Читать книгу Der helle Wahnsinn geht weiter - Regina Dotzki - Страница 7

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Kapitel 3: Hilfe zur Arbeit und Giftpfeile im Herzen

Mein angenehmes Leben als Sozialhilfeempfängerin sollte nicht allzu lange währen. Nach drei Monaten erhielt ich eines Samstagmorgens einen kurzen, unmissverständlichen Brief von der Stadtverwaltung, und dieser Brief war so unmissverständlich, dass er leider auch nach dem zweiten Lesen immer noch genauso unmissverständlich war.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, rief ich entsetzt, und nach diesem Aufschrei kamen Tina und Marianne neugierig in mein Zimmer gestürmt. Es war fast wie in alten Zeiten.

„Was ist denn los, Regina?“

„Lest es selbst! Das darf wirklich nicht wahr sein!“ Erschüttert sank ich auf mein Sofa.

„Lass mich doch auch mal lesen, Tina!“, lamentierte Marianne, als Tina losprustete.

„Ich lese es dir vor,“ lachte Tina. „Das ist wirklich der Hit! Also hier steht: Sehr geehrte Frau Dotzki, wir gehen davon aus, dass Sie Ihr Leben als Sozialhilfeempfängerin so schnell wie möglich beenden möchten. Wir freuen uns deshalb sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass wir eine Arbeit für Sie gefunden haben. Bitte kommen Sie am Montag um 9: 00 Uhr in mein Büro, damit wir alles Weitere besprechen können. Der Form halber machen wir Sie darauf aufmerksam, dass Sie nach Paragraf Sowieso dazu verpflichtet sind, eine zumutbare Arbeit anzunehmen, und dass wir Ihnen die Sozialhilfeleistungen erheblich kürzen werden, wenn Sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen. Hochachtungsvoll!“

„Ihr seid wirklich gemein!“, kommentierte ich Tinas und Mariannes schadenfrohes Gelächter.

„Blätter zusammenrechen im Stadtpark!“, japste Tina. „Das sind doch diese üblichen Jobs, die Sozialhilfeempfänger machen müssen. Da wirst du dann den ganzen Tag lang mit ein paar reizenden rotnasigen Schnarchtassen zusammen den Rechen durch den Rasen schieben dürfen.“

Tina bog sich vor Lachen. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Tübingen zeigte sie endlich wieder leichte Anflüge ihrer früheren Persönlichkeit. Als hätte sie kurzzeitig vergessen, dass Jack im Nebenzimmer existierte. So sehr mich das auch freute, so sehr schockierte mich allerdings der Grund ihrer Heiterkeit.

Ich wurde blass. „Also bevor ich mit ein paar Alkoholikern zusammen Blätter im Park zusammenreche, gehe ich lieber wieder zu Hauberg.“

„Ich finde das vollkommen angemessen,“ gab Jack ungefragt seinen Senf dazu, der verspätet mein Zimmer betreten hatte und dem die Sachlage auf Englisch erläutert werden musste. Tinas Lachen im Gesicht war schlagartig wieder verschwunden, als Jack auftauchte. „Glaubst du etwa, du kannst ohne irgendwelche Gegenleistungen Geld bekommen?“

Jack hatte es gerade nötig! Bislang hatte er es geschafft, ohne irgendwelche Gegenleistungen ein dreiviertel Jahr bei uns zu leben und versorgt zu werden. Aber bei Jack war das natürlich etwas anderes.

Allerdings war ich dieses Mal selbst für einen Streit mit Jack zu deprimiert. Ich hatte gerade die Hälfte meines Buches geschrieben, und ich hatte einen Vertrag unterschrieben. Wie sollte ich unter diesen Umständen jemals die restliche Hälfte schreiben? Bei der Aussicht, tagsüber Blätter zusammenzurechen und nachts am Schreibtisch zu sitzen, sträubten sich mir die Nackenhaare. Aber es blieb mir wohl nichts anderes übrig.

Wie ein Opferlamm saß ich am Montagmorgen vor dem freundlichen, seriösen Herrn des Sozialamtes, der mich anstrahlte, als würde er mir gleich ein Weihnachtsgeschenk präsentieren. In sonorem Bass erklärte er mir ein neu entwickeltes Projekt namens „Hilfe zur Arbeit“.

Hätten sie dieses Projekt nicht ein halbes Jahr später entwickeln können, fragte ich mich verzweifelt. Ich blieb stumm und wie gelähmt. Wie konnte ich diesen Mann nur davon überzeugen, dass ich keine geeignete Testperson für das neuentwickelte Projekt war und dass ich keine Hilfe zur Arbeit brauchte, sondern schon genug Arbeit hatte?

„Wir werden Ihnen ein ganzes Jahr lang ein angemessenes Gehalt bezahlen.“ Der seriöse Herr lächelte mir freundlich zu und wunderte sich offensichtlich, wieso ich ihm immer noch nicht um den Hals fiel. „Und auf diese Art und Weise kommen Sie endlich aus der Sozialhilfe heraus.“

Ein ganzes Jahr lang! Das war wahrhaftig noch schlimmer, als ich befürchtet hatte. Ich hatte auf eine Saisontätigkeit gehofft.

„Es handelt sich um eine Arbeit, die nicht so einfach ist, aber ich hatte Ihnen ja schon geschrieben, dass Sie verpflichtet sind, jede zumutbare Arbeit anzunehmen.“ Sein Ton wurde nun etwas strenger.

Dieser Mann hatte Erfahrung im Umgang mit Drückebergern, das merkte man sofort. Ich sank noch mehr in mich zusammen. Immer noch kam kein Wort über meine Lippen. Ich starrte ihn nur an wie ein hypnotisiertes Kaninchen kurz vor dem Todesstoß.

„Es handelt sich um eine Arbeit in einem Obdachlosenasyl.“

Ein Obdachlosenasyl! Was sollte ich in einem Obdachlosenasyl? Wahrscheinlich tagtäglich vollgekotzte Klos putzen! Ach Hauberg! Wäre ich doch nur bei dir geblieben!

