meinen Lippen.

Nein, ich würde sie nicht beißen. Vielleicht hatte ich mein Spiel vor der Kasse ein Stückchen zu weit getrieben, aber diesmal ließ ich es nicht aus dem Ruder laufen.

Ich barg ihre Wange in meiner Hand, beugte mich vor und unsere Münder fanden sich. Ich genoss den weichen Duft ihrer Haut. Der Wein färbte ihren Atem süß. Ambers Zunge huschte über meine leicht geöffneten Lippen und begehrte zögernd Einlass. Neugierig ertastete sie meine Eckzähne.

„Vorsicht, die sind scharf“, murmelte ich, dann presste ich meine Lippen auf ihre.

Ich zog sie in meine Arme. Die letzte Anspannung wich aus ihren Schultern. Wir küssten uns lange. Ich kostete diesen Triumph aus, es war ein kleiner Sieg nicht nur über das Messer, sondern auch über Ambers Angst.

Abgesehen davon küsste sie wirklich gut. Ich hielt sie gerne im Arm, so lebendig und zerbrechlich wie sie war. Ihr Herz klopfte laut und schnell, und meines passte sich an. Es war überraschend aufregend. Eine Sterbliche, die nicht unter meinem Einfluss stand, hatte ich seit meinem Tod nicht mehr geküsst. Es war mir fad vorgekommen. Warum sollte ich mich ihnen zuwenden, wenn es doch meinesgleichen gab?

Ich horchte in mich hinein, während ich sie fester an mich zog und ihr Atem beinahe heiß über mein Gesicht strömte. Amber sollte das von mir bekommen, was ich vor so langer Zeit einmal gewesen war. Den menschlichen Funken, den ich mir bewahrt hatte, nicht das Monstrum.

Ich schwelgte in den exotischen Gefühlen, die Amber in mir auslöste, bis ich das elektrisierende Prickeln in meinem Nacken nicht mehr missachten konnte.

Stevens Präsenz steigerte sich, je näher er kam.

Unwillig löste ich mich aus der Umarmung und wandte mich um.

Da stand er, keine drei Schritte entfernt. Jungenhaft schlank, blond und stupsnasig.

Hätte sein sterbliches Alter noch gezählt, hätte er diesen Klub nicht einmal betreten dürfen, doch wie wir alle besaß auch Steven einen gefälschten Führerschein.

Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie es gewesen war, als Curtis Steven zum ersten Mal sah.

Es war in einer lauen Frühjahrsnacht gewesen, wie es sie in L.A. nur selten gibt. Curtis und ich waren gerade zur Jagd aufgebrochen, als wir Steven und einen anderen jungen Mann aus einem Haus kommen sahen. Curtis blieb wie vom Donner gerührt stehen. Der Sterbliche sah dem Sohn meines Meisters, den er vor vielen hundert Jahren bei einer Pestepidemie in Europa verloren hatte, zum Verwechseln ähnlich. Curtis hatte den Verlust nie überwunden. Ich betörte den anderen jungen Mann, während Steven unter den Bann des Meisters fiel. Curtis verbrachte Stunden damit, ihn einfach nur anzusehen.

Er wollte Steven verwandeln, ihn für die Ewigkeit bewahren. Curtis machte es zu meiner Aufgabe, das Vertrauen des jungen Mannes zu gewinnen. Steven war schnell bereit, sein kaum gelebtes Leben aufzugeben und sich in das Abenteuer zu stürzen, das er vor sich zu haben glaubte.

Aber ich weigerte mich, Steven zu verwandeln. Zu sehr haderte ich dafür mit meinem eigenen Schicksal. Schon viele Jahre zuvor hatte ich mir geschworen, niemals einen Vampir zu erschaffen und damit einem anderen Wesen das Leid zuzumuten, das ich oft empfand.

Curtis selbst war zu mächtig, um es noch selbst zu tun. Das Blut der alten Vampire trieb sie in den Wahnsinn oder gab ihnen zu früh zu viel Kraft. Also bestimmte er den Vampir Manolo zum Schöpfer.

