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Kapitel 2: Rekrutierungsmethoden von Buchverlagen

Drei Tage, nachdem ich die Manuskripte abgeschickt hatte, klingelte das Telefon. Glücklicherweise war ich vor Jack am Telefon. Jack besaß die nervtötende Eigenschaft, stets ans Telefon zu springen, sobald es klingelte, weil er auf ein Jobangebot lauerte, das niemals kam. Aus diesem Grunde stieß ich in unserer engen Diele fast ständig mit ihm zusammen. Am Telefon war eine Dame namens Anna Huber vom Jäger-Verlag.

„Frau Dotzki,“ begann sie in einem überaus freundlichen Ton, „wie schön, dass ich Sie gleich erreiche! Ich habe Ihr Manuskript gelesen, und ich muss sagen, ich bin hellauf begeistert. Sie haben eine Schreibe, das ist unglaublich! Ich habe mich beim Lesen fast kaputtgelacht. Wie schaffen Sie es bloß, ein so ernstes Thema wie den Sextourismus mit so viel Humor anzugehen?“

Ich fiel aus allen Wolken. Natürlich gingen mir diese Komplimente herunter wie Öl. Anna Huber verstand es wirklich, mit Autoren umzugehen, die ihr gesamtes Herzblut und ihre gesamte Energie und Zeit auf unzähligen Manuskriptseiten ließen und natürlich aus diesem Grunde auch hochkränkbar waren.

Kritik an meinem Manuskript konnte ich in der Tat schlecht vertragen. Ich hatte das erste Kapitel nach Fertigstellung stolz fotokopiert und es Tina und Marianne zum Lesen gegeben, und Marianne hatte es schlichtweg vergessen. Irgendwann fand ich die kostbaren Seiten bespritzt mit Kaffeeflecken in einer Küchenecke wieder.

„Ach Gott, ja, ich habe es total vergessen. Ich habe im Moment so viel zu tun,“ entschuldigte sie sich mit ihrem üblichen geistesabwesenden Gesichtsausdruck. „Aber morgen lese ich es bestimmt.“

Sie las es weder am nächsten Tag noch in der nächsten Woche, und ich war gekränkt. Wie oft hatte ich bei ihren Gutachten Korrektur gelesen und ihr gute Tipps gegeben! Viele Gutachten hatte ich sogar selbst geschrieben. Mariannes Verhalten konnte man beim besten Willen nicht mehr im Sinne einer gleichberechtigten Freundschaft interpretieren. Sie war mit ihren eigenen Dingen beschäftigt und lebte in ihrer eigenen Welt. Und alles, was außerhalb dieser Welt geschah, interessierte sie einfach nicht.

Nach dieser Erkenntnis distanzierte ich mich innerlich auch von Marianne. In dieser Phase lebten Tina, Marianne und ich zwar nach wie vor zusammen, aber wir lebten de facto nebeneinanderher. Unsere Erfahrungen und unsere Erlebnisse teilen wir nicht mehr wie früher miteinander. Jeder lebte sein eigenes Leben.

Marianne kam mit Jack besser aus als ich. Mit ihrer freundlichen, sanften und geistesabwesenden Art stellte sie für Jack wohl auch keine solche Bedrohung dar wie ich, die ich es manchmal nicht lassen konnte, ihm den Schrubber oder die Spülbürste in die Hand zu drücken und im Säuselton zu flöten: „So, mein lieber Junge, weißt du, was das ist? Das nennt sich Spülbürste. Und jetzt darfst du mir beweisen, dass du sie auch benutzen kannst, dass du ein großer Junge bist. Und dass du ein guter Junge und ein hilfsbereiter Gast bist und kein böser Schmarotzer, der auf unsere Kosten lebt.“

Aber meine Erziehungsbemühungen fruchteten nicht, was in erster Linie an der Löwenmama Tina lag. Jack wurde natürlich fuchsteufelswild, sobald ich ihn ‚boy‘ nannte, was ich wusste, und es machte mir enormen Spaß, ihn aus der Reserve zu locken. Allein wäre ich mit Jack durchaus fertig geworden. Jack war im Grunde nichts anderes als ein schwacher, selbstunsicherer Mann, der zudem extrem verwöhnt und entsprechend lebensuntüchtig und unzufrieden war. Aber Tina explodierte bei solchen Szenen mit einer Vehemenz, die mir regelrecht Angst machte. Aus Angst um die letzten kümmerlichen Reste unserer früheren Freundschaft unterließ ich es, Jack zu maßregeln, und Tina bemühte sich ihrerseits, sein mangelhaftes Engagement im Haushalt wieder wettzumachen, indem sie doppelt so oft wie früher spülte, kochte und putzte, obwohl sie sehr viel arbeitete und Jack am meisten Zeit von uns allen hatte. Sie zahlte auch stillschweigend das Doppelte in die Haushaltskasse ein.

„Findest du diese Beschreibungen nicht etwas einseitig?“, fragte Tina vorsichtig. Sie zumindest hatte sich die Mühe gemacht, das erste Kapitel zu lesen. „Ich meine, es zielt doch alles sehr in die Richtung: Die Männer sind Schweine und die Frauen arme Opfer.“

„In Südostasien kann man tatsächlich eine solche Weltsicht bekommen. Du kannst mir glauben, die Beschreibungen sind realistisch und nicht einseitig“, verteidigte ich mein erstes Kapitel.

Es war mir vorher nicht klar gewesen, wie empfindlich man wird, wenn man ein Buch schreibt und sein Herzblut in diese Arbeit steckt. Bei meiner Diplomarbeit war es anders gewesen. Ich hatte sie heruntergeschrieben in dem beruhigenden Wissen, dass niemand sie jemals lesen würde und ich lediglich den Vergleich mit meinen Kommilitonen zu bestehen hatte. Mit diesem Buch aber war es anders. Jeder würde es lesen können, und jeder, der es aufmerksam las, würde sehr viel Persönliches über mich erfahren. Und zudem hatte ich noch den Vergleich mit renommierten Autoren zu bestehen, um überhaupt die Chance auf eine Veröffentlichung zu bekommen. Über die Worte der netten Anna Huber freute ich mich deshalb so unbändig, dass ich an mich halten musste, um nicht in der Diele auf und ab zu springen.

„Wir würden gerne sofort einen Vertrag mit Ihnen abschließen“, sagte Anna Huber, und mit Mühe brach ich nicht in lautes Jubelgeschrei aus. Stattdessen fragte ich mit kühler, geschäftsmäßiger Stimme nach den Konditionen, und sie klangen gut.

„Kommen Sie doch einfach bei uns vorbei!“, endete Anna Huber freundlich. „Wir sind alle sehr gespannt darauf, Sie persönlich kennenzulernen.“

„Aber um Gottes Willen!“ Mein Mut sank auf einmal beträchtlich. „Wie können Sie so sicher sein, dass der Rest des Buches genauso gut wird wie der Anfang?“

„Da bin ich mir sicher. Dieses Buch wird der Renner, das weiß ich jetzt schon. Und ich bin lange genug im Geschäft, um das beurteilen zu können“, war die beruhigende Antwort. „Wann können Sie kommen? Morgen? 11: 00 Uhr?“

„Äh, ja, das könnte ich wohl einrichten“, ächzte ich kraftlos, und nachdem ich aufgelegt hat, tanzte ich jubelnd in der Wohnung herum. Ich umarmte sogar den freudlosen und angewiderten Jack, denn jemand anderes war gerade in unserer Wohnung nicht präsent. Der Jäger-Verlag, ich konnte es nicht fassen! Der Jäger-Verlag veröffentlichte die Bücher sämtlicher Bestseller-Autoren in schwindelerregenden Auflagen. Und ich, Regina Dotzki, würde auf einmal in den Olymp aufsteigen!