Der seriöse Herr schien zufrieden damit zu sein, dass ich bei der Erwähnung des Obdachlosenasyls nicht sofort in Ohnmacht gefallen war. Er lächelte mich freundlich an. „Eine Stelle als Psychologin können wir Ihnen leider nicht anbieten. Sie werden dort als Sozialpädagogin arbeiten. Aber das ist doch fast das Gleiche, oder? Und Sie werden als Sozialpädagogin bezahlt, mit BAT IVB.“

Nun fiel ich tatsächlich fast vom Stuhl. Hier in diesem Sozialamt wurde mir eine hochqualifizierte und gutbezahlte Stelle angeboten, während immer noch sehr viele meiner ehemaligen Kommilitonen arbeitslos waren, sich mit irgendwelchen Jobs über Wasser hielten und sich die Finger an Bewerbungen wundschrieben. Jeder meiner arbeitslosen Kommilitonen wäre vor Freude an die Decke gesprungen. Aber sie waren auch keine Sozialhilfeempfänger, sondern arbeiteten für ihren Lebensunterhalt. Und mir wurde eine solche Stelle in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit auf dem Silbertablett präsentiert. Dieser Sozialstaat war wirklich absurd!

Bei mir kam keine Freude auf. Ich hatte einen Vertrag unterschrieben. Und nun sollte ich 40 Stunden in der Woche in einem Obdachlosenheim arbeiten, nachts mein Buch beenden und dann wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen?

„Haben Sie noch Fragen?“ Der seriöse Herr wurde allmählich etwas ungeduldig. Vermutlich fragte er sich, wie eine derart stumme und offensichtlich etwas minderbemittelte Person wie ich überhaupt ein Psychologiestudium mit Diplom abschließen konnte.

Die Sprache kehrte wieder zu mir zurück. Ich versuchte zu retten, was noch zu retten war. Vielleicht konnte ich wenigstens noch ein wenig Zeit für mich herausschlagen. „Wann muss ich anfangen?“

„Sie können ab sofort anfangen. Natürlich müssen Sie sich erst einmal dort vorstellen, und natürlich muss die Heimleitung zustimmen. Aber wenn das alles klar ist, können Sie sofort anfangen.“

Ich gab mir einen Ruck. „Sie sagen, ich kann sofort anfangen. Meinen Sie damit auch, ich muss sofort anfangen?“ Nur Mut, Regina! Mehr als ein Ja kann dir nicht passieren!

„Frau Dotzki, Sie sind Sozialhilfeempfängerin. Sie müssen jederzeit eine zumutbare Arbeit annehmen, das hatte ich Ihnen doch schon geschrieben.“ Nun wurde sein Ton wieder um eine Nuance schärfer. Papa verlor allmählich die Geduld mit seiner arbeitsunwilligen Tochter. „Sie wollen doch aus der Sozialhilfe heraus, oder?“

Was blieb mir nach dieser Suggestivfrage anderes übrig als brav zu nicken?

Auf einmal kam mir eine Idee: „Und was ist, wenn die Heimleitung nicht zustimmt?“

„Dann müssen wir etwas anderes für Sie suchen,“ war die Antwort, die erfreulichste Antwort des ganzen Vormittags.

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Beschwingt verabschiedete ich mich. Bei meinem schauspielerischen Talent sollte es mir doch nicht schwerfallen, die Heimleitung davon zu überzeugen, dass ich denkbar ungeeignet für eine Arbeit als Sozialpädagogin in einem Obdachlosenasyl war.

Den nächsten Tag verbrachte ich damit, mir zu überlegen, wie ich die Heimleitung eines Obdachlosenasyls am effektivsten abschrecken konnte. Die sicherste Methode war natürlich die, alkoholisiert zum Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Damit hätte ich mich für eine Arbeit mit Alkoholikern sofort disqualifiziert. Leider hatte ich nicht das geringste Faible für Alkoholexzesse. Das Vorstellungsgespräch sollte am nächsten Tag um 14.00 Uhr stattfinden, und allein bei dem Gedanken, schon morgens in Unmengen Alkohol trinken zu müssen, übergab ich mich fast. Nein, so weit musste ich hoffentlich nicht gehen. Es sollte genügen, mich als unmotivierte Schlampe zu präsentieren.

Vergnügt zog ich am nächsten Tag meine ältesten Jeans und meinen ältesten, löchrigsten Pulli an, beide Kleidungsstücke trug ich nur, wenn ich anderen beim Renovieren oder Umziehen half. Ich kämmte mich nicht, wusch mich nicht, schminkte mich nicht, und nachdem ich vor dem Spiegel einen grenzdebilen Gesichtsausdruck eingeübt hatte, schlurfte ich siegessicher gen Obdachlosenasyl. Es lag relativ zentral und bestand aus einem riesigen, verlotterten Altbau, der von der Modernisierungswelle Tübingens noch nichts mitbekommen hatte. Vor dem Gebäude lungerten einige zwielichtige Gestalten herum.

Als ich eintrat, schlug mir sofort der typische Geruch des Johannes-Heims entgegen, eine Mischung aus abgestandener Kohlsuppe, altem Zigarettenqualm, Käsesocken und Alkoholfahne. Kein Pförtner saß an der Eingangstür. Suchend sah ich mich um und ging in einen äußerst schäbig möblierten Raum, in dem einige abgewrackte Penner vor dem Fernseher saßen und ein weiterer Penner lustlos in die Ecke pinkelte. Wen konnte ich hier bloß fragen, wie ich zu Bruder Horcher kam? So hieß der Heimleiter. Es musste ein Ordensbruder sein.

Ich hatte mich gerade für den am wenigsten abgewrackten Penner entschieden, als die Tür aufging und in all die Hässlichkeit dieses schäbigen Raumes ein fast überirdisches Licht strahlte. Meine Augen fielen auf einen wunderschönen Mann, der aussah wie Jesus und der aus der Masse der ihn umgebenden und auf ihn einredenden Penner um Haupteslänge herausragte. Seine dunklen Locken fielen ihm etwas wirr auf den Hemdkragen, und seine großen, tiefblauen Augen sahen unwahrscheinlich gütig, aber auch etwas müde aus.

Wow, dachte ich. Und es war schon lange nicht mehr vorgekommen, dass ich beim Anblick eines Mannes ‚wow‘ gedacht hatte.

„Herr Renius, ich habe jetzt wirklich keine Zeit,“ sagte diese Lichtgestalt von Mann, die den Raum so schlagartig erhellt hatte. „Wir können später darüber sprechen. Ich muss jetzt wirklich dringend zu einer Besprechung.“

Das konnte nur ein Sozialpädagoge sein.

