Читать книгу Mysterien der Zeit - Regina Mengel - Страница 8

3. Köln, 2010 - 16. bis 18. September

Оглавление

Donnerstag, 16. September

Die Uhr zeigte Eins. Michael Chlodwig gähnte, die Müdigkeit ließ sich nicht länger ignorieren. Seit Stunden durchforstete er die Fachliteratur nach Anhaltspunkten, die ihn bei diesem Fall weiterbringen würden. Er hatte es gleich erkannt, als er Anna Koudras kennengelernt hatte: Dies war der Fall, der ihn berühmt machen könnte. Er nahm ein weiteres Buch zur Hand und versuchte sich noch einmal zu konzentrieren.

Es störte ihn nicht, dass er in keinem der Fachbücher eine Entsprechung für das Krankheitsbild seiner Patientin finden konnte, im Gegenteil. Er lächelte versonnen, lehnte sich zurück und legte den Kopf in die geöffneten Hände. Bald schon könnte sein Traum in Erfüllung gehen.

Welche Headline wollte er der Veröffentlichung geben? „Borderline für Fortgeschrittene?“ Das gefiel ihm. Dennoch verwarf er den Titel bald: Zu arrogant! Michael achtete stets darauf, respektvoll mit den Kollegen umzugehen, er kannte die empfindliche, psychiatrische Seele.

„Die grenzüberschreitende Persönlichkeitsstörung - neue Erkenntnisse nach Dr. Michael Chlodwig.“ Er ließ die Zeile nachklingen, nicht zu aufdringlich, sehr gefällig. Borderline war nicht nur enthalten, sondern es ging dank der deutschen Sprache darüber hinaus. Sein Name im Titel machte was her. Vielleicht sollte er ein Buch schreiben. Er könnte zuerst ein Fachbuch veröffentlichen und im Anschluss einen Ratgeber für Normalsterbliche. Ein Tagtraum schlich sich in Michaels Gedanken. Er sah sich als Gast in der NDR Talkshow. Gerade erklärte er sein Verfahren. Anna - er nannte sie im Stillen bereits bei ihrem Vornamen - begleitete ihn, um den Zuschauern zu berichten, wie großartig er ihr geholfen hatte.

Er richtete sich auf seinem Stuhl auf, strahlte in die Kameras und beschrieb mit dem Arm einen Bogen, hin zu der Frau, die ihn in wenigen Minuten öffentlich lobpreisen sollte. Blitzlichtgewitter flammte auf, vor seinen Augen explodierten tausend Lichtpünktchen, doch er lächelte tapfer. Nun wandte er sich der Moderatorin zu. Sie erlag dem Charme seiner Erscheinung sofort. Kokett senkte sie die Wimpern, ehe sie ihn mit blauen Augen fixierte, als wolle sie ihm eine wortlose Nachricht senden. Michael verstand diese Nachricht.

Das Interview lief glänzend. Die Gäste hingen an seinen Lippen und er ließ sich feiern. Solch talentierte Psychiater gebar die Schöpfung nicht alle Tage. Hier saß der Held der Stunde, ach was, der Held einer ganzen Epoche.

Der Tagtraum verging. Zurück blieb eine Vorahnung des Erfolges, ein Rausch, dem Michael sich gerne hingab, er kostete jede Sekunde aus. Um dieses Hochgefühl zu erreichen, war er bereit, alles zu tun, er verzehrte sich nach dem Kick des Erfolgs.

Ein zweites und ein drittes Mal durchforstete er die Fakten. Zwar schien es eindeutig, dass er eine unbekannte Borderline-Variante entdeckt hatte, doch noch blieben zu viele Fragen offen. Er musste etwas übersehen haben. Im Grunde passten Annas Symptome nicht zum klassischen Krankheitsbild, obwohl ihre Wunden auf selbstverletztendes Verhalten hindeuteten.