Der Olymp sah in der Tat vollkommen anders aus als der zugige Berliner Dachboden des Rotherz-Verlags: ein riesiges, lichtdurchflutetes Hochhaus mit teuerstem Inventar in der Frankfurter Innenstadt. Mit freundlichen, Kaffee und Lachsschnittchen servierenden Sekretärinnen, mit sich verbeugenden Pförtnern und lächelnden Mitarbeitern. Zehn Minuten lang durfte ich mich bei den Klängen von Beethovens Mondscheinsonate in der VIP-Lounge entspannen, und dann fuhr ich klopfenden Herzens mit einem gläsernen Fahrstuhl in den Olymp des Olymps, in das oberste Stockwerk, in dem mich Anna Huber freundlich in Empfang nahm.

Anna Huber war eine verschmitzt lächelnde, seriöse weißhaarige Dame, und ich schloss sie sofort ins Herz. Trotz meiner Aufregung plauderte ich mit ihr bei einer weiteren Tasse Kaffee und weiteren Lachshäppchen bald wie mit einer Freundin. Sie schien sich brennend für meine Person und meine Erlebnisse zu interessieren. Wir lachten zusammen Tränen. Oder war sie nur ein Routinier mit der genauen Kenntnis empfindsamer Autorenseelen? Jedenfalls stellte sie die richtigen Fragen, zeigte ein ernsthaftes Interesse, hatte denselben Humor wie ich, und nach 20 Minuten hatte sie mich davon überzeugt, dass sie die allerbeste Lektorin war, die es für mich und für mein Manuskript geben konnte.

„Ich werde Sie gleich meinem Chef vorstellen, er ist auch sehr gespannt auf Sie“, lächelte sie ihr verschmitztes Lächeln.

„Und was ist Ihr Chef für ein Typ?“, fragte ich neugierig.

„Nun ja“, sie sah mich etwas verschwörerisch an, „er ist ein Mann. Jung, erfolgreich und sehr auf die Karriere fixiert, wie diese jungen Männer von heute eben so sind. Sie kennen diese Sorte Mann?“

„Ja, ich kenne diese Sorte Mann. Sie schießen in der letzten Zeit wirklich wie die Pilze aus dem Boden.“

Wir lächelten uns in weiblichem Einvernehmen an.

„Sie sind zum Glück jung und hübsch genug, um ihn überzeugen zu können. Und den Rest können Sie getrost mir überlassen.“

Das klang vielversprechend! Doch Anna Huber hatte nicht übertrieben. Ein Yuppie hinter einem großen, gläsernen Schreibtisch erwartete uns in einer Bahnhofshalle von Büro, und seine etwas schläfrigen, glatten Gesichtszüge hellten sich auf, als er mich im schwarzen Stretch-Minirock und türkisfarbener asymmetrischer Seidenbluse erblickte.

„So, Sie sind also unsere neue Autorin. Herzlich willkommen! Sie schreiben gerade an einem Buch über, über…“

„Sextourismus“, kam ihm Anna Huber hilfreich und etwas spöttisch entgegen.

„Richtig. Sextourismus.“ Er ließ sich nicht verunsichern. „Ich habe in das Manuskript hineingelesen. Nicht sehr schmeichelhaft für einen Mann, das zu lesen. Die Männer kommen in Ihrem Buch nicht besonders gut weg.“

„Nun ja, es sind ja zum Glück nicht alle so,“ lächelte ich entschuldigend.

„Das Thema ist hochaktuell,“ ergänzte Anna Huber. „Jährlich fahren Hunderttausende von deutschen Männern zum Sexurlaub nach Südostasien. Und bislang gibt es noch kein einziges Buch zu diesem Thema. Das allein sollte schon eine Erfolgsgarantie sein. Und es ist hervorragend geschrieben.“

„Okay, ich habe nichts dagegen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe noch einen wichtigen Termin mit Rainer Kubelitz.“

Rainer Kubelitz! Ich staunte. Rainer Kubelitz war ein millionenschwerer Bestseller-Autor.

„Und Sie wissen ja, wie Rainer Kubelitz ist. Empfindlich wie eine Mimose! Wenn er nur 10 Minuten warten muss, ist ihm zuzutrauen, dass er aus Wut zur Konkurrenz geht.“

„Gehen Sie nur, wir sind uns ja einig,“ meinte Anna Huber mit gespieltem Mitgefühl. „Und viel Spaß mit Rainer Kubelitz! Vergessen Sie nicht, ihm Kaviar mit Sour Creme und getoastetem Baguette servieren zu lassen! Ich weiß aus Erfahrung, dass er dann in Stimmung kommt.“

„Wie meinen Sie das: Dann kommt er in Stimmung?“, fragte der Yuppie pikiert, und wir Frauen lachten schallend. Er warf noch einen letzten bedauernden Blick auf meine schwarzen hochglänzenden Strumpfhosen, bevor wir seinen Olymp mit Weitblick über Frankfurt wieder verließen.

„Na, wie fanden Sie meinen Chef?“, fragte Anna Huber verschmitzt lächelnd.

„Er ist genauso, wie Sie ihn beschrieben haben“, grinste ich zurück. „Allerdings muss es auch kein Spaß sein, den ganzen Tag mit so hochneurotischen Schriftstellern verhandeln zu müssen. Dazu braucht man sicherlich viel Fingerspitzengefühl.“

„Sie sagen es! Zum Glück sind Sie da eine sehr erfrischende Ausnahme. Aber Sie sind ja auch noch nicht lange im Metier. So, und nun unterschreiben wir den Vertrag, ja?“

Mir stockte der Atem. Bislang war mein Aufenthalt im Olymp noch recht unterhaltsam gewesen, aber nun drohte mir eine Unterschrift mit Konsequenzen. Ich würde das Buch fertig schreiben müssen, und zwar schnell. Und ich musste gegenüber Inge vom Rotherz-Verlag wortbrüchig werden.

Ich unterschrieb nicht, obwohl mich Anna Huber sehr dazu drängte. Aber ich versprach ihr, spätestens nach Ende des zweiten Teiles, wenn ein Ende des Buches absehbar war, den Vertrag unterschrieben zurückzuschicken.

Kaum war ich wieder zu Hause angekommen, kam Winfried auch schon atemlos die Treppe heruntergeschossen.

„Regina!“, keuchte er und sah mich an, als hätte er mich noch nie gesehen.

„Winfried, um Gottes Willen, was ist denn passiert?“

„Ich hätte im Leben nicht gedacht, dass mir so etwas jemals passiert. Mir, mir, mir, Winfried Körner!“ Winfried war völlig außer Atem.

„Was ist denn passiert? Nun red schon!“

Es dauerte eine Weile, bis Winfried sich klar ausdrücken konnte. „Heute Vormittag ging ich an eurer Wohnungstür vorbei, und das Telefon klingelte. Es klingelte und klingelte, aber keiner ging ran.“

Sehr erstaunlich! Sollte Jack etwa auf die Idee gekommen sein einzukaufen?

„Ich ging also ran, die Tür war ja auf.“

Natürlich war die Tür auf. Unsere Haustüren waren immer unverschlossen. Diese Sitte hatte auch meinen einjährigen Südostasienaufenthalt überlebt. Lediglich der neue Architekt unter uns hatte Türschlösser an seine Wohnungstür montieren lassen. Aber bei uns gab es nicht viel zu stehlen. Und es konnte schließlich immer vorkommen, dass irgendein Nachbar auf einmal dringend Kaffee, Eier, Butter, Milch oder Sonstiges benötigte. Warum also abschließen?