Er war tatsächlich Sozialpädagoge, und er wollte mich zu Bruder Horcher mitnehmen. Wir gingen durch endlose Gänge und zahllose Türen, und ich nutzte die Zeit, um diese überirdisch wirkende Lichtgestalt verstohlen von der Seite anzusehen. Meine Güte, war dieser Mann schön! Viel zu schön für so ein versifftes Heim! Vielleicht hatte er gerade deshalb diese Arbeit gewählt, in der Gewissheit, dass er an diesem hässlichen Ort alles andere überstrahlen würde. Aber dennoch machte er den Eindruck, als sei ihm seine Schönheit gar nicht bewusst oder gar nicht wichtig. Er ließ sich auch in kein persönliches Gespräch mit mir verwickeln und blieb mir gegenüber freundlich, aber kühl.

„Sagen Sie, was ist dieser Bruder Horcher für ein Typ?“, fragte ich neugierig.

„Wieso fragen Sie das? Sie werden ihn doch gleich selbst erleben. Am besten bilden Sie sich Ihr eigenes Urteil.“

Das saß. Ich fragte nichts mehr.

Wir traten in einen gemütlich möblierten Raum, und ich atmete auf. Offensichtlich gab es in diesem Heim auch freundliche Räume, zumindest für die Mitarbeiter. In einem Ledersessel saß ein älterer, stark übergewichtiger und glatzköpfiger Herr, der mich an einen Eunuchen erinnerte. Das musste Bruder Horcher sein. Auf zwei weiteren Ledersesseln saßen eine junge und sehr sympathisch aussehende Frau in Jeans, selbstgestricktem Pulli und Ökoschuhen und ein gemütlich wirkender und etwas rundlicher Mann mit dunklen Locken und Bart. Die drei anwesenden Personen führten gerade eine solch erhitzte Debatte, dass sie unser Eintreten gar nicht bemerkt hatten.

„Du willst also damit sagen, dass du diesem Hagebarth ohne meine Genehmigung das ganze Kleidergeld gegeben hast, damit er sich Arbeitskleidung kaufen kann? Und dass er mit dem Geld abgehauen ist?“, rief der Eunuch erbost.

Die junge Frau mit den langen blonden Haaren nickte zerknirscht. „Er hat mir gesagt, dass er die Stelle verliert, wenn er nicht sofort Arbeitskleidung mitbringt. Zuerst wollte ich die Arbeitskleidung mit ihm zusammen kaufen, und dann hat er gesagt: Eva, vertraust du mir denn nicht?“

Der etwas rundliche Mann gluckste in sich hinein. „Das kann ich mir bildlich vorstellen, wie dieser Hagebarth dich mit seinen großen braunen Augen treuherzig anguckt und sagt: Eva, vertraust du mir denn nicht? Und unsere liebe Eva hat sicherlich gesagt: Aber natürlich vertraue ich dir!“

„Du bist echt gemein, Klaus!“, konterte die Blondine.

„Bei so viel Unverstand fällt mir nichts mehr ein!“ Der Eunuch wurde rot vor Wut. „Wie soll ich das nur wieder verbuchen? Aber so was überlegt ihr euch ja nicht!“

Ich amüsierte mich köstlich und prustete los. Offensichtlich bestand die Belegschaft des Johannes-Heims nicht aus ausgebufften Profis, sondern aus Chaoten, aber aus durchaus sympathischen und liebenswerten Chaoten.

„Oh, wer sind Sie denn?“, fragte der Eunuch etwas beschämt.

„Das, Bruder, ist unsere neue Mitarbeiterin,“ sagte die Lichtgestalt von Mann. „Regina Dotzki.“

„Herzlich willkommen, Frau Dotzki.“ Der Eunuch stand auf und gab mir die Hand. Auch er hatte etwas sehr Gültiges in den Augen und etwas sehr Nettes in seinem Lächeln.

„Wie schön, eine Frau!“, jubelte die sympathische Eva. „Ich kann in diesem Chauvinisten-Team sehr gut weibliche Verstärkung gebrauchen.“

„Herzlich willkommen, Kollegin!“, lächelte auch der gemütliche Dunkelhaarige. „Wir waren schon alle sehr gespannt auf Sie!“

Nun hatte ich mich nicht gekämmt, nicht gewaschen und meine ältesten, löchrigsten Kleidungsstücke angezogen, und dennoch wurde ich so freundlich und herzlich begrüßt. Mir wurde sofort warm ums Herz. Es musste Spaß machen, mit solchen Kollegen zusammenzuarbeiten. In diesem schäbigen Obdachlosenasyl herrschte die liebevolle Atmosphäre einer Öko-WG.

Aber ich wollte die Stelle doch gar nicht, erinnerte ich mich.

Bruder Horcher beschrieb nun die Aufgaben, die ich als Sozialpädagogin im Johannes-Heim wahrzunehmen hatte: den Obdachlosen bei der Suche nach Arbeit und Wohnung zu helfen, Anträge beim Sozialamt für die Kostenübernahme zu stellen, Kleidereinkäufe zu machen, Wohngruppengespräche zu führen und Freizeitaktivitäten anzubieten.

„Von unseren weiblichen Mitarbeitern erwarten wir natürlich auch, dass sie unseren Heimbewohnern auch ein wenig Kompetenzen in punkto Haushaltsführung beibringen,“ endete er.

Die blonde Eva stöhnte entnervt: „Ja, ganz klar! Wir Frauen sollen den Männern beibringen, wie man kocht, wäscht und bügelt, und die männlichen Kollegen dürfen die Anträge ausfüllen!“

Ich lachte los.

„Verstehst du jetzt, wieso ich so glücklich über weibliche Verstärkung bin?“, fiel Eva in mein Lachen ein.

Eva war wirklich köstlich. Und die Arbeit klang nicht allzu schwierig.

„Keine Angst! Alles, was du nicht weißt, bringen wir dir bei,“ beruhigte Eva mich. „Ich freue mich jedenfalls sehr auf die Zusammenarbeit mit dir.“

„Sie werden bei Burkhard in der Schicht arbeiten. Burkhard hat bislang ganz allein in seiner Schicht gearbeitet und braucht dringend ein wenig Unterstützung.“

Burkhard war die Lichtgestalt. Mein Herz hüpfte. Halt, Regina, du willst die Stelle doch gar nicht, erinnerte ich mich.