Je länger er grübelte, desto mehr schwand seine Zuversicht. Er rechnete Anna dem unsicher-vermeidenden Bindungstyp zu, einem Typus, der nahe emotionale Beziehungen eher abwertete und im Grunde nicht zu brauchen schien. Auch die frühkindliche Ablehnung, die sie durch die Mutter erfahren hatte, deutete darauf hin. Die Borderline-Persönlichkeits-Störung wurde durch einen unsicher-ambivalenten Bindungstyp charakterisiert. Doch Anna klammerte sich nicht an Bindungspersonen, vielmehr prägten fehlenden Bindungen ihr Leben.

Noch eine weitere Unstimmigkeit bereitete Michael Kopfzerbrechen. Anna zog sich die Wunden nicht wissentlich zu. Die Selbstverletzungen bedeuteten für gewöhnlich eine Entlastung für den Patienten. Die Verwundung ließ den übergroßen, angestauten Druck ab, konnte aber auch der Selbstbestrafung dienen oder dem Wunsch nach Aufmerksamkeit entspringen. Alle Motive jedoch setzten voraus, dass der Patient die Verletzungen bewusst und gezielt herbeiführte, da sonst nur ein bedingter Nutzen erreicht werden konnte.

Michael prüfte die Symptome ein weiteres Mal. Es gelang ihm einfach nicht, eine Verbindung zu Annas Krankheitsbild herzustellen. Er kam selbst dann zu keinem verwertbaren Ergebnis, als er sich die Fakten ein wenig zurechtbog. Wieder zwang ihm der Körper ein Gähnen auf. Er konnte sich nicht länger konzentrieren. Schließlich schlug er die Bücher zu und ging frustriert zu Bett.

Er schlief schlecht in dieser Nacht. Kaum war er eingeschlafen, schlüpften seine Gedanken in Nagelstiefel und stapften seine Gehirnwindungen hinauf. Immer wieder erwachte er. Gegen fünf Uhr früh begann er in Erwägung zu ziehen, dass Anna ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Vermutlich wagte sie nicht, zuzugeben, wenn sie selbst Messer oder Stacheldraht ansetzte. Je länger er darüber nachdachte, desto logischer erschien ihm diese These. Sie belog ihn. Wahrscheinlich nicht vorsätzlich, sondern sie verdrängte die Erinnerungen. Eine andere Lösung gab es nicht.

Irgendwann in dieser Nacht war er zwar doch noch eingeschlafen, dennoch fühlte er sich wie zerschlagen, als er am nächsten Morgen die Praxis betrat. Während der Sprechstunde gelang es ihm kaum, sich auf die Patienten zu konzentrieren. Ununterbrochen lenkte ihn die Frage ab, ob Anna bewusst log.

Es war bereits Mittag und er kam der Antwort keinen Schritt näher. Seine Laune und seine Konzentrationsfähigkeit sanken von Minute zu Minute. Er erwischte sich sogar dabei, Herrn Müller ein falsches Medikament zu verschreiben. Zum Glück bemerkte Michael es, ehe der von schweren Depressionen gebeutelte Mann die Praxis verließ. Es entstand eine peinliche Situation, als Michael dem Patienten bei der Verabschiedung routinemäßig das Rezept aus der Hand nahm, um es noch einmal zu überprüfen. Wie unangenehm. Michael entschuldigte sich gleich mehrfach. Niemand sonst in der Praxis schien den Vorfall bemerkt zu haben. Zum Glück. Michael stellte sich vor, wie Herr Müller auf die Modafinil -Pillen reagiert hätte. Sie wurden unter dem Namen „Vigil“ verkauft, was dem Lateinischen für „Wachen“ entsprang. Michael sonnte sich in seiner Allgemeinbildung. Das gemeine Volk nannte diese Tabletten einfach „Hallo-Wach-Pillen“.

