Читать книгу Mysterien der Zeit - Regina Mengel - Страница 5
Prolog
Оглавление„Ich möchte lieber Karos“, bat das kleine Mädchen und wies auf ein rot-schwarz gemustertes Kleid, das an einer Puppe im Schaufenster hing. Die Frau an ihrer Seite runzelte die Stirn.
„Einfältiges Balg“, sagte sie schließlich. In ihrer Stimme lag Kälte. „Auch du wirst Schwarz tragen, wie es sich gehört.“ Sie umfasste die Hand des Kindes mit festem Griff und stieß es durch die Tür in das Kaufhaus.
An diesem Morgen titelte die Bildzeitung: „Das Drama von Köln! Familienvater stürzte sich vom Kirchturm!“
Drei Tage später versammelte sich die Trauergesellschaft um die Grabstelle, während der Sarg in das Erdloch abgelassen wurde. Am Rand der Grube stand die Frau. Stumm betrachtete sie die Anwesenden. Ein zufriedener Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Neben ihr starrte das Mädchen in die Dunkelheit des Grabes. Ein schwarzes Kleid umhüllte ihre magere Figur. Vor dem Hintergrund des Sonnentages wirkte sie beinahe wie ein Scherenschnitt.
Als das Mädchen die Hände vor die Augen schlug, entglitt ihr ein Taschentuch. Langsam schwebte das Tuch zu Boden. Zugleich sackte das Kind in sich zusammen. Ein Schrei durchbrach die Stille. Die Trauergäste scharten sich um die kleine Gestalt. Nur die Frau rührte sich nicht. Niemand bemerkte den Ausdruck, mit dem sie zu ihrer Tochter hinüber blickte - niemand, außer dem Mädchen selbst.
Als viele Stunden später die Nacht herein brach, schleppte sich das Mädchen allein die Treppe des Hauses hinauf, das sie von nun an nur noch mit ihrer Mutter teilte. Sie trat in ihr Zimmer. Auf der Bettkante sackte sie zusammen. Lange blieb sie so sitzen. Sie hielt eine Spieluhr im Arm, und während die Musik spielte, schaukelte sie mit dem Oberkörper vor und zurück. Immer wieder drehte sie den Schlüssel und immer wieder erklang die vertraute Melodie „Guten Abend, gute Nacht …“ Wie gern hätte das Mädchen den Vater umarmt, ihm einen Kuss auf die Wange gegeben, aber gleichgültig wie lange sie dort saß, der Vater kam nicht. Er käme nie wieder, das wusste sie und doch verweigerte ihre Seele diese Erkenntnis. Sie flüsterte ein paar Worte, die nur für die Ohren ihres geliebten Papas bestimmt waren. Schließlich stellte sie die Spieldose auf den Nachttisch und kroch unter die Decke. „Morgen früh, wenn Gott will …“
Sie träumte wie so oft in den letzten Nächten. Stets sah sie die gleichen Bilder, die immer gleichen Menschen bei den immer gleichen Verrichtungen, doch was sie sah, verstand sie nicht.
Eine dunkelhaarige Frau kniete in einer marmornen Halle. Vor ihr standen zwei Sessel, auf denen ein Mann und eine Frau von ebenmäßiger Schönheit Platz genommen hatten. Allein durch die Anwesenheit dieser beiden Personen schien die Halle zu erstrahlen.
Der Mann winkte die Kniende zu sich. Er sprach auf sie ein, aber die Worte verwehten, bevor das Kind sie hätte verstehen können. Es lauschte angestrengt, und wie zur Belohnung vernahm es das Ende der Rede.
„Du wirst dich unserer Begegnung niemals erinnern, doch wenn es so weit ist, wirst du deine Aufgabe erkennen. Du wirst keine Fragen stellen, sondern sie bereitwillig unterstützen, sie Gerechtigkeit und Vertrauen lehren. So soll dir unsere ewige Dankbarkeit gewiss sein. Nun gehe in Frieden und behalte alles, was ich dir offenbarte, verborgen in deinem Herzen, bis zu dem Tag, an dem sie zu dir kommt.“
Kurz darauf änderte sich das Bild. Immer noch sah das Mädchen die marmorne Halle und ihre über die Maßen schönen Bewohner. Aber dieses Mal stand eine blonde Frau vor den Sesseln. Sie wirkte trotzig und schien mit den Schönheiten zu argumentieren.
Das Kind konzentrierte sich auf die Worte, doch auch dieses Mal verstand es sie nicht. Es blieb ihm nur die Szene zu beobachten. Sie stritten, immer wieder schüttelte die blonde Frau mit dem Kopf. Nur nach und nach verebbte ihr Widerstand.
„Es geht ihr wie mir“, dachte das Mädchen. „Sie lassen ihr keine Wahl.“ Ohne es erklären zu können, fühlte sie sich der blonden Frau nahe. Sie spürte, dass sie ein Schicksal teilten.
Die Träume vergingen und das Kind fiel in tiefen Schlaf. Als es am Morgen erwachte, waren die Bilder wie stets verblasst. Nur Erinnerungsfetzen blieben zurück.