Ich sah zu, wie Steven starb und wiedergeboren wurde, und stand als Zeuge zu seiner Seite, während er Curtis die Treue schwor und sich unter dessen Stärke beugte.

Leider enttäuschte Steven die hohen Erwartungen, die Curtis an ihn stellte. Der neugeborene Vampir sah vielleicht aus wie sein Sohn, aber er war es nicht, würde es niemals sein.

Curtis hatte es nie laut gesagt, aber ich wusste, dass er Steven seine sexuellen Neigungen zum Vorwurf machte.

Ich schüttelte die Erinnerungen ab und blickte auf. Steven legte fragend seinen hübschen Kopf schief.

Ohne ein Wort zu verlieren, lud ich ihn ein, näher zu kommen. Ich spürte, dass auch er gesättigt war. Er verzog seinen sinnlichen Mund zu einem nervösen Lächeln.

Amber hatte ihn ebenfalls entdeckt. Sie drehte sich in meinen Armen und drückte auf der Suche nach Geborgenheit den Rücken an meine Brust.

Steven spürte die Gewalt des Messers sofort. Sein unsteter Blick und der Geruch der Angst verrieten ihn.

Komm ruhig näher“, forderte ich ihn telepathisch auf.

Der Vampir schlich zu uns wie ein ängstlicher Welpe und reichte Amber die Hand. „Steven“, stellte er sich vor. Seine Stimme war leise und weich.

„Amber.“

„Hallo, Julius.“

Ich lächelte und schwieg. Stevens Nasenflügel blähten sich unmerklich. Er roch mein Blut in ihren Adern, das unsichtbare Siegel.

Sie gehört dir?“, fragte er tonlos.

„Wie du siehst.“ Stolz strich ich durch Ambers Haar. Besitzergreifend verharrte meine Rechte in einer uralten Geste über dem Puls an ihrem Hals.

„Wer hat das Messer, du oder sie?“

„Sie.“

Amber spürte, dass da etwas vor sich ging, von dem sie ausgeschlossen wurde. Sie sah erst Steven an, dann mich.

„Ich habe gehört, dass Gordon zwei der Seinen verloren hat“, sagte der junge Vampir, diesmal laut.

„Sie haben uns angegriffen“, erwiderte Amber entschlossen.

„Gut so, zwei weniger.“ Stevens Worte waren von einer Grimmigkeit, die man seiner sanften Miene nicht zugetraut hätte. Dann wechselte er wieder zur Telepathie. „Vater will dich sprechen, noch heute, und du sollst die Frau mitbringen.“

Ich nickte, das war zu erwarten gewesen. Steven war der Einzige, der unser Oberhaupt „Vater“ nannte, und das, obwohl er im Gegensatz zu mir nicht einmal aus dessen Blut stammte.

„Unser Meister Curtis Leonhardt will dich kennenlernen“, sagte ich zu Amber.

„Ist das gut oder schlecht?“, fragte sie, und das Messer reagierte sofort auf ihre Verunsicherung. Ein kalter, aber erträglicher Schmerz durchfuhr meinen Körper. Der mächtige Energieschub ließ Steven zurückweichen und die Zähne blecken.

„Wie du siehst, behagt ihr die Vorstellung nicht“, bemerkte ich mit einem angespannten Lachen.

„Keine Angst. Niemand wird dir etwas tun. Ich verspreche es“, versuchte ich Amber zu beruhigen, drückte ihr einen Kuss ins Haar und flüsterte: „Du tust meinem jungen Freund weh.“

„Du musst ihr das Messer wegnehmen!“, schrie Steven lautlos. „Sie wird uns alle töten!“

Er fasste meine Angst in Worte. „Versuch es, wenn du es wagst“, antwortete ich.

Steven schüttelte den Kopf. Er würde mit Sicherheit nicht derjenige sein, der mit Amber um das Messer rang, dafür war er zu schwach.

„Was ist?“, fragte Amber.

„Nichts.“

Ich dachte an die Begegnung, die uns bevorstand, und konnte mir nicht vorstellen, wie das gut gehen sollte.

Steven verabschiedete sich kühl und distanziert, um zum Meister zurückzukehren.