„Und weißt du, wer am Telefon war?“ Winfried hatte ein eigenartiges Strahlen in den Augen.

„Nein, natürlich nicht. Wer denn?“

„Hartmut Möwe! An eurem Telefon! Da bist du platt, was?“

„Hartmut Möwe? Wer ist das denn?“

„Du kennst Hartmut Möwe nicht? Mein Gott, Regina, in welcher Welt lebst du eigentlich?“

„Ich kenne wirklich keinen Hartmut Möwe. Muss ich ihn kennen?“

„Er wollte dich aber sprechen.“

„Mich? Was wollte er denn von mir?“, fragte ich verwundert.

„Er war ganz freundlich zu mir, obwohl er mich ja gar nicht kannte.“ Winfried war so aufgekratzt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. „Stell dir vor: Hartmut Möwe hat ganz freundlich mit mir am Telefon gesprochen. Hartmut Möwe! Mit mir am Telefon gesprochen! Ganz freundlich! Da fällt dir nichts mehr ein, was?“

Winfried brachte mich allmählich an den Rand des Wahnsinns. „Winfried, bitte beruhige dich doch! Und sage mir endlich: Who the fuck is Hartmut Möwe?“

„Er hat ganz freundlich gesagt: Guten Tag, hier ist Hartmut Möwe, bin ich hier richtig verbunden mit dem Anschluss von Regina Dotzki? Ganz freundlich war er zu mir, Regina. Und stell dir vor, wäre ich nicht zufällig im Treppenhaus vorbeigekommen, wäre ich nicht zufällig an euer Telefon gegangen, ich hätte in meinem ganzen Leben niemals ein Wort mit Hartmut Möwe gesprochen. Ach, Regina! Dir habe ich das alles zu verdanken! Du bist wirklich die netteste Nachbarin aller Zeiten!“

Und dann geschah etwas, was niemals vorher und niemals hinterher geschehen war: Der stets kühle und ernsthafte Winfried schloss mich überglücklich in die Arme und küsste mich für einen Nachbarn äußerst intensiv auf den Mund. Ärgerlich machte ich mich wieder frei.

„Winfried, um Gottes Willen, komm zu dir! Und sage mir endlich, wer dieser verdammte Hartmut Möwe ist, der dich so durcheinanderbringt, dass du jedes gute Benehmen komplett vergessen hast. Sowas macht man nicht als guter Nachbar!“

„Ich kann es einfach nicht glauben, dass du Hartmut Möwe nicht kennst! Dass du diesen Jahrhundert-Mann nicht kennst! Das gibt’s doch nicht!“ Winfried starrte mich fassungslos an.

„Winfried, bitte, mach mich nicht wahnsinnig! Ich war ein Jahr lang weg, da bin ich nicht mehr so ganz auf dem Laufenden. Ist Hartmut Möwe ein neuer Psycho-Guru oder was?“

„Ein Psycho-Guru? Oh nein! Hartmut Möwe ist einer der bekanntesten SPD-Politiker, schon seit Jahrzehnten. Ein phänomenaler Geist, eine brillante Persönlichkeit, ein unheimlich scharfsinniger Denker, ein Visionär, der seiner Zeit weit voraus ist. Regina, es gibt in meinem Leben nur eine einzige Person, die ich rückhaltlos bewundere, und das ist Hartmut Möwe. Schon als Jugendlicher war er mein Idol, mein großes Vorbild. Ich hörte eine Rede von ihm und war hin und weg. Und wenn ich heute eine Rede von ihm höre, bin ich immer noch hin und weg.“

Winfried hatte also ein Idol, das hatte ich noch gar nicht gewusst. Sehr interessant!

„Winfried, du weißt genau, dass ich kein Fernsehen gucke und mich noch nie für Politik interessiert habe. Ich kenne Hartmut Möwe wirklich nicht. Aber wieso ruft ein offensichtlich bekannter SPD-Politiker bei mir zuhause an?“

„Neben seiner Arbeit im Bundestag ist Hartmut Möwe auch Cheflektor beim Sowieso-Verlag,“ fügte Winfried hinzu, und endlich fiel bei mir der Groschen. Meine Kinnlade fiel auf Schilddrüsenhöhe.

„Winfried!“ Allmählich wurde auch ich erregt. „Ich habe mein Manuskript auch dem Sowieso-Verlag angeboten. Und weißt du, wo ich gerade herkomme? Aus Frankfurt vom Jäger-Verlag. Dort haben sie mich fast genötigt, sofort einen Vertrag zu unterschreiben. Ich fasse es einfach nicht!“

„Mensch, Regina, herzlichen Glückwunsch! Hast du schon unterschrieben?“

„Nein, noch nicht. Das ging selbst mir alles zu schnell. Ich habe doch erst 80 Seiten von diesem Buch geschrieben! Und schon reißen sich alle darum und wollen mich zu Unterschriften auf Verträgen nötigen! Verstehst du das? Ich meine, alle unbekannten Autoren laufen sich die Hacken wund, um ihre Bücher an den Mann zu bringen, und ich biete es zwei riesengroßen Verlagen an, und beide springen sofort darauf an. Obwohl ich erst 80 Seiten geschrieben habe und kein Mensch weiß, ob der Rest nicht gnadenloser Schrott wird. Ich begreife das einfach nicht!“

„Vielleicht bist du ja tatsächlich ein großes Talent?“ Aber selbst Winfried sah dabei nicht wirklich überzeugend aus.

„Nein, Winfried, ich bin kein großes Talent.“ Ich zwang mich zur Ehrlichkeit. „Der erste Teil dieses Buches ist zwar gut lesbar und flott geschrieben, aber gut lesbar und flott können viele Leute schreiben.“

„Dann wird es am Thema liegen. Und daran, dass es noch keine Veröffentlichungen darüber gibt.“

„Genau. Das hat Anna Huber vom Jäger-Verlag auch gesagt, als sie ihrem Chef das Buch schmackhaft machen wollte.“

„Es ist doch eigentlich egal, warum die Verlage hinter deinem Buch her sind, Hauptsache, sie sind es! Und jetzt auch noch Hartmut Möwe! Er hätte sicherlich nicht persönlich angerufen, wenn er nicht großes Interesse an deinem Buch hätte.“

„Ja, das befürchte ich auch,“ seufzte ich. „Aber was soll ich nur machen? Ich habe im Prinzip dem Jäger-Verlag schon versprochen, den Vertrag zu unterschreiben. Und dem Rotherz-Verlag habe ich es quasi auch versprochen. Aber von denen habe ich noch gar nichts gehört. Was soll ich dann noch mit dem Sowieso-Verlag?“

„Solange du nichts unterschrieben hast, hast du keinerlei Verpflichtungen“, meinte der pragmatische Winfried. „Gut, es ist zwar für einen Verlag ärgerlich, wenn ein Autor abspringt, aber das sind Dinge, mit denen müssen sie tagtäglich leben. Bitte tu mir den Gefallen und rede mit Hartmut Möwe! Mit diesem interessanten Mann zusammenzuarbeiten wird mit Sicherheit die Erfahrung deines Lebens werden. Ach, wie ich dich beneide! Vergleiche doch einfach die Konditionen! Und dann kannst du dich immer noch entscheiden. Er hat jedenfalls seine Telefonnummer hinterlassen und darum gebeten, dass du so schnell wie möglich zurückrufen sollst. Das hat Hartmut Möwe zu mir gesagt. Und er war wirklich ganz freundlich zu mir!“

„Hartmut Möwe.“ Er war es tatsächlich. Persönlich! Ganz cool bleiben, Regina!