„Eva und Klaus arbeiten in der anderen Schicht. Einen Tag in der Woche haben Sie frei, das heißt, Sie haben im Prinzip eine 4-Tage-Woche. Dafür müssen Sie alle fünf Wochen einen Wochenenddienst übernehmen. Sie können sich aussuchen, ob Sie lieber den Montag oder den Freitag freinehmen wollen.“

Mein Herz hörte gar nicht mehr auf zu hüpfen. Oh, welch optimale Arbeitsbedingungen für eine Frau mit einem Lover, der nur freitags konnte!

„Der Freitag wäre mir lieber,“ hörte ich mich sagen.

„Gut, nun wissen Sie alles,“ endete Bruder Horcher. „Haben Sie Interesse, bei uns zu arbeiten?“

Ich seufzte tief, aber nur innerlich. „Haben Sie denn Interesse, mit mir zu arbeiten?“

„Ich habe nichts gegen Sie einzuwenden. Sind Sie in der Kirche?“

Das war vielleicht meine Rettung! „Nein, ich bin schon vor Jahren ausgetreten.“

„Nun, wir sind ein christliches Heim und nehmen unseren christlichen Auftrag sehr ernst,“ klärte mich Bruder Horcher auf. „Wenn Sie eine feste Mitarbeiterin wären, dann würden wir Sie aus diesem Grunde ablehnen. Aber sie sind ja sozusagen ein Geschenk des Sozialamts.“

„Oder des Himmels,“ grinste Eva.

„Für mich persönlich ist es nicht wichtig, ob sie in der Kirche ist oder nicht. Wichtig ist doch eine christliche Grundhaltung,“ meldete sich zum ersten Mal die Lichtgestalt zu Wort. „Und Sie haben doch eine christliche Grundhaltung, oder?“

„Natürlich,“ hörte ich mich zu meiner eigenen Überraschung sagen. Wie hätte ich diesen wunderschönen Menschen enttäuschen können?

„Was meint ihr?“, fragte Bruder Horcher sein Team.

„Ganz klare Sache! Ich freue mich total auf dich!“, strahlte mich die nette Eva an.

„Ich finde sie auch sehr sympathisch. Ich denke, sie passt gut in unser Team,“ sagte der gemütliche Klaus. „Besonders sympathisch finde ich, dass sie nicht so aufgestylt ist wie so viele Frauen heutzutage. So etwas schreckt unsere Männer doch eher ab. Bei Regina dürften sie keine Berührungsängste haben.“

Und wieder einmal mehr hatte die Wahl meiner Garderobe nicht das beabsichtigte Ziel erreicht! Fast lachte ich los. Immer, immer, immer griff ich in Garderobefragen eklatant daneben!

„Ich habe auch nichts dagegen,“ sagte die Lichtgestalt Burkhard schon deutlich kühler.

„Und nun sind Sie dran. Wollen Sie?“, fragte Bruder Horcher. Im Raum war es still geworden.

„Wann sollte ich denn anfangen?“

„Wenn Sie wollen, können Sie gleich morgen anfangen.“ Das war genau die Antwort, die ich am meisten befürchtet hatte.

So ein sympathisches Team! Und so eine nette Arbeit, die nicht allzu arbeitsintensiv klang! Ich kannte genügend Sozialpädagogen, um zu wissen, dass ihre Arbeit in erster Linie darin bestand, in zahlreichen Teamsitzungen Kaffee zu trinken und über das Klientel zu diskutieren. Und ein solcher Arbeitsstil lag mir durchaus. Es war einfach nicht fair, diesen netten Menschen, die mich so herzlich empfangen und aufgenommen hatten, mit einer fadenscheinigen Begründung mitzuteilen, dass ich nicht bei ihnen arbeiten wollte.

Ich entschloss mich zur Ehrlichkeit. Wenn ich Pech hatte, konnte mich diese Ehrlichkeit meine Sozialhilfe kosten, aber wenn ich Glück hatte, dann konnte ich vielleicht sogar beides haben: diese Stelle und mein Buch.

„Ich würde wirklich sehr gerne bei Ihnen arbeiten. Ich habe selten ein Team auf Anhieb so sehr ins Herz geschlossen wie Sie alle. Ich habe nur ein Problem.“ Und dann erzählte ich von meinem Buch.

„Das ist allerdings ein dicker Hund!“, entrüstete sich Bruder Horcher. „Sie kassieren Sozialhilfe und sind gar nicht gewillt zu arbeiten?“

„Ich hätte das bestimmt nicht gemacht, wenn ich nicht in einer absoluten Notlage gewesen wäre,“ verteidigte ich mich. „Und ich würde mir auch sofort eine Arbeit suchen, sobald ich das Buch beendet habe. Ich bin wirklich kein klassischer Sozialhilfeempfänger, sondern habe bisher immer Wege gefunden, um meinen Lebensunterhalt selbst zu finanzieren. Aber es ist mir einfach unmöglich, neben einem Fulltime-Job das Buch zu Ende zu schreiben. Ich habe einen Vertrag unterschrieben. Ich muss es zu Ende schreiben.“

Alle vier sahen mich ernst an. Hinter den Köpfen arbeitete es.

„Gut,“ sagte Bruder Horcher. „Wie lange brauchen Sie noch, bis Sie das Buch beendet haben?“

„Vielleicht ein halbes Jahr?“

„Das geht auf keinen Fall! Schaffen Sie es auch in drei Monaten?“

„Vielleicht. Wenn ich richtig ranklotze, vielleicht.“

„Ach, Bruder, bitte ruf doch beim Sozialamt an und sage denen, dass wir Regina erst in drei Monaten einstellen wollen!“, bat Eva flehentlich.

„Das kann ich doch nicht machen!“, protestierte dieser. „Wie sieht das denn aus? Erst sage ich, wir brauchen sofort jemand, und dann erst in drei Monaten. Wie soll ich denn diese Meinungsänderung vor dem Sozialamt begründen?“

„Sag doch einfach, dass wir in drei Monaten ein neues Wohngruppenkonzept starten und erst dann personelle Unterstützung brauchen,“ schlug Burkhard vor. Burkhard war tatsächlich für mich eingetreten! Oh, welch ein spannender, sonniger Tag!

„Aber das ist doch gelogen,“ wand sich Bruder Horcher. „Ich darf doch nicht lügen!“

„Ach bitte, Bruder! Für einen guten Zweck darf man auch mal lügen. Vielleicht hat Gott Regina zu uns geschickt. Und ohne ihr Buch hätten wir sie nie kennengelernt. Das muss schon alles einen Sinn haben. Bitte ruf sofort beim Sozialamt an, ja?“ Das war natürlich Eva. Sie war wirklich reizend.