„Verdammt“, fluchte der junge Arzt. Hoffentlich entzog Herr Müller ihm ob des Versehens nicht das Vertrauen. „Wenn ich ihn als Patienten verliere, habe ich das nur dieser Anna zu verdanken.“ All das, weil sie sich weigerte, die Wahrheit zu sagen und sich helfen zu lassen. Er musste etwas unternehmen. Diese Frau gefährdete seine Karriere. Wenn sie sich weiterhin sperrte, zwänge sie ihn zu anderen Mitteln. Vielleicht half Hypnose. Allerdings bezweifelte Michael, ob Anna sich freiwillig hypnotisieren ließe, schließlich mangelte es ihr grundsätzlich an Vertrauen. Er dachte nach. Wurden nicht bei Hypnoseshows Methoden angewendet, die Zuschauer ohne Einwilligung in Trance versetzten? Das war zwar unwissenschaftliches Spektakel, ethisch nicht unumstritten, aber schon der Gedanke daran brachte ihn auf eine Idee. Er könnte es mit einer Entspannungsübung versuchen und Anna dabei aus der Konzentration in die Hypnose überleiten. In Michaels Überlegungen lagen Zweifel und Neugier gleich auf. Sollte er es wagen? Kurzentschlossen griff er zum Telefon.

„Frau Schmidt könnten sie mir bitte Frau Koudras ans Telefon holen und mir einen Termin für heute Nachmittag freischaufeln“, bat er seine Sprechstundenhilfe. Doch an diesem Tag sollte es ihm nicht gelingen, Anna zu erreichen.

Gegen sechs beendete Michael den Praxistag. Ehe er losfuhr, stieg er in seine Sportklamotten. Fünf Minuten später parkte er den Wagen an einem nahegelegenen Waldstück, schlüpfte in die Laufschuhe und lief los. Joggen bedeutete mehr für ihn, als Gesundheitsförderung, er liebte den Kick, den Flow, den er dabei empfand.

Er konzentrierte sich auf nichts anderes als auf das Gleichmaß seiner Schritte. Für gewöhnlich blendete er auf diese Weise die Umgebung aus. Doch heute gelang es ihm nicht. Von Sekunde zu Sekunde wuchs sein Groll. Der Wald drang ungehindert zu ihm durch, der Geruch nach Erde und dem Schweiß der anderen Läufer, das Rauschen des Windes in den Blättern und das Knacken der Zweiglein, die er zerbrach. Hin und wieder glitten Sonnenstrahlen durch die Baumkronen. Auch das fleckige Licht behagte ihm nicht, es störte seinen Orientierungssinn. So sehr er sich bemühte, es gelang ihm nicht, die unerwünschten Sinneseindrücke auszuschalten. Er fluchte. Nun vermasselte Anna ihm obendrein den Abend.

Ohne inne zu halten, riss er ein Büschel Klatschmohn vom Wegesrand, zerquetschte die zarten Blütenblätter und warf sie achtlos zu Boden. In der letzten Woche hatte es oft geregnet, manches Mal war er allein im Wald gewesen. Doch nun hatte sich das Wetter gebessert und zahlreiche Läufer bevölkerten den Wald.

Ein Stück vor ihm lief eine Frau. Ihr Zopf wippte bei jedem Schritt. Sie wirkte unsportlich und deplatziert. „Eine blutige Anfängerin“, dachte er, während er sich ihr näherte. Als er zum Überholen ansetzte, sah er sie einen Augenblick an. Sie kam ihm vage bekannt vor. Ja, sie ähnelte Anna Koudras. Ob ihm das Gehirn einen Streich spielte? Sicherheitshalber hielt er an der nächsten Ecke an. Er trat hinter einen Busch, um die Frau zu beobachten. Mit schweren Schritten kam sie näher. Ihr Atem ging stoßweise. Wie ein ertrinkender Käfer wedelte sie mit den Armen. Wie konnte man nur so eine schlechte Figur machen? Kopfschüttelnd spähte Michael aus seinem Versteck.

Tatsächlich sah die Läuferin Anna sehr ähnlich. Kein Wunder, dass er sie verwechselt hatte. Die gleichen Gesichtszüge, weich und doch mit einem harten Zug um den Mund, genauso, wie er sie kennengelernt hatte. „Wie eine Zwillingsschwester“, dachte er. Die Frau kam immer näher heran. Dann, mit einem Mal erkannte Michael seinen Irrtum. Von wegen Zwillingsschwester, das war Anna Koudras. Was machte sie denn hier? Er starrte Anna unverwandt an, obwohl sie direkt auf ihn zusteuerte. Erst als sie bis auf wenige Meter an den Busch herangekommen war, realisierte er, was geschah. Jeden Augenblick musste sie ihn entdecken.