„Guten Tag, Herr Möwe, hier ist Regina Dotzki. Sie baten um Rückruf.“

„Ah, ja, Frau Dotzki, schön, dass Sie anrufen! Worum geht es?“

„Das wollte ich Sie gerade fragen. Sie hatten doch heute bei mir angerufen, oder?“

„Ja, richtig, ich erinnere mich. Es geht um Ihr Manuskript: Sextourismus in Südostasien. Wollen Sie meine ehrliche Meinung dazu hören?“

„Gerne.“ Wohlig streckte ich mich auf meinem Sofa aus und freute mich auf weitere Komplimente.

„Nun, dieses Manuskript ist, wie soll ich sagen, Sie wollen wirklich meine ehrliche Meinung hören?“

„Ja, natürlich.“

„Nun, es ist in einem ausgesprochen polemischen Stil geschrieben, politisch natürlich völlig wertlos, wissenschaftlich absolut unhaltbar, es ist, gelinde gesagt, eine Katastrophe. Sie haben noch nie ein Buch geschrieben, oder?“

„Nein,“ sagte ich kühl.

„Nun, das dachte ich mir.“ Er lachte gönnerhaft. „Frau Dotzki, Sie müssen noch viel lernen. Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„28,“ sagte ich kühl.

„28, ein schönes Alter,“ lachte er jovial.

Allerdings, dachte ich ärgerlich. 28 ist ein schönes Alter. Ein viel zu schönes Alter, um sich solche Frechheiten anhören zu müssen! Aber ich sagte es nicht. Und dieser unhöfliche Mann war Winfrieds Idol seit Jugendtagen?

Hartmut Möwe ließ sich nun in einem 20-minütigen Monolog über meine Unfähigkeit, ein Buch zu schreiben, aus, in diesem gönnerhaften Ton, den man gegenüber nicht ganz ernst zu nehmenden Menschen an den Tag legte. Hätte ich nicht gerade das erfreuliche Treffen mit dem Jäger-Verlag hinter mich gebracht, so hätte mich dieses Telefonat vermutlich derart umgehauen, dass ich keine einzige weitere Seite mehr produziert hätte. Dank der erfreulichen Sicherheit eines Vertrages mit dem Jäger-Verlag in der Handtasche, den ich nur noch zu unterschreiben brauchte, konnte mich jedoch selbst Hartmut Möwe nicht einschüchtern. Ich wartete kühl ab. Irgendwann würde auch dieser Mann einmal zum Ende kommen. Und er kam zum Ende.

„Frau Dotzki, Sie haben nun meine Meinung über Ihr Manuskript gehört. Ich hoffe, meine Kritik trifft Sie nicht allzu sehr, aber Sie hatten mich ja um meine ehrliche Meinung gebeten.“

„Gut, Herr Möwe. Danke für Ihre Kritik und danke für die Zeit, die Sie sich genommen haben, um mir Ihre Kritik persönlich mitzuteilen. Ich entnehme Ihren Worten, dass Sie an einer Veröffentlichung nicht interessiert sind?“

Ich blieb ruhig und segnete den glücklichen Umstand, dass Herr Möwe nicht vor Frau Huber angerufen hatte.

„Aber nein, Frau Dotzki, da haben wir uns gründlich missverstanden. Es ist nicht so, dass wir grundsätzlich nicht interessiert sind, trotz aller Mängel, die ich Ihnen ja gerade erläutert habe. Ich gebe zu, das Manuskript ist spannend geschrieben. Zwar etwas zu spannend und zu persönlich für eine sachliche politische Reportage, aber leider, leider, viele Menschen von heute schätzen diesen trivialen, polemischen Stil.“

Er stöhnte unter der Belastung, den entsetzlichen Geschmack der breiten, niveaulosen Masse bei seinen Überlegungen mitberücksichtigen zu müssen. Und so ein Mann war SPD-Politiker?

„Sie können sich nicht vorstellen, was meine Arbeit mir manchmal abverlangt, welche Abstriche ich an meine Ideale machen muss! Tag für Tag!“

Ich sagte nichts dazu, was hätte ich auch sagen sollen? Etwa: Sie Ärmster! Geben Sie doch bitte Ihren Job auf und suchen Sie sich einen guten Therapeuten, sonst gehen Sie noch vor die Hunde?

Hartmut Möwe war mir zutiefst zuwider. Menschen, die Spaß daran hatten, andere Menschen herunterzumachen, waren mir schon immer zuwider gewesen. Aus diesem Grunde hatte ich mich auch niemals für Politik interessiert. Politiker hatten genau diese Kommunikationsstrukturen. Die meisten waren für mich stumpfsinnige, eitle und machtbesessene Narzissten, die nur um sich selbst kreisten, die entweder viel redeten, ohne wirklich etwas Konkretes zu sagen, oder die Spaß daran hatten, andere Menschen mit anderen Wertvorstellungen zu entwerten und sich selbst damit aufzuwerten. Zu einem konstruktiven Miteinander waren sie in aller Regel nicht fähig. Jede durchschnittliche Hausfrau hatte in meinen Augen mehr menschliche Kompetenz als ein Politiker. Wieso schickte mir Hartmut Möwe nicht einfach das Manuskript zurück mit einem dieser netten Formbriefe, dass sie schon so viele Veröffentlichungen namhafter Autoren geplant hätten, dass sie mein Manuskript leider nicht mehr berücksichtigen könnten?

Doch Hartmut Möwe kam nun allmählich zur Sache. Wahrscheinlich war er der Meinung, dass er mich klein genug geklopft hatte.

„Frau Dotzki, um es kurz zu machen: Wir sind grundsätzlich interessiert. Wir sind interessiert an dem Thema, zu dem es noch keine Veröffentlichungen gibt. Aber natürlich müssten Sie den gesamten ersten Teil noch einmal neu schreiben, ein solch triviales Niveau passt einfach nicht zum Stil unseres Hauses. Und die nächsten Teile schreiben Sie bitte nach unseren Vorstellungen.“ Er seufzte tief. „Es wird zwar in Ihrem Falle unendlich viel Arbeit machen, aber wir sind bereit, das Risiko mit Ihnen einzugehen und Ihnen zu helfen, ein brauchbares Buch zu schreiben.“

„Herzlichen Dank!“, sagte ich ironisch. Er verstand die Ironie nicht.

„Nun ja, es ist auch unsere Aufgabe, jungen, engagierten Autoren, und als solchen darf ich Sie doch bezeichnen, oder, hohoho, jungen, unerfahrenen Autoren wie Ihnen den nötigen Schliff zu geben“, meinte er selbstgefällig. „Aber unter uns gesagt, Frau Dotzki: Mit Ihrem Stil sollten Sie lieber ins Krimi-Genre einsteigen, statt sich an politische Themen heranzuwagen. Ich bin seit 30 Jahren in der Politik, und ich weiß, wovon ich rede.“

Es folgte ein weiterer zehnminütiger Monolog über seine vielfältigen Erfahrungen in der Politik, speziell in der Außenpolitik, und über alle ahnungslosen Stümper, die sich in der Politikerszene tummelten. Ich sagte nichts dazu. Was hätte ich auch sagen sollen? Etwa: Sie Ärmster! Bitte geben Sie doch Ihren Job auf und suchen Sie sich einen guten Therapeuten, sonst gehen Sie noch vor die Hunde? Und er würde mit einem tiefen Seufzer antworten: Ich bitte Sie, Frau Dotzki, wer sollte dann noch Deutschland und die Welt vor dem Untergang retten? Hartmut Möwe schien sämtliche Menschen außer sich selbst für komplette Idioten zu halten.