Ich gab Amber noch etwas Zeit, um sich für die bevorstehende Begegnung mit meinem Meister zu wappnen, doch als sie ihr Weinglas geleert hatte, ließ sich unser Aufbruch nicht mehr länger hinauszögern. Curtis duldete keine Säumnis. Ich nahm sie bei der Hand und zog sie Richtung Ausgang.

„Julius, warte.“ Ambers Hand glitt aus meiner. Sie war stehen geblieben. Ich drehte mich zu ihr um und fühlte das Messer eine pulsierende Energie ausstrahlen. „Ich möchte nicht mit.“

„Was?“

„Ich habe gerade darüber nachgedacht, Julius, und ich will das Messer nicht. Du kannst es haben. Bring es deinem Boss, und dann treffen wir uns später wieder.“

Ich schüttelte den Kopf. „Das geht nicht.“

Curtis’ Befehl war eindeutig, er wollte Messer und Adeptin, die Waffe allein nutzte uns nur wenig. Für Amber würde dieses Argument allerdings nicht zählen.

Ich brauchte etwas, das sie überzeugte. Sollte ich sie mit Geschichten über ihren toten Bruder locken? Nein, das wäre unfair gewesen und hätte die gerade zwischen uns entstandene Nähe zerstört. Notfalls blieb mir immer noch meine Magie. Ich konnte sie betören oder in eine Art Schlaf versetzen, aber auch das kam mir falsch vor.

Ich legte ihr die Hände auf die Schultern. „Komm mit mir, Amber, bitte. Dir wird nichts geschehen. Ich schwöre, das würde ich niemals zulassen!“ Die Lüge kam mir überraschend leicht von den Lippen. Oder war es gar keine? Prompt glühte das verdammte Siegel über meinem Herzen auf, als wolle es mich an meinen Teil des Schwurs erinnern. Am liebsten hätte ich geschrien, so wirr erschien mir das Netz aus Regeln, in dem ich mich mit jeder Bewegung tiefer verstrickte.

„Warum das alles, Julius? Du kennst mich doch kaum.“

„Weil es sein muss. Du hast das Messer geerbt, du kannst es jetzt nicht einfach so wegwerfen. Und wenn du es unbedingt loswerden willst, dann ist es nur bei Curtis in sicheren Händen. Aber ich kann es ihm nicht überreichen, du hast ja gesehen, was es mit mir macht. Du wirst es ihm selbst geben müssen, und da ist es nur anständig, dir sicheres Geleit zu versprechen.“ Dieses Mal meinte ich es sogar so.

Amber sah mich forschend an. Sie war hin- und hergerissen.

„Bitte, tu es für mich. Ich habe Wochen nach dem Messer gesucht.“

„Die Sache gefällt mir nicht. Ich habe doch genau gemerkt, dass dieser Steven meinen Besuch für keine gute Idee hält, und du bist auch anders, seit du weißt, dass ich deinem Meister begegnen soll.“ Sie spuckte das Wort förmlich aus.

„Warum sollte ich dir vertrauen, nach allem, was mein Bruder eurer Art angetan hat?“

Eine Chance hatte ich noch.

„Deshalb.“ Ich küsste sie. Ganz vorsichtig öffnete ich das Siegel und ließ sie teilhaben an dem, was ich in ihrer Nähe empfand. Amber wurde ganz still in meinen Armen. Sie neigte den Kopf nach hinten, um mich anzusehen. Ihre grünen Augen glänzten ungläubig und glücklich. Ja, das Siegel wirkte auch in ihr.

Der Wilshire Boulevard war auch zu dieser späten Stunde voller Fahrzeuge.

„Steven ist noch ein halbes Kind“, sagte Amber plötzlich.

„Er war fast neunzehn, als er sich für unsere Daseinsform entschieden hat, und jetzt ist er noch keine dreißig. Ja, er ist sehr jung.“

„Er hat sich freiwillig dafür entschieden?“, fragte Amber verwundert.

„Ja. Curtis hält nichts davon, Menschen einfach so zu verwandeln“, sagte ich und dachte daran, wie oft ich mir gewünscht hatte, ich hätte niemals Ja zu einem Dasein als Vampir gesagt.