Er wirbelte herum. Ein Dorn bohrte sich in sein Bein. Nur mit Mühe gelang es ihm einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Mit zusammengebissenen Zähnen schob Michael sich noch tiefer in das Gebüsch. Unter seinen Füßen brachen Äste und immer mehr Dornen stachen in seine Haut. Scheiße, warum verbarg er sich auch ausgerechnet in einem Dornbusch?

Anna durfte ihn so nicht entdecken, sie könnte auf falsche Gedanken kommen. Im besten Fall nähme sie an, er wäre in Liebe für sie entflammt. Im schlimmsten Fall hielte sie ihn für einen Voyeur. Womöglich zeigte sie ihn bei der Ärztekammer an. Dort kannten sie wenig Verständnis für Zufälle.

Er überwand das letzte, schmerzhafte Stück durch den Busch, rappelte sich frei und rannte los. Im Zickzackmuster kämpfte er sich durch unwegsames Gelände, ein Stück Urwald im Stadtwald. Hier, abseits der befestigten Wege, machten ihm die Auswirkungen des schlechten Wetters zu schaffen. Der Boden war schlammig und je weiter er in das Innere vordrang, desto matschiger schien es zu werden.

Mehrmals rutschte er beinahe aus. Er hörte ein Keckern und schaute auf, um zu sehen, welcher Vogel ihn da so unhöflich auslachte. Als er ihn nicht entdeckte, bückte er sich nach einem Stein und warf ihn in das Geäst eines Baums. Flatternd flog eine Schar Vögel auf. Für einen Moment abgelenkt, achtete Michael nicht auf seine Füße. Prompt trat er ins Leere, und seine verschlammte Sohle fand keinen Halt. Er rutschte weg. Wie in Zeitlupe glitt sein Knöchel nach außen und knirschend dehnte sich seine Sehne. Hilfesuchend griff er nach einem Ast und tatsächlich gelang es ihm ein wenig Halt zu finden. Dennoch sackte er mit dem Knie in den Schlamm. Was für eine Sauerei. Michael stemmte sich hoch. Als er an sich hinab sah, fluchte er. Dunkler Lehm bedeckte seine Wade. Sein Schuh war mit Brackwasser vollgelaufen und schmatzte nun bei jedem Schritt. Es dauerte eine ganze Weile, ehe Michael endlich ein befestigtes Wegstück erreichte. Sein Fuß schmerzte inzwischen höllisch. Fluchend humpelte er vorwärts. Nach und nach begann der Schlamm zu trocknen und abzubröckeln. Sein Schuh hingegen troff von Feuchtigkeit, bei jedem Schritt hinterließ Michael einen nassen Abdruck auf dem Asphalt.

Ein Geräusch hinter ihm, ließ ihn aufhorchen. Er blickte sich um und entdeckte Anna, die hinter ihm heranschnaufte. Langsam, aber unaufhaltsam holte sie ihn ein. Hinkend beschleunigte Michael seinen Schritt. Schweiß sickerte in sein T-Shirt. Nur wenige Meter vor Anna erreichte er den Parkplatz. In letzter Minute sprang er in seinen Wagen und schloss schwer atmend die Tür hinter sich.

Einige Minuten später fuhr er das Auto vom Parkplatz in Richtung seiner Wohnung. Er kam nicht weit, eine rote Ampel zwang ihn zum Anhalten. Mehrere Fahrzeuge warteten bereits vor ihm. Michael ließ seinen Wagen ausrollen und näherte sich langsam der Schlange. Ein Stück weiter vorn stand ein Alfa Romeo. Den blonden Zopf der Fahrerin erkannte er sofort. Auch das noch. Wie war es Anna gelungen, vor ihm diese Kreuzung zu erreichen? Der Anzeige ihres Blinkers nach wollte sie rechts abbiegen. „Schade, meine Route führt mich geradeaus“, dachte Michael.