„Es war interessant, mit Ihnen zu sprechen, Frau Dotzki,“ beendete er das Gespräch. Es schien ihm nicht aufgefallen zu sein, dass ich bei diesem Telefonat kaum etwas gesprochen hatte. „Wir sollten uns einmal persönlich treffen, damit ich Ihnen meine Vorstellungen etwas konkreter erläutern kann.“

„Gerne,“ sagte ich. „Wann passt es Ihnen?“

Hartmut Möwe stöhnte eine Weile über seinen überfüllten Terminkalender und bot mir dann in der nächsten Woche einen Termin im Bundestag an. Und diese Aussicht munterte mich schlagartig wieder auf. Ich, Regina Dotzki, im Bundestag! Das war wirklich fast noch besser als der Olymp!

Ich staunte sehr über die unterschiedlichen Rekrutierungsmethoden der einzelnen Verlage. Der Jäger-Verlag hatte eindeutig die Strategie, dem Ego ihrer Autoren zu schmeicheln, sie wie Filmdivas zu umsorgen und ihnen die Bewunderung zukommen zu lassen, nach der sie lechzten. Und der Sowieso-Verlag hatte offensichtlich die Taktik, die Autoren erst gnadenlos herunterzumachen, um ihnen dann, mit der Güte eines verzweifelten Vaters, doch noch eine Chance zu geben und sie nach ihren Vorstellungen zu formen. Es war wie eine Wahl zwischen zwei interessanten Männern: Der eine liebte und bewunderte einen genau so, wie man war, und der andere war der Meinung, man könnte mit viel Mühe eventuell noch etwas aus einem machen. Es gab tatsächlich Frauen, die bei einer solchen Wahlmöglichkeit die zweite Variante wählten, aber zu diesen Frauen hatte ich noch nie gehört. Somit musste ich mir ganz ehrlich eingestehen: Die Strategie des Jäger-Verlags sagte mir weitaus mehr zu.

Eine Woche später befand ich mich munter auf dem Weg in den Bundestag. Pünktlich traf ich ein, wurde gründlich inspiziert, musste meinen Personalausweis abgeben, und der Pförtner rief bei Hartmut Möwe an, um ihm mitzuteilen, dass ich eingetroffen war.

„Herr Möwe bittet Sie, noch einen Moment zu warten. Er muss noch eben zu einer wichtigen Abstimmung.“

Das tat ich doch gerne. Oh, wie gerne ich wartete! Und das in einem so interessanten Ambiente! Ich ließ mich in der Eingangshalle nieder und beobachtete, wie ein Politiker nach dem anderen zu der wichtigen Abstimmung eilte. Sie sahen sich alle erschreckend ähnlich: Anzug, Krawatte, selbstgefällige Gesichter und wohlgenährte Körper. Nur die Grünen, die damals noch neu im Bundestag waren, erkannte man an ihrer provokant unkonventionellen Kleidung und an ihren bunten Enten mit ‚Atomkraft nein danke‘-Aufklebern, mit denen sie zu der wichtigen Abstimmung vorfuhren. Manche ganz Mutige kamen sogar mit dem Fahrrad angeradelt. Ein Jahr Südostasien würde den meisten Politikern auch guttun, dachte ich, ein wenig mehr Gelassenheit, ein wenig mehr Genügsamkeit und die Fähigkeit, sich selbst nicht allzu wichtig zu nehmen. Die meisten wurden in Nobelkarossen vorgefahren, und die wichtigen Politiker unterschieden sich von den unwichtigen Politikern lediglich dadurch, dass bei ihrem Eintreffen ein Blitzlichtgewitter diverser Fotografen in der Eingangsscheibe aufblitzte. Aber ansonsten sahen sie so aus, als ob sie alle das gleiche Leben führten, alle in der gleichen Schicht lebten und Frauen und Kinder in schmucken Einfamilienhäusern im Grünen sitzen hatten, die ihnen den Alltagskram abnahmen. Ich hätte beim besten Willen vom äußeren Eindruck her nicht sagen können, wer ein SPD-, wer ein CDU- und wer ein FDP-Politiker war. Sie erhielten alle ihre Abgeordnetengehälter, kamen zu den Abstimmungen, hetzten zu Versammlungen, hielten ihre Reden, und ansonsten lebten sie in einer relativ abgeschotteten, bequemen und gutsituierten Beamtenwelt.

Unter den Politikern herrschte ein freundlicher Umgangston, der sich durch alle altgedienten Parteien zog. Man begrüßte sich, und man klopfte sich auf die Schultern, wie das unter alten Kollegen so üblich ist. Die Parteizugehörigkeit schien dabei keine große Rolle zu spielen. Nur mit den rebellischen Grünen sprach keiner der redlichen Anzugträger. Mittlerweile hatte sich auch das geändert.

Hartmut Möwe ließ mich eine dreiviertel Stunde lang warten. Wahrscheinlich wollte er mir bei dem Anblick so vieler bedeutsamer Persönlichkeiten, die an mir vorbeigehastet waren, meine eigene Unbedeutendheit vor Augen führen und mich dadurch in die richtige untertänige Stimmung für unser Gespräch bringen.

Als ich den Pförtner gerade fragte, ob es hier wohl irgendeine Cafeteria oder Kantine gäbe, hatte dieser ein Einsehen und rief noch einmal bei Hartmut Möwe an. Und Hartmut Möwe geruhte, mich nun zu empfangen. Zimmer 218! Ich grinste. § 218! Das Abtreibungszimmer! Hier, Hartmut Möwe, wirst du deinen vorbereiteten Vertrag bezüglich eines unfertigen, aber Geld versprechenden Buches über Sextourismus wie eine Babyleiche in der Toilette herunterspülen dürfen, dachte ich grimmig.

An der Tür empfing mich eine gehetzt aussehende Blondine Mitte 20 mit einem geflüsterten: „Pst, pst! Bitte warten Sie einen Moment! Herr Möwe ist gerade am Arbeiten!“

„Kommen Sie herein!“, hörte ich eine schlecht gelaunte Stimme aus dem Nebenraum. Hartmut Möwe hatte die Füße auf seinen Schreibtisch gelegt und war gerade dabei, sich im Fernsehen eine Rede anzusehen, die er gehalten hatte. Der Mann hatte wirklich Nerven! Ohne den Blick vom Fernseher zu wenden, bedeutete er uns mit einem lässigen Handwinken, auf den abgesessenen Sofas Platz zu nehmen. Sie waren natürlich, wie fast immer bei Männern, aus kackbraunem Cord. Allmählich platzte mir der Kragen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als eine halbe Stunde lang auf kackbraunem Cord sitzend das Video der Rede von Hartmut Möwe mitanzusehen.

„Dauert das noch lange?“, flüsterte ich der abgehetzten Blondine zu, die mit der gleichen Faszination wie Hartmut Möwe auf den Fernseher starrte.

„Pst, verdammt noch mal!“, zischte Hartmut Möwe ernsthaft erzürnt, und ich wagte keinen weiteren Einwurf.

Mit triumphierendem Blick schaltete Hartmut Möwe nach dem Ende seiner Rede endlich mithilfe einer Fernbedienung den Fernseher aus. Er musste dabei nicht einmal die Füße vom Schreibtisch nehmen.