Bruder Horcher faltete die Hände und hob sie verzweifelt gen Himmel. „Herr, verzeih mir!“, sprach er und sah dabei so verschmitzt aus wie Don Camillo. Dann griff er beherzt zum Telefon. Er stotterte und war puterrot während des Telefonats, aber er schaffte es tatsächlich zu lügen.

„Es geht in Ordnung,“ sagte er hinterher sehr erleichtert. „Herr Ludwig war zwar äußerst erstaunt und ungehalten, er meinte, es sei eine Zumutung für Frau Dotzki, so lange warten zu müssen, wo man ihr doch sofort eine Stelle zugesagt hat…“

Wir prusteten alle auf einmal los, einschließlich Bruder Horcher. „Mein Gott, Leute, ihr bringt mich hier zu Sachen, die mich mein Seelenheil kosten können, wisst ihr das?“

Der Jubel war groß, auf allen Seiten. Ich hatte es geschafft. In drei Monaten durfte ich in diesem netten Chaotenteam anfangen. Und bis dahin musste ich schreiben, schreiben, schreiben!

Es ist unschwer zu erraten, worin in den folgenden drei Monaten meine Hauptbeschäftigung bestand: Ich schrieb und schrieb und schrieb und schrieb, ich schrieb Tag und Nacht bis zur Erschöpfung und bis zum Ruin meiner Bandscheiben. Und wenn ich nicht schrieb, wankte ich als geistesabwesende Hülle durch die Lande.

Das Schreiben war eine faszinierende, aber einsame Tätigkeit, die nur zu 10 % aus Kreativität und zu 90 % aus eiserner Selbstdisziplin bestand. Woher ich diese Selbstdisziplin nahm, war mir selbst ein Rätsel. Vielleicht war sie das Erbe meines ostpreußischen Vaters. Aber mit Sicherheit hätte ich dieses Buch niemals beendet, wenn meine Freundschaft zu Tina nicht gleichbleibend schlecht geblieben wäre. Ich ahnte, dass sich während meiner Zeit in Südostasien irgendetwas bei Tina entwickelt hatte, auf das ich keinen Einfluss mehr hatte. Die Zeit, in der wir früher geplaudert und diskutiert hatten, die Zeit, in der wir früher gemeinsam gelacht, gemeinsam gekocht und gemeinsam mit Freunden getafelt hatten, verbrachte ich nun an meinem Schreibtisch, und Tina hörte sich währenddessen in ihrem Zimmer die unmelodischen und frustrierten Gitarrenklänge von Jack an. Wie und warum das so gekommen war, konnte ich mir selbst nicht erklären.

Jack und Tina reisten nach Israel in Urlaub. Tina erhoffte sich von diesem Urlaub, dass Jack wieder in heiterere Stimmung kam. Ich konnte mir zwar beim besten Willen nicht vorstellen, dass Jack jemals in heiterer Stimmung sein konnte, aber ich sagte nichts. Es hatte keinen Sinn mehr, Tina noch irgendetwas zu sagen. Die Aggressionen, die Jack in ihr auslösen musste, ließ sie nicht an Jack aus, sondern an jeder Person, die es wagte, ihn zu kritisieren.

Tina bezahlte den Flug für beide. Und Tina kehrte von diesen 14 Tagen mit noch unglücklicheren Augen als vorher zurück. Ich konnte ihr Leiden weder verstehen noch ertragen. Und ich konnte auch Jacks gleichbleibend griesgrämiges Gesicht nicht mehr ertragen. Selbst der Anblick meines Schreibtisches stimmte mich froher als der Anblick von Jack. Ich hasste den Mann regelrecht, ich hasste ihn für das, was er aus meiner lebensfrohen Freundin gemacht hatte.

Und ich wagte doch noch ein weiteres Gespräch mit ihr.

„Und, wie war der Urlaub?“, fragte ich sie vorsichtig in meinem Zimmer. Ich war gegenüber Tina nur noch vorsichtig. Sie konnte bei jeder Kleinigkeit explodieren.

„Nicht schön,“ sagte sie, und die Tränen traten ihr in die Augen.

„Was ist passiert?“, fragte ich sie ernst.

„Weißt du,“ sie setzte sich zum ersten Mal seit Monaten wieder auf mein Sofa, während Jack wie immer in ihrem Zimmer missmutig auf der Gitarre klimperte, „Jack weiß nicht, wie er zu mir steht. Und weil er das nicht weiß, weiß er nicht, wie das mit uns weitergehen soll. Er weiß eben nicht, ob er mich liebt oder nicht.“ Sie weinte.

Leider konnte ich meine rasende Wut auf Jack nicht länger im Zaum halten. „Was weiß der Kerl denn überhaupt? Mein Gott, Tina, komm zu dir! Jack müsste vor Dankbarkeit auf die Knie sinken und die Erde küssen, wenn eine Frau wie du ihn nur anschaut! Und stattdessen jault und jammert er, dass er nicht weiß, ob er dich liebt? Das ist doch das Absurdeste, was ich jemals gehört habe! Meine Güte, Tina, du hast so viele Männer gehabt, die dich über alles geliebt haben und die wirklich nett waren! Was um Himmels Willens findest du nur an dieser Pfeife von Jack? Sag es mir endlich!“

Tina sah mich mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. „Ja, für dich ist immer alles ganz einfach. Schwarz oder weiß. Wenn ein Mann nicht weiß, ob er mich liebt, dann ist er eben ein Idiot. Aber es ist nicht so einfach. Jack leidet wirklich sehr darunter, dass er nicht weiß, wie er zu mir steht. Und das macht ihn auch sehr traurig. Aber es ist nun einmal so.“

Mir platzte nun endgültig der Kragen. „Und wie lange gedenkt Jack, hier noch weiter auf unsere Kosten herumzuhängen und über die interessante Frage nachzugrübeln, ob er dich nun liebt oder nicht? Monate? Jahre? Jahrzehnte?“

Tina stand auf. „Ich wusste es. Es hat keinen Sinn, mit dir darüber zu reden.“

„Tina, bitte, es geht mir wirklich nur um dich. Dein ganzes Elend mit Jack macht mich wirklich traurig. Stell ihm doch einfach ein Ultimatum! Gib ihm einen Monat, dann muss er sich entschieden haben, ob er zu dir steht oder nicht. Und wenn er es dann immer noch nicht weiß, dann schmeiß ihn raus! Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!“

„Es hat wirklich keinen Sinn, mit dir darüber zu reden.“ Mit hängendem Kopf ging Tina zur Tür.