Amber sah mich ernst an und verstärkte ihren Griff an meinem Arm. „Dann würdest du mich niemals verwandeln, wenn ich es nicht will?“

„Nein“, antwortete ich im Brustton der Überzeugung und legte meine Hand auf ihre. Ich war mir sicher, dass ich niemals jemanden zu einem Leben in ewiger Finsternis verdammen würde.

Aber die Medaille hatte, wie immer, zwei Seiten.

Was, wenn Amber sterbend in meinen Armen läge und mich darum bat? Würde ich mein Versprechen dann noch halten können?

Und war es nicht auch tabu, Menschen gegen ihren Willen zu Dienern zu machen?

Hatte ich nicht genau das getan? Ambers Leben mit Blut und Magie an meines gekettet, so eng, dass ich nicht einmal sagen konnte, ob unsere Gefühle aus dem Siegel resultierten oder ob da vielleicht mehr war?

Zumindest daran konnte ich Curtis die volle Schuld geben.

Er hatte mir befohlen, Amber mit dem Blutgeschenk zu zeichnen.

Amber und ich traten vom Gehweg durch die Parkplatzeinfahrt, die sich wie ein Tor in eine andere Welt vor uns öffnete. Bäume reckten ihre Äste über die schlafenden Karossen, und unter unseren Schritten knirschte Kies. Auf einmal blieb Amber stehen.

„Wie alt bist du wirklich, Julius?“

Ich sah sie an. Diese Frage hatte ich erst viel später erwartet.

Ich war ein Kind der Romantik. Das erste Mal war ich 1789 geboren worden, das zweite Mal fast auf den Tag genau dreißig Jahre später. Ich war schon verdammt lange auf dieser Erde. Wie ich all die Zeit überstanden hatte, wusste ich selbst nicht genau. Manchmal war sie wie im Flug vergangen, an manche Abschnitte meines Daseins wollte oder konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. Und dann waren da noch die dunklen Jahre. Zeiten, in denen ich mir den Tod gewünscht, aber nicht gewagt hatte, es wirklich zu tun.

Der Freitod eines Vampirs bedeutet Feuer oder brennende Sonne. Es gibt kein Einschlafen für uns, keinen schönen Tod. Nur Schmerzen.

Ich war ein Feigling gewesen, hatte es nicht gewagt.

Ich trat einen Schritt aus dem Lichtkegel der Laterne, hinein in die Dunkelheit.

Amber starrte mich ungläubig an, die großen grünen Augen weit aufgerissen.

„Das sind über zweihundert Jahre!“

„Mehr als drei Menschenalter, ja.“

„Aber …?“

Ich konnte den Ruf meines Schöpfers mittlerweile deutlich spüren und fasste Amber bei den Händen. „Komm jetzt, bitte. Curtis wartet nicht gerne.“

Amber folgte mir zögernd zum Wagen. Sie war aufgewühlt. Immer wieder sah sie mich von der Seite an und suchte nach irgendetwas, das mein Alter verriet.

„Bitte gib mir die Schlüssel, ich fahre“, sagte ich und hielt meine Hand auf. „Und wir müssen dir die Augen verbinden.“

„Bitte was?“ Sie war entrüstet.

„Du darfst den Weg zu ihrem Schlafplatz nicht sehen. Sie haben Angst, dass du tagsüber wiederkommst, um sie zu töten. Du musst verstehen, wie gefährlich du für uns bist.“

„Julius, ich …“

„Stell dir vor, du wärst die Hälfte deines Lebens ohnmächtig, völlig schutzlos. Jeder könnte in dein Haus schleichen, neben dir stehen, dich anstarren, dich sogar berühren, ohne dass du dich wehren kannst. Du bist wie erstarrt, gefangen in deinem Körper, umgeben von einem Kokon aus Stein. Und dann gibt es da dieses Ding, das dir nach dem Leben trachtet, und eine Frau, die es besitzt. Aber sie hat weder ihre Loyalität bewiesen, noch weiß sie, ob sie stark genug ist, das Ding zu beherrschen.“

Amber setzte mehrfach an, etwas zu sagen. Schließlich stieß sie einen Seufzer aus. „Ich muss total verrückt geworden sein!“

„Vertrau mir, bitte.“

Leise klimpernd fielen die Schlüssel in meine Hand.