„Fantastisch, Hartmut!“, hauchte die abgehetzte Blondine mit verklärtem Blick. „Äh, ich meinte natürlich, Herr Möwe.“

Ganz klar, sie war die Geliebte! Unter guten SPD-Genossen war nichts dabei, sich zu duzen. Wer aber aus Versehen in die Bettsprache verfiel und sich dann korrigierte, konnte nur eine Geliebte sein.

„Frau Dotzki, was kann ich für Sie tun?“, fragte Hartmut Möwe gelangweilt. Er war ein äußerst mittelmäßiger, ergrauter und etwas übergewichtiger Mann in den Sechzigern. Das also war Winfrieds Idol!

„Vielleicht könnten Sie mir einen Kaffee anbieten!“, schlug ich kühl vor.

Dieser Mann schlug wirklich dem Fass den Boden aus! Erst ließ er mich von Tübingen in den Bundestag anreisen, dann ließ er mich eine dreiviertel Stunde warten, dann ließ er mich eine halbe Stunde Fernsehen gucken, und dann fragte er auch noch, was er für mich tun könnte.

„Michaela, bitte!“, meinte er mit einer scheuchenden Handbewegung, und Michaela eilte brav an die Kaffeemaschine.

„Frau Dotzki, wir müssen es wirklich kurz machen. In 15 Minuten muss ich zur nächsten Abstimmung.“

Offensichtlich schien er es mir übel zu nehmen, dass ich ihn in seinem stressigen Alltag von der Arbeit abhielt. Obwohl er mir selbst den Termin angeboten hatte!

Ich kochte. „Ich habe nichts dagegen, es kurz zu machen.“

„Also machen wir es kurz. Was wollen Sie wissen?“

„Haben Sie Interesse daran, mein Buch zu veröffentlichen?“

„Ja, wir haben Interesse daran, ich sagte es Ihnen ja schon. Natürlich müssten Sie alles vollkommen umschreiben, und es wird alles sehr, sehr viel Arbeit machen, aber Sie wissen ja, wir sehen es als unsere Pflicht an, auch vollkommen unbekannten Autoren eine Chance zu geben.“ Er meinte damit völlig minderbemittelte Autoren, das war seinem Tonfall deutlich zu entnehmen.

„Sind Sie daran interessiert, schon zum jetzigen Zeitpunkt einen Vertrag mit mir abzuschließen?“

Er gähnte. „Ja, ich glaube, Michaela hat irgendetwas vorbereitet.“

„Zu welchen Konditionen?“

Er nannte die Konditionen. Sie waren nicht besser und nicht schlechter als die des Jäger-Verlags. Und damit war die Sache entschieden.

Die abgehetzte Michaela kam mit der Kaffeekanne wieder herein.

„Na, sind Sie sich schon einig geworden?“, fragte sie.

„Ja, wir sind uns einig geworden. Frau Dotzki, bitte besprechen Sie alles Weitere mit Michaela. Sie wird Ihre persönliche Lektorin sein. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte! Im Gegensatz zu Ihnen muss ich heute noch arbeiten.“

Mit diesen freundlichen Abschiedsworten nahm Hartmut Möwe seufzend seine Füße vom Schreibtisch und eilte davon.

Kopfschüttelnd sah ich die abgehetzte Michaela an. Wenn das die Personen waren, die über das Wohl unserer Republik zu entscheiden hatten, dann war es wirklich ein Wunder, dass Deutschland noch nicht in einem Sumpf aus Chaos und schlechtem Benehmen untergegangen war.

„Ist er immer so?“, fragte ich.

„Er ist ein wunderbarer Mensch!“, meinte Michaela mit verklärtem Blick. Interessanterweise sah sie, nachdem Hartmut Möwe das Zimmer verlassen hatte, weitaus entspannter und weniger abgehetzt aus als vorher. „Es macht einen solchen Spaß, mit ihm zu arbeiten. Sie werden sehen, Sie werden von der Zusammenarbeit mit ihm unglaublich viel profitieren. Gut, er ist sehr anspruchsvoll und erwartet von seinen Autoren höchstes Engagement, aber er holt das Beste aus ihnen heraus. Sie haben wirklich großes Glück, dass er Ihnen so eine Chance anbietet.“

Ich kotzte fast den Kaffee auf das braune Cordsofa. Rein farblich wäre es nicht einmal aufgefallen. Gab es denn in diesem Bundestag nur Verrückte? Narzissten, die eitel um sich selbst kreisten und andere Menschen abwerteten, und Komplementär-Narzissten, die ein solches Verhalten auch noch bewunderten?

„Frau Dotzki, ich freue mich sehr darauf, mit Ihnen ein wunderbares Buch zu erschaffen,“ strahlte mich Michaela an. „Wissen Sie, das ist auch für mich eine sehr große Chance. Das ist das erste Lektorat, das ich eigenständig übernehmen darf, sozusagen eine Bewährungsprobe für mich. Ich darf Herrn Möwe nicht enttäuschen. Er verspricht sich sehr viel von diesem Buch. Wir dürfen ihn beide nicht enttäuschen, ja? Und ist es nicht wunderbar, dass er uns beiden eine solche Chance gibt?“

Der Kaffee blieb mir nun endgültig im Halse stecken. Ich hoffte im Interesse von Michaela, dass sie nur rettungslos verliebt und nicht strohdumm war. Wahrscheinlich hatte sie einen Vater gehabt, dessen Liebesbeweisen sie stets hinterherhecheln musste, anders konnte ich mir das alles nicht mehr erklären.

Aber ich wollte es doch noch genauer wissen. In erster Linie wegen Winfried, denn dieser würde mir meine Schilderungen nicht glauben.

„Gut. Was erwarten Sie von mir? Was soll ich ändern? Was soll ich schreiben?“

„Den ersten Teil des Manuskriptes müssen Sie leider vollkommen neu schreiben. Herr Möwe hat das so angeordnet. Im Grunde haben Sie für den Papierkorb gearbeitet. Aber so etwas kommt vor. Zum Glück haben Sie ja erst 80 Seiten geschrieben.“

80 Seiten mühsam in einem halben Jahr mit all meinem Herzblut für den Papierkorb geschrieben? Nein, Michaela kannte sich wahrhaftig nicht mit empfindlichen Autorenseelen aus!

„Es soll alles etwas seriöser, etwas politischer werden, wenn Sie verstehen, was ich meine. Etwas weniger trivial, etwas weniger polemisch. Obwohl,“ sie kicherte, „manches fand ich ja wirklich recht witzig. Ist es wirklich so, dass es in Südostasien bayerische Bordelle mit Maßkrügen und Prostituierte in Dirndln gibt?“

„Ja, das ist in der Tat so.“

„Ach, wie lustig!“ Sie war die Naivität in Person. „Aber Herr Möwe meinte, so etwas muss natürlich raus. Das sei einfach zu männerfeindlich, zu einseitig. Der politische Aspekt muss deutlicher werden.“

„Könnte es denn nicht sein, dass Herr Möwe diese Beschreibungen als männerfeindlich erlebt, weil er selbst ein Mann ist? Mit außenpolitischer Erfahrung? Mit Sicherheit auch in Südostasien? Und sich selbst in diesen Beschreibungen wiedererkannt hat? Und aus diesem Unbehagen heraus dieses Thema politisieren und intellektualisieren will?“, wagte ich einen kleinen Vorstoß.