„Tina, ich verstehe dich einfach nicht mehr,“ gab ich verzweifelt von mir. „Ich kenne dich seit über 20 Jahren, und noch nie warst du mir so fremd wie in der letzten Zeit. Beantwortete mir bitte nur noch diese einzige Frage: Was um Himmels Willen hat dieser Jack an sich, dass du so sehr dein Herz an ihn hängst? Er ist nicht nett, er ist nicht unterhaltsam, er hat keinen Humor, er sieht nicht einmal gut aus, er hat keinen Job, er weiß nicht, was er will, und er liebt dich nicht einmal! Denn wenn man jemanden liebt, dann weiß man das, da braucht man doch nicht lange drüber nachdenken! Also sag es mir jetzt endlich, damit ich dich besser verstehen kann: Was - ist - es?“

„Ich weiß es nicht genau,“ sagte Tina zögerlich. „Aber ich liebe ihn einfach. Wenn er mich in die Arme nimmt, dann bin ich einfach nur glücklich.“

Ich kochte vor Wut „Hör doch auf, dir und mir was vorzumachen! Der Sex kann‘s nicht sein. Ich habe in all den Jahren schon Einiges aus deinem Zimmer gehört, aber noch niemals eine solche Grabesstille wie bei Jack.“

Tina wurde knallrot. Aber wenigstens lief sie nicht gleich wieder zur Tür. „Weißt du, das war am Anfang anders. Aber dann wollte Jack von mir wissen, wie viele Männer ich vor ihm gehabt habe, und die Zahl hat ihn schockiert. Seitdem hat er da etwas Schwierigkeiten.“

Ich grinste. Das konnte ich mir lebhaft vorstellen! Dieser griesgrämige Moralapostel! „Wahrscheinlich hält er dich jetzt für einen Ausbund an Unmoral und unfähig zur Monogamie. Hast du ihm denn nicht erklärt, dass deine nymphomane Phase nur eine Reaktion auf den Schmerz um Peter war?“

„Doch, aber das hat er mir nicht geglaubt. Er glaubt jetzt, dass ich von Natur aus so bin, und er sagt, es ekelt ihn, wenn er nur daran denkt. Und er denkt immer daran, wenn er mich berührt.“ Die Tränen traten ihr nach diesem Geständnis schon wieder in die Augen.

Ich war fassungslos. „Also berührt er dich jetzt nicht mehr, als Strafe für deine Unmoral! Oh, Tina!“

„Ich würde ihm so gerne beweisen, dass ich im Grunde ganz anders bin.“ Tina weinte jetzt endgültig. „Aber er gibt mir keine Chance!“

„Das ist doch einfach nicht zu fassen!“ Angewidert schüttelte ich den Kopf. „Mein Gott, das ist deine Vergangenheit, und sie gehört zu deinem Leben. Was erwartet der Mann denn? Etwa eine Jungfrau? Da muss er sich dann schon eher an seine Schülerinnen halten als an eine gestandene Frau.“ Mir kam auf einmal eine Idee. „Sag mal, kann es sein, dass Jack sich vielleicht an einer Schülerin vergriffen hat und deshalb die Kündigung bekam?“

Tina japste empört auf. „Niemals würde Jack so etwas tun!“

„Wieso nicht?“, hakte ich nach. „Wo er doch offensichtlich so auf Jungfrauen steht? Und ich sage dir eines: Als Lehrer kann man sich wirklich so allerlei erlauben. Wenn man als Lehrer fristlos gekündigt wird, muss schon etwas sehr Gravierendes vorgefallen sein. Wie Unzucht mit Abhängigen zum Beispiel.“

„Niemals würde Jack so etwas tun!“, beharrte Tina.

„Und warum sagt er dann keinem, warum er gefeuert wurde?“, fuhr ich unerbittlich fort. „Und warum spielt er sich dann hier als Moralapostel auf? Menschen, die sich über die Moral anderer aufregen, haben doch meistens selbst Dreck am Stecken. Im wahrsten Sinne des Wortes.“ Ich grinste. Das Wortspiel gefiel mir.

Tina schwieg trotzig. Ich vertiefte das Thema nicht weiter.

„Und jetzt sage mir nur noch eines,“ bat ich sie, „und dann lasse ich dich auch in Ruhe: Könnte es vielleicht sein, dass du Jack nur deshalb so sehr liebst, weil er dich nicht liebt?“

Die Wut verschlug Tina die Sprache.

„Nimm es mir bitte nicht übel, was ich dir jetzt sage,“ fuhr ich fort und sah sie eindringlich an, „aber ich glaube wirklich, dass du Jack nicht realistisch wahrnimmst. Irgendetwas muss damals mit dir passiert sein, als Peter dich verlassen hat. Hältst du dich nicht mehr für liebenswert? Bist du der Meinung, dass nur biedere Jungfrauen es wert sind, geliebt und geheiratet zu werden, oder was? Wie kann es denn nur möglich sein, dass du dich in den ersten Mann deines Lebens verliebst, der dich nicht liebt? Erkläre mir das bitte! Ich begreife es einfach nicht.“

Tina schwieg immer noch.

„Du bist auf dieser Schiene festgefahren,“ machte ich weiter, obwohl ich wusste, dass Tina mir meine Worte niemals verzeihen würde, „da ist ein Mann, der mich nicht liebt, also muss ich mich furchtbar anstrengen, damit er mich doch noch liebt. Etwas anderes nimmst du gar nicht mehr wahr. Glaube mir, wenn Jack bis über beide Ohren in dich verliebt wäre, würdest du sehr schnell feststellen, wie langweilig und uninteressant er in Wirklichkeit ist.“

„Hör auf mit diesem Scheiß!“, schrie Tina, und die Tränen liefen unaufhörlich über ihre Wangen. „Psychokram, Psychokram, Psychokram! Ja, damit konntest du immer wunderbar manipulieren! Du willst nur Jack und mich auseinanderbringen, aber das schaffst du nicht, auch nicht mit solchen Methoden! Ich liebe Jack, ob es dir nun passt oder nicht, und ich wäre überglücklich, wenn er mich auch lieben würde. So, und das war das letzte Mal, dass ich mit dir über Jack gesprochen habe. Hätte ich es bloß nicht getan! Es war schon illoyal ihm gegenüber, dass ich mir so einen Mist von dir überhaupt angehört habe! Es hat wirklich keinen Zweck mehr, Regina!“

Es hatte wirklich keinen Zweck mehr. Unsere Freundschaft lag in den letzten Zügen. Diese traurige Tatsache hatte nur einen einzigen Vorteil: Ich hatte genügend Zeit, um mein Buch wirklich zu beenden.