Die Ampel schaltete auf Grün. Er tippte das Gaspedal an und sein Auto setzte sich in Bewegung. Der Alfa rollte um die Ecke. Im nächsten Augenblick, ohne nachzudenken, setzte auch Michael den Blinker und bog ab. Seine Kopfhaut kribbelte. Adrenalin schoss ihm in die Glieder. Hoffentlich bemerkte sie ihn nicht. Vorsichtshalber rutscht er ein Stück tiefer in den Sitz.

Nicht weit entfernt endete die Fahrt. Anna parkte den Alfa routiniert ein, stieg aus und verschwand in einem Haus. Michael blieb im Auto sitzen und wartete. Mit der Zeit begann der Dreck zu jucken, und nachdem Michael eine halbe Stunde ergebnislos die Haustür angestarrt hatte, beschloss er den Heimweg anzutreten. Außerdem plagte ihn das Gewissen. Eine solche Indiskretion passte nicht zu seinem Berufsethos. „Aber wie soll ich sonst über sie wachen?“, sagte er sich, ohne sich die Frage zu stellen, warum er überhaupt über sie wachen wollte. Das Schicksal hatte ihm eine Antwort gegeben und wer war er, nicht auf das Schicksal zu hören.

Zu Hause begaben sich die gegensätzlichen Gefühle in seinem Inneren in eine Gruppentherapie. Michael trat stets für die Einhaltung von Regeln und Vorschriften ein. Andererseits: War es denn nicht seine Pflicht, einer Patientin zu helfen? Es nicht zu tun, käme unterlassener Hilfeleistung gleich.

Verheißungsvoller Ruhm, eitle Hilfsbereitschaft gegen Berufsethos, Karriere gegen Vorschriften, Vertrauen gegen Vertrauensbruch: Sein Innerstes tanzte argentinischen Tango. In einem schwülstigen, roten Salon umkreisten sich Zweifel und Ehrgeiz, stürmten Schritt für Schritt aufeinander zu. Der Zweifel rang den Ehrgeiz nieder, doch dieser schleuderte mit verzweifelter Kraft alle Bedenken zu Boden. Theatralisch ruderte er mit Armen und Schultern, umrundete das Parkett, um erneut am Ausgangspunkt anzukommen. Elegant und anmutig reichte er dem Zweifel die Hand und half ihm auf. Die großzügige Geste wirkte einstudiert - sie wies den Gegner in die Schranken - begleitet von einem Lächeln, zugleich herrisch und arrogant. Die Musik verklang, es war entschieden. Bei diesem Tanz führte der Ehrgeiz.

Samstag, 18. September

Erneut schlief Michael schlecht. Die Aufregung hielt ihn wach. Um fünf Uhr, noch bevor der Wecker geklingelt hatte, erhob er sich. Eineinhalb Stunden später stieg er in sein Auto und machte sich auf den Weg zu der Straße, in der Anna wohnte.

Die Zeit schien nicht zu vergehen. War es tatsächlich erst eine Viertelstunde her, seit er das Auto vor ihrem Haus abgestellt hatte? Er gähnte. Warum war er nur so verteufelt früh aufgestanden? So etwas tat doch kein vernünftiger Mensch. Um sich wach zu halten, schaltete er das Radio ein. Michael Jacksons „Thriller“ tönte aus den Lautsprechern. Er drehte die Musik lauter und wippte mit den Zehen.

Wie spät mochte es sein? Michael drehte das Radio leiser und sah auf die Uhr. Kurz vor Zehn. In der Nähe startete ein Auto. Als er sich umschaute, sah er Annas Alfa, der gerade in eine Seitenstraße einbog. „Scheiße.“ Er hatte sich ablenken lassen und gefährdete die Mission. So etwas Dummes. Schnell ließ er den Wagen an und folgte Anna durch die Nebenstraßen der Wohnsiedlung, bis sie in Richtung Innenstadt abbog.