„Also nein!“ Mit dieser Hypothese konnte ich bei Michaela natürlich nicht landen. „Nein, also wirklich nicht! Verstehen Sie denn nicht, dass er es nur gut mit Ihnen meint und das Niveau des Buches einfach nur ein wenig heben will?“

„Ich verstehe.“ Ich wollte zum Ende kommen. Ich hatte genug gehört, um auch Winfried davon überzeugen zu können, dass Hartmut Möwe kein Mann war, den man zum Idol machen sollte. „Ich soll also den ganzen ersten Teil neu schreiben, und zwar nach den Wünschen von Herrn Möwe, seriös, politisch und männerfreundlich. Und ich soll die restlichen Teile ebenfalls nach den Wünschen von Herrn Möwe schreiben.“

„Genau!“, strahlte mich Michaela an. Endlich hatte ich verstanden, worum es ging.

„Warum schreibt Herr Möwe denn nicht selbst ein Buch über den Sextourismus?“, fragte ich mit echtem Interesse.

„Ach, wissen Sie, er könnte wundervolle Bücher über so viele Themen schreiben, und er bedauert es sehr, dass er einfach nicht die Zeit dazu findet. Er ist viel zu überlastet.“

„Ja, klar, der Ärmste!“, spottete ich und stand auf. „Michaela, Ihren Nachnamen weiß ich leider nicht, ich muss mich jetzt von Ihnen verabschieden. Unser Gespräch war sehr aufschlussreich für mich. Ich werde mir überlegen, ob ich mit Ihnen einen Vertrag abschließe. Und ich werde Ihnen meine Entscheidung in den nächsten Tagen mitteilen.“

Michaela starrte mich entsetzt an. „Was wollen Sie denn da noch überlegen? So eine Chance bekommen Sie nie wieder.“ Und dann lächelte sie. „Ach, Sie wollen pokern?“

„Nein, ich will nicht pokern. Ich will mir die ganze Sache nur noch einmal in Ruhe überlegen.“

„Wenn Sie wollen, dann können wir über die Konditionen auch noch ein wenig diskutieren. Hartmut hat gesagt, ich darf bis zu 7 % gehen.“

Er selbst hatte mir nur 6 % angeboten. Die Frau war so naiv, dass es kaum noch zu ertragen war. Sie begriff nicht, dass es hier nicht um Geld, sondern um Stolz und um Respekt ging. Und sie geriet nun sichtlich in Panik. Daran erkannte ich, dass Hartmut Möwe ausgesprochen interessiert an der Veröffentlichung des Buches sein musste, was er vor mir gut verborgen hatte. Wahrscheinlich hatte er Michaela angewiesen, dass ich ohne Unterschrift den Bundestag nicht zu verlassen habe.

Er bekam die Unterschrift nicht. Er bekam sie nie. Einen Tag später schickte ich den unterschriebenen Vertrag an den Jäger-Verlag. Und einen kurzen, genüsslichen Brief an Hartmut Möwe, dass ich ihm zu meinem Bedauern mitteilen müsse, dass ich mich bezüglich der Veröffentlichung meines Buches über Sextourismus in Südostasien für einen anderen Verlag entschieden hätte. Hochachtungsvoll. Hartmut Möwe schrieb mir daraufhin einen seitenlangen, äußerst unschönen Brief voller Beschimpfungen und Beleidigungen. Diesen Brief zeigte ich Winfried, und Winfried konnte es nicht fassen. Er hatte zunächst meine Beschreibungen über Hartmut Möwe für stark übertrieben gehalten, aber nach diesem Brief stürzte sein jahrelanges Idol endlich von seinem unverdienten Sockel und Winfried in eine ernsthafte Krise, die er allerdings bald wieder überwand. Er suchte sich nie wieder ein Idol.

Gut, mein lieber Hartmut Möwe, dachte ich grimmig, wenn du wirklich wissen willst, was die Gründe für meine Absage sind, dann kannst du das gerne haben! Und ich schrieb ihm zurück, dass ich in meinem ganzen Leben selten eine solche Konzentrierung schlechten Benehmens gesehen hätte, und dass er sich nicht wundern dürfe, wenn ein solches Benehmen Konsequenzen habe und nicht unbedingt auf Gegenliebe stoße. Und dass ich ihm dringend rate, mit zukünftigen Autoren etwas respektvoller umzugehen als mit mir. Daraufhin schrieb Hartmut Möwe zwei weitere seitenlange Briefe in dem Tenor, er habe mit verrückten Autoren schon viel erlebt, aber solche Frechheiten wie mit mir noch niemals in seiner gesamten Laufbahn. Diese Briefe beantwortete ich nicht mehr. Jedes weitere Blatt Papier wäre Verschwendung gewesen. Und ich dankte meinem Schicksal, dass mir eine Zusammenarbeit mit Hartmut Möwe und eine Gehirnwäsche von Hartmut Möwe erspart geblieben war.

Das einzige Unbehagen, das ich noch verspürte, betraf den Rotherz-Verlag. Inge vom Rotherz-Verlag war immerhin die Erste gewesen, die mein Talent zum Schreiben erkannt hatte, sie war diejenige gewesen, die mich ermutigt hatte, mir dieses Projekt überhaupt zuzutrauen, und diejenige, die mir konkrete Tipps für die Datensammlung gegeben hatte. Insofern schuldete ich ihr eine gewisse Loyalität.

Aber vom Rotherz-Verlag hörte ich eine geraume Zeitlang gar nichts. Erst in der Endphase des Buches ein halbes Jahr später erhielt ich mein Manuskript zurück mit einem freundlichen Schreiben: Sehr geehrte Frau Dotzki, da Inge Meybarth nicht mehr als Lektorin bei uns arbeitet, habe ich die Aufgabe übernommen, Ihnen mitzuteilen, dass die Veröffentlichung Ihres Buches für den Rotherz-Verlag leider nicht infrage kommt. Beim Lesen Ihres Manuskriptes stellen sich beim Leser doch sehr schnell Ermüdungserscheinungen ein. Insgesamt trifft das Niveau Ihres Buches nicht ganz das Niveau unseres doch sehr renommierten Verlages. Ich hoffe, dass Sie nicht allzu enttäuscht sind, und rate Ihnen, Ihr Glück lieber bei einem kleineren Alternativ-Verlag zu versuchen, dort hätten Sie am ehesten eine Chance. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg dabei! Mit freundlichen Grüßen.“

Und wahrscheinlich hat kein einziger Autor auf dieser Welt beim Lesen eines solchen Briefes so sehr gejubelt und gelacht wie ich.

Nach dem Unterschreiben des Vertrages beim Jäger-Verlag wurde ich von einem Phänomen geplagt, das ich immer schon gehasst hatte: Zeitdruck. Ich arbeitete halbe Nächte an meinem Schreibtisch, und dennoch kam ich nur langsam voran. Immerhin hatte ich einen Fulltime-Job bei Hauberg im Schmuckladen und kam selten vor 19: 00 Uhr nach Hause. Freitags hatte ich zwar frei, aber freitags traf ich Armin. Und die Wochenenden blockierte Sebastian. Es war zum Verzweifeln! In diesem Schneckentempo würde es Jahre dauern, bis das Buch endlich fertig war.

Anna Huber blieb zwar auch nach dem Unterschreiben des Vertrages die freundliche Lektorin, die sie vorher schon gewesen war, aber gelegentlich rief sie doch an und erkundigte sich, natürlich ganz nebenbei und ohne mir Druck machen zu wollen, wann sie mit den nächsten Kapiteln rechnen könne. Ich fragte mich ernsthaft, wie andere Autoren dieses Problem lösten, außer denen, die vom Verkauf ihrer Bücher leben konnten, und das waren die wenigsten. Schließlich musste der Mensch von irgendetwas leben.