Als ich an den letzten Kapiteln saß, blass, übernächtigt und restlos erschöpft, kam Tina noch einmal überraschend in mein Zimmer, was seit unserem letzten Gespräch nicht mehr vorgekommen war. Ein lähmendes Schweigen zwischen uns war zum Dauerzustand geworden. Und ich schrieb gegen die Trauer in mir an. Ich schrieb und schrieb und schrieb und schrieb. Und meistens dachte ich in dieser Zeit gar nicht an Tina.

„Ich muss mit dir reden,“ sagte sie ernst in die Wogen meines mit Sextourismus absorbierten Gehirns.

„Du siehst, ich habe zu tun,“ erwiderte ich.

Gerade jetzt war ich nicht in der Stimmung, ein klärendes Gespräch zu führen. Zu Vieles lag zwischen uns. Wenn wir wirklich etwas klären wollten, so würde das Wochen dauern. Und genau diese Wochen Zeit hatte ich einfach nicht. Und solange Tina diesen absonderlichen Jack mit vollkommen unkritischen Augen weiterliebte, würden wir wohl kaum jemals wieder auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner kommen.

„Es dauert auch nicht lange,“ sagte Tina, Tina, die mittlerweile wie eine 40-jährige verhärmte und biedere Hausfrau aussah.

„Gut, dann setz dich! Ich schreibe eben noch den Satz zu Ende, ja?“

Tina setzte sich auf mein Sofa, und ich drehte mich nach einer Weile auf meinem Schreibtischstuhl zu ihr um.

„Regina, ich werde mit Jack nach New York gehen. Mittlerweile weiß es jeder, also dachte ich, du solltest es auch allmählich erfahren.“

„So?“, fragte ich nur. Aber mein Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz. Tina würde fortgehen, mit Jack. Und ich hatte immer noch ein kleines Fünkchen Hoffnung gehabt, dass dieser Albtraum mit Jack irgendwann einmal ausgeträumt sein würde, und dass wir nach dem Ende meines Buches und nach dem Ende mit Jack wieder so friedlich und lustig wie vorher zusammenleben konnten.

„Ja,“ lächelte sie erleichtert. „Jack hat sich endlich für mich entschieden.“

„Wie edel von ihm!“ Ein wenig Spott konnte ich mir nicht verkneifen.

„Wir werden nächste Woche diese Wohnung verlassen.“

Nächste Woche schon? Oh, wie das schmerzte! Aber ich zeigte es nicht.

„Na denn, herzlichen Glückwunsch! Das war es doch, was du immer wolltest: dass Jack endlich zu dir steht. Und wenn er wirklich der Mann ist, mit dem du dein Leben verbringen willst, nur zu!“

„Ja, das ist er. Ich glaube, wir werden sehr glücklich werden. Jack hat in New York eine Stelle angeboten bekommen. Wir werden in New York heiraten, denn sonst bekomme ich Schwierigkeiten mit der Aufenthaltsgenehmigung.“

Tina sah nicht im Geringsten wie eine glückliche Braut aus. Sie wirkte so gequält wie noch nie in ihrem Leben.

Tina, tu‘s nicht, wollte ich schreien. Ich wollte sie schütteln, ich wollte sie ohrfeigen. Tina, komm bitte endlich zu dir und werde wieder die fröhliche, wunderschöne und selbstbewusste Frau, die du vorher warst! Und heirate nicht diesen griesgrämigen Menschen, der dich jetzt schon so unglücklich macht! Ich sagte es nicht.

„Na, dann kann man euch ja wohl nur gratulieren,“ sagte ich stattdessen kühl.

Tina holte tief Luft. „Und ich wollte dir noch etwas sagen: Mitausschlaggebend für meine Entscheidung, mit Jack nach New York zu gehen, warst du. Ich finde es einfach unerträglich, mit dir zusammenzuleben. Das fand ich eigentlich schon immer. Bloß bisher habe ich es nicht so gemerkt. Erst in der letzten Zeit ist mir das richtig bewusst geworden.“

Ihre Worte trafen mich wie glühende Giftpfeile mitten ins Herz. Ich war zutiefst getroffen und verletzt. Oh, Tina, was um alles in der Welt ist nur aus unserer Freundschaft geworden, wollte ich sie fragen. Was war passiert, dass jetzt solche Worte fallen konnten? Ich fragte es nicht.

„Gut, nun hast du es gesagt, und ich habe es zur Kenntnis genommen. Sonst noch etwas?“, fragte ich stattdessen kühl, sehr kühl.

„Nein, das war‘s eigentlich. Ach doch, vielleicht noch etwas.“ Tina war blass, sehr blass. Das Gespräch schien sie über alle Maßen anzustrengen. „Jack ist auch der Meinung, dass du auf mich einen moralisch schlechten Einfluss ausgeübt hast. Das ist auch mit ein Grund, weshalb er mich hier nicht alleine zurücklassen will. Vielleicht sogar der Hauptgrund.“

Ich schnappte nach Luft. „Wie edel von ihm! Hat Jack nun endlich einen Sündenbock für deine Unmoral gefunden? Nämlich mich? Und nun will er dich vor meinem schlechten Einfluss schützen? Da fällt mir wirklich nichts mehr ein!“

„Nun ja, Jack hat ja lange genug mitbekommen, was hier los ist, freitags Armin und am Wochenende Sebastian, und das hat ihm alles sehr missfallen. Mir übrigens auch.“

„Das kann ich mir lebhaft vorstellen, dass ihm das missfallen hat. Aber findest du nicht, dass es Jack einen feuchten Kehricht angeht, wie und mit wem ich meine Zeit verbringe? Solange ich es nicht mit ihm tue? Und das liegt mir wirklich mehr als fern!“

Tina seufzte. „Du bist eben so geblieben, wie du bist, Regina, und ich habe mich eben weiterentwickelt. Es passt einfach nicht mehr mit uns. Ich wünsche dir trotzdem noch viel Glück in deinem Leben. Wir werden uns wahrscheinlich niemals mehr wiedersehen.“

Nach diesen Worten stand ich nun endgültig kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Aber ich zeigte es nicht. Ich schluckte schwer an ihren Worten.