Je dichter der Verkehr wurde, desto schwerer fiel es ihm, hinterherzukommen. Hatte diese Frau denn niemals Fahrunterricht genommen? Sie fuhr viel zu schnell. „Verflixt.“ Schon wieder setzte sie zum Überholen an. Michael trat das Gaspedal bis auf das Bodenblech durch. Mit einem Satz sprang sein Auto vorwärts. Einen winzigen Augenblick lang genoss er es, sich wie ein Rennfahrer zu fühlen, aber dann packte ihn ein mulmiges Gefühl. Er war nicht der sicherste Fahrer unter dem Himmel, soviel stand fest. Den Blick auf den Alfa gerichtet, kurbelte er am Lenkrad, um ebenfalls auf die Überholspur einzufädeln. Ein lautes Hupen ließ ihn zurückschrecken. Nur die schnelle Reaktion seines Nebenmanns verhinderte einen Verkehrsunfall. In letzter Sekunde brach Michael das Manöver ab und rettete sich zurück auf die rechte Fahrspur. Schwer atmend und mit zerknirschtem Grinsen entschuldigte er sich mit bei dem anderen Fahrer, der die Faust in Michaels Richtung schüttelte.

Nach einer Fahrtstrecke, die ihm schier endlos erschien, bog Anna in das Parkhaus der Galeria ein. Michael atmete auf. Gott sei Dank hatte er diesen Höllentrip lebendig hinter sich gebracht. Erstaunlich, dass nichts passiert war. Die Frau fuhr ja wie eine gesengte Sau. Er strich sich das Haar zurück und wischte den Schweiß von seiner Stirn. Ein Stück entfernt parkte er den Wagen und wartete, bis Anna dem Ausgang zustrebte. Auf leisen Sohlen folgte er ihr. Dennoch schien sie seine Schritte gehört zu haben. „Verdammt!“ Sie hielt an, lauschte und drehte sich um.

Gerade noch rechtzeitig gelang es Michael, hinter einem Pfeiler in Deckung zu gehen. Anna wartete einen Moment, dann ging sie weiter, wenn auch jetzt schneller als zuvor. Zu seinem Glück nahm sie die Treppe, sodass es ihm ohne Probleme gelang, ihr zu folgen. Sie stieg bis in das Erdgeschoss hinab und verließ das Kaufhaus durch die Haupttür. Er flitzte hinterher. Auf der Schildergasse entdeckte er sie wieder. Sie schlenderte die Straße entlang und blieb gelegentlich vor einem Schaufenster stehen. Anna studierte die Auslagen und Michael studierte Anna. Wie und warum verletzte sie sich? Bis jetzt ließ ihr Verhalten keinerlei Rückschlüsse zu. Kaufsüchtig schien sie nicht zu sein, immerhin hatte sie noch keine einzige Boutique betreten. Ihm blieb keine Zeit für weitere Überlegungen, denn Anna schritt nun zügig aus und strebte dem Neumarkt entgegen. Wie eine Katze glitt sie durch die Menschenmenge, elegant umrundete sie die Passanten, die Postkartenständer und jeden Bistrostuhl der Cafés, die an den letzten schönen Tagen noch auf sonnenhungrige Gäste warteten. Im Gegensatz zu Michael, der in der Menge stecken blieb. An einem trockenen, warmen Samstag die Innenstadt zu besuchen, kam einem Hindernislauf gleich. Michael rempelte wildfremde Menschen an, ohne es zu bemerken. Vergeblich kämpfte er sich hinter Anna her, doch es gelang ihm nicht, sie einzuholen. Immer mühsamer wurde es, sie im Blick zu behalten.

„Aua.“ Michael griff sich an die schmerzende Schulter und blickte sein Gegenüber erstaunt an. Der Kerl, mit dem er zusammengestoßen war, entsprach in etwa seiner Statur. Unter zusammengezogenen Augenbrauen starrte er grimmig, bis Michael hastig eine Entschuldigung murmelte und aus der Gefahrenzone wich. Er ging ein paar Schritte und sah sich nach Anna um. Sie war verschwunden und so sehr er sich auch mühte, er konnte sie nirgends entdecken. Sie blieb verschollen. „Scheiße.“ Was sollte er jetzt tun? Sich in der Nähe ihres Autos herumdrücken und auf sie warten?