„Los, mach, bevor ich es mir anders überlege.“

Ich verband ihre Augen mit dem abgetrennten Ärmel eines Shirts, das wir aus dem Chaos des Kofferraumes gefischt hatten. Es war eines von Frederiks alten Kleidungsstücken, die Amber zur Heilsarmee geben wollte.

„Ich sehe bestimmt total bescheuert aus“, sagte sie, nachdem sie unsicher auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.

Wir folgten dem Wilshire Boulevard nach Westen, und bereits nach einer halben Meile merkte ich, dass es mir überraschend große Freude bereitete, die alte Rostlaube durch die Straßen zu jagen. Ich kurbelte die Fenster hinunter und ließ mir vom Wind das Haar zerzausen.

Der Atem der Nacht war warm und salzig.

„Mutter und ich waren heute in Frederiks Wohnung“, begann Amber plötzlich. Trauer färbte ihre Stimme dunkel. „Es war schrecklich. Als hätte ich meinen Bruder nie richtig gekannt. Erst jetzt hab ich herausgefunden, wofür er sich interessierte, was er in seiner Freizeit getan hat.“

Er hat Vampire getötet, schrie meine innere Stimme.

„Er hat Computerspiele designt, richtig?“, war das, was ich tatsächlich sagte.

„Ja, das war sein Job. Seine Entwürfe sind wunderschön.“

Ich bog auf den Highway ein und trat das Gaspedal bis zum Boden durch. Amber schrie gegen den Lärm an. „Ich habe eine Armbrust in seinem Schrank gefunden.“

Ich sah kurz zu ihr hinüber.

„Dein Bruder war ein Jäger, Amber, er hat Leute wie mich getötet, und zwar nicht nur mit dem Messer. Er hat uns gehasst. Wenn er einen von uns aufgespürt hatte, verfolgte er ihn bis zu seinem Ruheplatz und erstach ihn im Schlaf.“

Zu gerne hätte ich jetzt ihren Blick gesehen.

„Es hat vor allem Jungvampire und Einzelgänger getroffen.“

„Bringst du mich deshalb dorthin? Wollt ihr Rache?“ Der Wind zerfetzte ihre Worte. Ich musste die Fenster schließen.

„Nein. Niemand will sich an dir rächen. Außerdem stehst du unter meinem Schutz.“

Ich setzte den Blinker. Sie schwieg, während ich den Highway verließ und den Wagen weiter durch Santa Monica steuerte.

„Was habt ihr für eine Feindschaft mit diesem Gordon?“

„Das ist eine alte Geschichte.“

„Ich würde sie gerne hören.“

„Amber, ich …“

Die Erinnerungen kamen mit einem Schlag.

„Es war in Frankreich, im Jahr 1882. Curtis, meine Blutsschwester Kathryn, drei weitere Unsterbliche und ich hatten endlich ein Heim gefunden. Seit meiner Verwandlung waren wir ruhelos durch Europa gestreift. An keinem Ort, der noch von Vampiren unbesetzt war, konnten wir lange bleiben. Nur die großen Städte, in denen die Fabriken wie Geschwüre wuchsen, boten genug Leben, um uns auf Dauer zu ernähren.

Curtis erkaufte sich unseren Platz an dieser gut gedeckten Tafel, indem er seinen Kopf erneut vor einem mächtigen Meister beugte, etwas, das er sich nie wieder zu tun geschworen hatte.

Wir nahmen Wohnung auf einem kleinen Friedhof in Paris. Schon nach kurzer Zeit wurde uns klar, warum die Clans der Metropole so erpicht darauf waren, ihre Reihen mit neuen Vampiren zu füllen. Es drohte Krieg. Noch wagte niemand, laut darüber zu sprechen, aber Unsterbliche verschwanden und Meister wurden vergiftet.