Eines Tages fasste ich den Mut und sprach mit Anna Huber über die Probleme meines Zeitmanagements.

„Aber das ist doch gar kein Problem“, sagte sie freundlich. „Wir geben Ihnen einen fetten Vorschuss, Sie kündigen Ihre Arbeit, und dann klotzen Sie ein paar Monate richtig ran.“

So viel Vertrauen rührte mich richtig. „Danke, das ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber ich kann unmöglich von Ihnen einen Vorschuss annehmen für eine Arbeit, die ich noch gar nicht beendet habe.“

„Das ist wirklich kein Problem für uns“, beruhigte sie mich.

„Und was machen Sie, wenn ich in der Zeit einen Herzschlag bekomme und das Buch niemals beenden kann? Dann haben Sie Ihren fetten Vorschuss in den Sand gesetzt!“

Anna Huber lachte herzlich am anderen Ende der Telefonleitung. Ich sah sie mit ihrem verschmitzten Gesicht regelrecht vor mir. „Mädchen, Sie werden doch mit 28 Jahren keinen Herzschlag bekommen!“

„Manchmal bin ich kurz davor!“, stöhnte ich.

Trotz guten Zuredens weigerte ich mich strikt, das Geld anzunehmen. Irgendwie fand ich es zutiefst unmoralisch, Geld für eine Arbeit zu bekommen, die vollkommen wertlos war, solange sie nicht beendet war.

„Gut, Frau Dotzki, ich kann Sie sogar in gewisser Weise verstehen. Dann gebe ich Ihnen einen anderen Tipp, wie Sie sowohl an Geld als auch an Zeit kommen können, obwohl ich das eigentlich nicht dürfte. Es bleibt unter uns, ja?“

„Ja, klar!“ Ich war gespannt. Hatte sie etwa einen heimlichen Sponsor für mich in petto? „Gehen Sie zum Sozialamt!“

„Zum Sozialamt?“, fragte ich entgeistert.

„Ja, zum Sozialamt. Sagen Sie dort, sie haben trotz intensivster Bemühungen noch keine Stelle als Psychologin gefunden, und Ihre Ersparnisse seien nun komplett aufgebraucht.“

Anna Huber hatte tatsächlich einen Sponsor für mich gefunden. Vater Staat!

„Aber das kann ich doch nicht machen!“, rief ich entsetzt aus. „Ich bin doch jung, gesund und arbeitsfähig. Da werden die Herren beim Sozialamt nur spöttisch lachen und sagen: Dann suchen Sie mal weiter und jobben Sie solange abends in einer Kneipe und tagsüber als Putzfrau! Womit sie ja auch zweifellos recht haben.“

„Sie haben aber mit Ihrer Ausbildung Anspruch auf eine qualifizierte Stelle,“ klärte Anna Huber mich auf. „Und solange Sie die nicht haben, haben Sie Anspruch auf staatliche Unterstützung.“

„So einfach ist das?“ Ich konnte das kaum glauben.

„So einfach ist das.“

„Aber direkt fair ist es nicht,“ meldete sich mein Über-Ich. „Ich meine, es gibt doch wirklich Leute, die hilfebedürftig sind. Und das bin ich nicht, jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne. Ich bin immer der Meinung gewesen, wenn ich Geld von jemandem bekomme, sollte ich auch eine Gegenleistung dafür erbringen.“

Anna Huber seufzte leicht. „Frau Dotzki, Sie sind einfach zu anständig für diese Welt! Sehen Sie es doch einfach mal so: Sie bekommen Geld von unserem Sozialstaat, das Ihnen rechtlich zusteht. Und mithilfe dieses Geldes ermöglichen Sie es den Menschen unseres Sozialstaates, die Sie durch Steuergelder eine Weile finanziert haben, sich über den Sextourismus zu informieren. Es sind doch nur wenige Monate! Und das ist kein einseitiges Geschäft, sondern eines, von dem alle Beteiligten profitieren.“

Einen Tag lang dachte ich über ihre Worte nach, und am nächsten Tag saß ich im Sozialamt. Ich war immer noch nicht davon überzeugt, dass das alles so einfach sein sollte. Ich berichtete dem freundlichen Herrn, dass ich nach meinem Studium ein einjähriges Stipendium erhalten hätte, in den sieben Monaten danach meine sämtlichen Ersparnisse aufgebraucht hätte und nun leider pleite sei. Von meiner Arbeit bei Hauberg berichtete ich nichts, ich hatte dort ohne Steuerkarte gearbeitet. Der freundliche Herr im Sozialamt wollte meinen Mietvertrag sehen und einen aktuellen Kontoauszug, auf dem nur eine zweistellige Summe zu lesen war. Und danach verließ ich den schäbigen Tempel mit einem Scheck. So einfach war das, zumindest damals.

Hauberg bedauerte es zwar sehr, dass er nun keinen mehr hatte, der über seine Witze lachte und der gutsituierten Damen geschickt Platinringe mit Diamanten verkaufen konnte, aber letztendlich zeigte er Verständnis für meine Situation.

„Und wenn Sie dieses verdammte Buch fertig haben, dann kommen Sie sofort wieder zurück!“, donnerte er und schenkte sich aus Verzweiflung bereits den dritten Metaxa unseres denkwürdigen letzten Vormittags im Schmuckladen ein. „Denn hier werden Sie nämlich gebraucht!“

„Natürlich, Herr Hauberg, nichts lieber als das! Ich habe sehr gerne hier gearbeitet,“ meinte ich etwas wehmütig, wie immer bei Abschieden.

„Ich habe das Gefühl, dass Sie nicht wieder bei mir arbeiten werden,“ lallte Hauberg nach dem fünften Metaxa weinerlich, und damit sollte er Recht behalten. „Aber versprechen Sie mir, wenn Sie erst einmal Ihren Bestseller geschrieben haben, überall in Deutschland Lesungen halten und ständig in Talkshows zu sehen sind, dann denken Sie hin und wieder mal an den guten, alten Hauberg zurück, ja?“

„Ich werde Sie nie vergessen, Herr Hauberg, ehrlich! Aber überschätzen Sie mich nicht! So berühmt werde ich mit Sicherheit nicht,“ lachte ich.

„Und vergessen Sie nicht, mir ein Exemplar Ihres Buches zu schenken! Mit Widmung: Für meinen guten, alten Hauberg, den besten Chef, den ich jemals hatte!“ Hauberg schenkte sich unter Krokodilstränen den siebten Metaxa ein.

„Das werde ich nicht vergessen, Herr Hauberg, ich verspreche es.“ Und ich vergaß es wirklich nicht.

„Und wenn Sie Millionärin sind, dann kaufen Sie Ihren Schmuck nur bei mir, ja?“ Selbst im Vollrausch blieb Hauberg noch geschäftstüchtig, was mich beruhigte. Ein Mann wie er würde auch ohne eine Spitzenverkäuferin wie mich nicht Konkurs anmelden müssen.

Den Rest des Tages musste sich Hauberg sinnlos betrunken haben, denn mir wurde berichtet, dass er den Schmuckladen abgeschlossen und ein Schild ins Fenster gehängt hatte: Wegen Trauerfall geschlossen!

Ich war somit von einem Tag zum anderen zum Trauerfall und zum Sozialfall geworden. So schnell konnte das manchmal gehen.

Der helle Wahnsinn geht weiter

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