„Alles Quatsch.“ Das ganze Vorhaben war eine blöde Idee gewesen. Am liebsten würde er das Projekt beenden. Er taugte nicht zum Geheimagenten. Da er aber nun schon einmal hier war, konnte er ebenso gut der Fachbuchabteilung der Mayerschen einen Besuch abstatten. Einen guten Kaffee bekam er dort auch.

Zehn Minuten später lag der Trubel hinter ihm. In den Räumen der Buchhandlung herrschte eine wohltuende Ruhe. Michael nahm einen dampfenden Kaffeebecher aus der Hand einer freundlichen Dame entgegen und stieg ein Stockwerk höher. Hier waren die medizinischen Fachbücher untergebracht. Der Tasse entströmte ein Hauch von Zimt und Vanille. Er schnupperte daran, während er ein Buch aus dem Regal zog und darin blätterte. Es ging um Hypnosetherapie und Showhypnose, derzeit eines seiner größten Interessengebiete. Nach und nach kehrte Michaels gute Laune zurück.

Eine halbe Stunde später reihte er sich an der Kasse in die Schlange ein. Na prima, das konnte dauern, frustriert blies Michael die Backen auf und ließ die Luft aus dem Mundwinkel weichen. Hin und wieder ging es einen Schritt voran. „Endlich.“ Als Nächster käme er an die Reihe. „Zu früh gefreut.“ Die Dame vor ihm ließ sich mehrere Bücher einzeln als Geschenk verpacken. Neben Michael türmte sich ein Display mit Liebesromanen.“Kitschig, kitschiger, am kitschigsten“, dachte er und grinste. Wer las solche Schmonzetten? Er schaute sich die Kunden genauer an, die den Stapel umlagerten. Ausschließlich Frauen, wie hätte es auch anders sein können?

Während er die Kundinnen betrachtete, sah er aus dem Augenwinkel eine Blondine die Buchhandlung verlassen. War das nicht Anna? Er schaute genauer hin. Tatsächlich, Anna.

„Bitte schön?“, schnarrte die Kassiererin.

„Was?“

„Ihr Buch!“

„Ach ja …, äh nein …, äh … es hat sich erledigt.“ Er warf das Buch auf den Tresen und beeilte sich den Laden zu verlassen.

Je weiter sie sich von der Fußgängerzone entfernten, desto mehr lichteten sich die Reihen der Einkaufenden. An Sankt Aposteln bog Anna in die Mittelstraße ein. Michael vergrößerte seinen Abstand, die Gefahr, dass sie ihn erwischte, wuchs mit jedem Meter. Vorsichtshalber wechselte er die Straßenseite. Sie erreichten die nächste Kreuzung und Anna bog links in die Pfeilstraße ein. Michael rannte zu der Ecke, um die sie verschwunden war. Vorsichtig streckte er den Kopf vor, bereit, ihn jeden Moment zurückzuziehen. „Die Luft ist rein“, flüsterte er. Anna war etwa 15 Meter entfernt und bewegte sich konstant von ihm weg. Jederzeit bereit umzukehren, umrundete Michael den Mauervorsprung und ging ihr nach. Vor dem Schaufenster eines Blumenladens hielt Anna an. Ohne zu zögern sprang Michael in einen Hauseingang. Vorsichtig lugte er um die Ecke. Anna betrat das Blumengeschäft. „Puh.“ Er ließ die angespannten Schultern sinken. Das war ja gerade noch gut gegangen.