Dahinter steckte Gordon. Schon damals, als er noch ein junger Clanherr war, kannte er kein Halten. Er raubte Vampire, tötete andere auf feige Art und eignete sich auf diese Weise immer mehr Land an. Es dauerte Jahre, bis der Rat von Paris beschloss, gegen ihn vorzugehen, und selbst da schlossen sich nicht alle Clans dem Vorhaben an.

Wir zählten zu jenen, die den Kampf wagten. Gordon wurde vernichtend geschlagen, wir töteten Vampire und Diener ohne Unterschied. Es war ein Gemetzel. Die Hälfte unseres Clans fiel. Kathryn, der Meister und ich waren die Einzigen, die noch von den Leonhardt übrig waren, als Gordon endlich französischen Boden verließ. Dezimiert auf drei, waren wir nicht mehr stark genug, um nach Paris zurückzukehren. Damals wurden kleine Clans oft angegriffen und zerstört. Es war eine einfache Art, ältere Vampire zu erbeuten und mit ihnen die eigene Macht zu verstärken. Damit wir dieses Schicksal nicht teilten, zogen wir weiter nach Nordwesten.

In Belgien nahmen wir ein Schiff in die Neue Welt.

Was für ein Schrecken war es, nach Jahren des Umherziehens ausgerechnet an der Westküste auf Gordon zu treffen! Aber er schien aus der Vergangenheit gelernt zu haben und verhielt sich wie ein Ehrenmann. Jedenfalls, bis seine Gier vor wenigen Jahren wieder die Führung übernahm. Seitdem scheint er an einer neuen Armee zu arbeiten. Niemand weiß genau, wie viele Vampire er in seinem Clan hat, aber es sind viele, schrecklich viele, und es werden ständig mehr. Von den Jungen scheint sich keiner mehr an die Codizes zu halten, die wir uns selbst auferlegt haben. Sie achten weder das Leben der Menschen, von denen sie trinken, noch das oberste Gebot: Heimlichkeit! Niemand darf von unserer Existenz erfahren. Der Fürst – das ist der Herrscher über alle Clans in dieser Stadt – hat mittlerweile sogar mehrere Vampire damit beauftragt, nach getöteten Opfern Ausschau zu halten und diese notfalls verschwinden zu lassen, bevor die Polizei sie findet. Das Messer könnte Gordon wieder in die Schranken weisen.“

Amber schwieg, dann seufzte sie. „Gut, dass er es nicht bekommen hat.“

Ich kurbelte das Beifahrerfenster wieder herunter. Kühle Nachtluft wehte herein. Ich hätte endlos so weiterfahren können.

Bald verließen wir den Pacific Boulevard und tauchten ein in alte, enge Seitenstraßen. Die Häuser leuchteten in bunten Farben und spiegelten die Seelen ihrer Bewohner, die in den wilden Sechzigern hergekommen waren. Verlassene Schaukelstühle auf den Terrassen. Windspiele, mal dunkel und hölzern, mal glockenhell, sangen der Nacht ihr Lied.

Da vorne stand sie, unsere Zuflucht. Das Lafayette war ein altes Kino, das zufällig über einem längst vergessenen Indianerfriedhof erbaut worden war.

Ich hielt direkt vor dem Eingang und ließ den Motor laufen.

Altmodische dicke Glühbirnen erleuchteten einen morschen Baldachin.

Die Schaufenster waren blind und teils mit Brettern vernagelt. Alles an dem Gebäude wirkte abweisend und tot. Dennoch überkam mich bei seinem Anblick ein wohliges Gefühl von Heimat und Geborgenheit.

Curtis hatte das Gebäude vor fast sechzig Jahren gekauft. Seitdem war es kein Kino mehr, sondern ein Wohnhaus. Allerdings beherbergte es außer den sechs menschlichen Bewohnern auch zwölf Vampire, deren unterirdische Kammern sich über mehrere Ebenen erstreckten. Das Gebäude war nur die Spitze des Eisbergs.

„Wir sind da“, sagte ich feierlich und half Amber auszusteigen.

Steven stand in der Tür und erwartete uns. An seinem Hals prangte eine frische Bisswunde. Curtis hatte es also vorgezogen, von Steven zu trinken, anstatt selbst auf die Jagd zu gehen. Der arme Junge.