„Gut, Tina, ich wünsche dir auch viel Glück in deinem Leben. Hast du nun alles gesagt? Ich würde nämlich wirklich gerne weiterarbeiten.“

„Ja, ich habe alles gesagt.“ Tina stand unschlüssig an meiner Zimmertür.

Geh, geh, geh, Tina, wollte ich sagen. Geh, und lass mich endlich in Ruhe heulen! Ich sagte es nicht.

„Und worauf wartest du dann noch? Ich würde wirklich gerne weiterarbeiten,“ sagte ich stattdessen.

Heulen wollte ich, schreien wollte ich, ich wollte diese entsetzlichen Giftpfeile aus meinem Herzen herausziehen und den Schmerz aus mir herausheulen. Aber keiner sollte mich dabei sehen.

Tina stürzte in ihr Zimmer und weinte, ich hörte es deutlich neben Jacks dissonanten Gitarrenklängen. Und ich stürzte in mein Bett und weinte, aber ich erstickte jeden Laut im Kopfkissen. Keiner, weder Tina noch dieser grässliche Jack, sollte jemals erfahren, wie sehr mich diese Trennung von Tina schmerzte.

Als der Schmerz nach zwei Wochen etwas nachgelassen hatte und mein analytischer Verstand wieder funktionsfähig wurde, fragte ich mich, ob ich Tina wirklich so schlecht gekannt hatte, dass ich nur ihre schillernde, faszinierende Oberfläche wahrgenommen hatte und nicht die ängstliche, masochistische und biedere Seite, die offensichtlich auch in ihr steckte. Vergeblich durchforstete ich mein Gedächtnis, doch mir fielen keine Situationen, keine Momente in der Vergangenheit ein, die auf eine solche Entwicklung von Tina hingedeutet hätten. Tina war immer ein Mensch gewesen, der mit Freude aus der Reihe tanzte und gerne auffiel. Wie meine Mutter und meine Oma war sie eine Löwe-Frau und mit diesem unerschütterlichen Löwe-Selbstbewusstsein von ihrem eigenen Wert überzeugt. Wie konnte es nur möglich sein, dass das Selbstbewusstsein einer solchen Frau derart auf den Tiefpunkt gelangte wie bei Jack?

Ein kleiner Trost war für mich, dass ihre Eltern genauso schockiert über Tinas Entwicklung waren wie ich.

„Tina ist von Monat zu Monat unglücklicher geworden,“ berichtete ihre Mutter traurig eine Woche nach Tinas Abflug, als ich sie besuchte. „Es fing an, als du in Südostasien warst, da war sie schon nicht mehr die Alte. Und dann lernte sie diesen Jack kennen, und dann wurde es immer schlimmer. Ach, Regina, sei froh, dass du keine Kinder hast! Was meinst du, wie es uns das Herz bricht mitzuerleben, wie das eigene Kind in sein Unglück rennt, und nichts dagegen tun zu können. Es war nicht mehr möglich, mit ihr ein vernünftiges Gespräch zu führen. Tina hat auch zu uns völlig den Kontakt abgebrochen, wir wissen nicht einmal, ob sie heil in New York angekommen ist, wir haben nicht einmal ihre neue Adresse. Womit haben wir das verdient, Regina? Das Einzige, was wir getan haben, wir haben Jack ein paar kritische Fragen gestellt. Darf man das nicht als Eltern, die sich Sorgen machen? Wir wissen nicht, wie es ihr im Moment geht. Niemals hätte ich gedacht, dass sie uns so etwas einmal antun wird.“

Tinas Eltern war das gleiche Schicksal widerfahren wie mir. Ihre Mutter weinte. Ich nahm sie in den Arm und weinte mit ihr.

Jack brought out the worst of her, das zumindest stand für mich nach dem Gespräch mit ihrer Mutter fest.

Ich hatte die beste Freundin verloren, die ich jemals gehabt hatte, und ich war unendlich traurig. Ich war ehrlich genug, mir einzugestehen, dass ich nicht die unglücklich liebende, biedere Frau vermisste, die sie geworden war, aber ich vermisste die Tina von früher mit ihrem schallenden Lachen, ihrem unvergleichlichen Witz und ihrer faszinierenden Ausstrahlung, und diese Tina gab es nicht mehr.

Zwei Wochen lang konnte ich nach unserem letzten Gespräch keinen einzigen Satz mehr schreiben. Ich befand mich in einer Art Schockstarre. In der Woche bis zu ihrem Abflug tat ich zwar so, als ob ich arbeitete, ich saß aber nur am Schreibtisch, starrte fassungslos vor mich hin und hörte, wie Tina emsig packte und ihre Möbel verkaufte, während Jack nach wie vor auf der Gitarre klimperte, als ob ihn das alles nichts anginge.

Dass ich meine einzigartige, wunderbare Freundin verloren hatte, war der größte Schlag in meinem bisherigen Leben. Ich hätte sie gehen lassen können, wenn ich gewusst hätte, dass sie mit einem wirklich netten und liebenswerten Mann nach Amerika ziehen und dort viele spannende Abenteuer erleben würde, die sie mir regelmäßig schreiben konnte. Auch von Sabine hatte ich mich ohne größere Probleme trennen können und freute mich stets über ihre Briefe aus Argentinien. Aber dass Tina mit einem Mann wie Jack fortging, der sie mit Sicherheit nicht glücklich machen würde, war für mich einfach nicht fassbar.

Ohnmächtig sah ich zu, wie Tina am Tag ihres Abflugs mit Jack und einem Haufen Koffer in ihrem leergeräumten Zimmer stand.

„Lebewohl, Regina,“ sagte sie leise.

„Lebewohl, Tina,“ sagte ich leise.

Und dann ging sie. Kein Wort der Versöhnung war gefallen. Nur die Tür knallte ein letztes Mal hinter ihr zu. Tina hatte alle Brücken zwischen sich und der alten Heimat zerschlagen. Es war etwas geschehen, was wir beide niemals für möglich gehalten hätten: An einem Mann war unsere 20-jährige Freundschaft zerbrochen.

Der helle Wahnsinn geht weiter

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