Eine Minute später verließ Anna den Laden bereits wieder. „Mist, wohin jetzt?“ Sie kam auf ihn zu, wenn er sich nicht sofort in Luft auflöste, konnte sie ihn nicht übersehen. Die Tür zu dem Ladenlokal, vor dem er stand, war verdunkelt und ließ keinen Einblick zu. „Bestimmt geschlossen“, überlegte er, dennoch drückte er gegen die Tür. Zu seinem Erstaunen gab sie nach. Er betrat den Laden. Es war ziemlich dunkel hier. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte. Vor sich sah er ein glänzendes, schwarzes Gebilde, das ihn an einen Obelisken erinnerte. Ob es sich um Kunst handelte? Wahrscheinlich war er in einer Galerie gelandet, in dieser Gegend gab es einige davon. „Ein bisschen mehr Licht könnte durchaus verkaufsfördernd sein.“ Er blinzelte noch ein paar Mal, ehe sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Nun endlich konnte er sich umschauen.

Als er erkannte, was er da betrachtete, entfuhr ihm ein Schrei. Jemand räusperte sich. Jetzt erst bemerkte er, dass er nicht allein war. Drei Männer standen hinter der Ladentheke und beobachteten ihn. Schwarzes Leder verhüllte ihre Körper nur dürftig. Neben ihnen auf dem Tresen standen weitere Exemplare des vermeintlichen Kunstwerks. Dildos in allen Farben und Größen, grell pink im Westentaschenformat oder schwarz glänzend in Form eines Unterarms samt Faust. Über Michaels Kopf schwebte eine Schaufensterpuppe, deren Torso in Lederbänder eingeschnürt war. Die Puppe trug einen Umschnalldildo, der beinahe Michaels Haar berührte. Angeekelt trat er einen Schritt zur Seite. Dann erst fiel sein Blick auf die mit DVDs gefüllten Regale. Auf den Coverbildern trieben es Kerle mit Kerlen, und nirgends entdeckte er ein Foto einer Frau.

„Scheiße.“ Er war in einen Sex-Shop geraten, in einen Schwulen-Sex-Shop. Michael schoss das Blut ins Gesicht. Magensäure brannte in seiner Speiseröhre. Angestrengt schluckte er dagegen an. Auf keinen Fall durfte er sich hier vor diesen Schwulen übergeben. „Man stelle sich vor, sie fühlten sich berufen, ihn zu pflegen.“ Er schüttelte sich. Am liebsten hätte er seinen Hintern an eine Wand gedrückt, aber die Wände waren vollgestellt mit Regalen voller Sexspielzeug und Pornofilme.

Als sich zwei der Typen auf ihn zu bewegten, ergriff Michael die Flucht. Sie riefen ihm etwas nach, doch er verstand sie nicht. In seinen Ohren rauschte das Blut. Kaum hatte er die Eingangstür des Ladens hinter sich gebracht, da rannte er auch schon los. Er atmete ungleichmäßig. Obschon er ein trainierter Läufer war, kam er bereits nach wenigen Metern aus der Puste. Keuchend blieb er schließlich stehen. Einen Augenblick empfand er Orientierungslosigkeit, er hörte auch nicht, dass er angesprochen wurde. Erst als sich eine Hand auf seine Schulter senkte, fuhr er auf.

„Haut ab, ihr schwules Gesocks!“, schrie er, bereit, sich umzudrehen und erneut loszurennen, als er wahrnahm, wer da vor ihm stand. Anna. „Mist!“ Sie hatte ihn entdeckt. „Scheiße! Sogar mehr als Scheiße. Ein ganzer Scheißhaufen.“ Gerade noch hatte er sich vor ihr versteckt und jetzt hatte sie ihn nicht nur bei seiner Spionagetour erwischt, sondern auch noch bei vorurteilsbesetzten Flüchen, die an seiner Fachkompetenz zweifeln ließen. In einem Zustand, bei dem er nur auf ihr Erbarmen hoffen konnte. Er war zu keinem klaren Gedanken fähig.

Irgendwann realisierte er, dass sie mit ihm sprach.

„Dr. Chlodwig. Ist alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut? Kann ich irgendetwas für Sie tun?“ Sie schaute ihn besorgt an. „Was ist passiert?“, fragte sie.

Michael stotterte. „Ni …, nichts, alles gut.“ Er wandte sich um. „Ich muss weg.“ Er ließ sie stehen und hastete die Straße hinunter.

Mysterien der Zeit

Подняться наверх