Niemals hätte er sich Curtis’ Wunsch entziehen können, nicht einmal ich wagte das.

Ich legte Amber einen Arm um die Schulter und spürte ihren aufgeregten Herzschlag. Sie kämpfte tapfer gegen ihre Angst und die Macht des Messers, das auf ihre starken Gefühle reagierte und mit wütender Stimme erwachte.

Im Entrée wurden wir bereits erwartet.

Kathryn schritt wie eine Diva die Stufen zu uns hinauf, die zu den unterirdischen Schlafgemächern führten. Ihr paillettenbesticktes Kleid schleifte über den alten roten Teppich. Sie war eine klassische Schönheit, das Gesicht ebenmäßig wie Porzellan, die grauen Augen tief und leuchtend. Ihr lockiges schwarzes Haar trug sie heute kunstvoll hochgesteckt. Kathryn gesellte sich zu ihrer Freundin Dava, dem ersten Geschöpf aus ihrer eigenen Blutlinie.

Ich konnte Kathryn nicht leiden. Sie war nur zwei Jahre jünger als ich und stammte ebenfalls direkt von Curtis ab. Fast mein ganzes unsterbliches Leben hatte ich mit ihr und ihrer Eifersucht verbringen müssen. Sie neidete mir Curtis’ Gunst, der mich höher schätzte und zu seinem Stellvertreter gemacht hatte, obwohl ich selber noch nicht Meister war.

Kathryn war bereits vor einigen Jahren in diesen Stand erhoben worden, doch das wog nichts. Wie jeder im Clan wusste auch sie, dass ich den Meisterstatus jederzeit für mich fordern konnte, aber ich wollte nicht noch tiefer in die politischen Ränke unserer Welt hineingezogen werden.

Ich schenkte Kathryn einen warnenden Blick und zog Amber dichter an mich. Wenn für meine menschliche Begleiterin überhaupt Gefahr bestand, dann ging sie von meiner ewigen Konkurrentin aus.

Ich sah mich um. Manolo war da, ein Vampir, der nicht aus Curtis’ Blutlinie stammte, ebenso der Indianer Brandon, seine menschliche Dienerin Christina und die Vampirin Eivi. Sie alle hielten Abstand und beobachteten uns. Jeder Einzelne fürchtete das Messer. Noch nie hatten unreine Sterbliche diesen Ort entweiht, geschweige denn, dass eine Vampirjägerin das Lafayette betreten hätte.

Curtis war nicht gekommen. Der Meister wartete in seinem Büro, wie er die Werkräume unter der Bühne nannte.

„Julius, kann ich die Augenbinde jetzt endlich abnehmen?“, fragte Amber unruhig.

„Einen Moment noch, ja?“, antwortete Steven für mich.

***

Amber

Ich spürte, wie Julius einen hektischen Schritt zur Seite tat und mich mit sich zog. Wann nahmen sie mir denn nun endlich diese elende Augenbinde ab?

Ich hörte, dass mindestens zwei weitere Vampire oder Menschen anwesend waren.

„Nein, das nicht!“, sagte Julius hastig. Seine Stimme hatte plötzlich einen scharfen, drohenden Unterton. Sofort war ich alarmiert. Hier lief etwas ganz und gar nicht wie geplant.

„Was ist denn, was passiert da?“

Ich drückte mich an Julius. Er hatte versprochen, dass mir nichts geschehen würde. Also sollte er mich gefälligst beschützen. Ich bekam keine Antwort. Niemand sprach. Es war so auffallend ruhig wie vorhin im Klub, als Julius und Steven Telepathie benutzt hatten. Das Schweigen stellte mir die Nackenhaare auf.

„Na los, Julius“, sagte Steven schließlich.

„Reich mir deine Hände“, flüsterte mir Julius ins Ohr. Seine Stimme war ruhig und weich. Etwas stimmte nicht. Als er nach meinen Gelenken griff, geriet ich in Panik und das Messer erwachte, doch es war zu spät.

Kalter Stahl schloss sich um meine Handgelenke. Mit einem wütenden Schrei bäumte ich mich auf …

Codex Sanguis – Gesamtausgabe

Подняться наверх