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2. Köln, 2010 - 4. August bis 16. September

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Mittwoch, 4. August, mitten in der Nacht

Die Hand schließt sich um Annas Knöchel. Sie hört eine Stimme. Sie kann die Worte nicht verstehen. Sie zittert, fürchtet sich; Sie friert. Ihre Zähne schlagen aufeinander. Dunkelheit herrscht um sie herum. Ist sie gefangen? Wie jede Nacht durchlebt sie diesen Traum. Wie jede Nacht will sie ihn ergreifen, doch kaum dass sie erwacht, entgleitet er ihr. Stattdessen fällt die Panik über sie her, krallt sich in ihren Rücken wie eine Raubkatze, und atmet in ihren Nacken. Sie fühlt sich hilflos, einsam, sie bekommt keine Luft. Egal wie tief sie einatmet, kein Sauerstoff kommt in den Lungen an. „Bleib ruhig, Luft anhalten; zähl bis fünf!“, ruft sie sich zu. Sie hält es nicht aus, es wird niemals aufhören. Die Beklemmung zerrt an ihr, zieht sie hinab in ein Loch, aus dem es kein Entrinnen gibt. Warum hilft denn niemand? Sie kann es nicht länger ertragen, ausgeliefert zu sein. „Lass los, Luft anhalten, zählen, einatmen! Atme, konzentriere dich, du schaffst es! – Eins – zwei – drei – vier - fünf – und ausatmen!“

Der Schwindel ebbte ab, aber noch gelang es Anna nicht, die Augen zu öffnen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und kniff die Lider trotzig zusammen. Obwohl sie schon lange erwachsen war, hielt sie einen hellblauen Teddybär im Arm. Genau genommen war er eher schmutzig grau. Selbst ein Waschgang hatte ihm seine Farbe nicht wiedergeben können. Sein Pelz wies kahle Stellen auf und ihm fehlte jede Rundung, er wirkte geradezu flunderartig zweidimensional. Trotzdem liebte Anna den Bären, er wohnte tagsüber auf ihrem Bett und leistete ihr in der Nacht Gesellschaft.

Sie schlug die Augen auf und versuchte sich zu orientieren. Normalerweise strahlte der Raum Ruhe aus, war Annas Refugium, dessen Einrichtung sie mit viel Liebe ausgewählt hatte. Heute jedoch blieb der Frieden aus. Während sie sich aufsetzte, sog sie die verbrauchte Luft ein, es stank nach Schweiß und Angst. Noch unter dem Einfluss des Albtraums klopfte sie das Kissen aus und strich über die Bettwäsche.

Mit einem Mal schien Blut die Wand hinab zu rinnen. Entsetzt schrie Anna auf. In Panik warf sie ihr Kissen und die Decke aus dem Bett. Ihr Herz raste. Sie schmeckte Metall. Jetzt erst bemerkt sie, dass sie sich die Zunge zerbissen hatte.

An der Wand dem Bett gegenüber hingen zwei Strandszenen, bei deren Anblick sie sich so oft zurück an den Strand von Fehmarn träumte. Nun liefen rote Schlieren über die Bilder. Schon drohte Anna in den Schrecken des Traums zurückzufallen, als sie die Ursache erkannte: Schuld trug das Rollo, das sie vor wenigen Tagen hatte anbringen lassen. Die eingeschalteten Scheinwerfer eines Autos leuchteten durch die damit verdeckten Fenster. Warum hatte sie sich auch ausgerechnet für Rot entscheiden müssen?

Es dauerte zwei Minuten, bis ihr Herzschlag auf Normaltempo zurückschaltete. Sie schüttelte mit dem Kopf. Wo war nur ihr gesunder Menschenverstand geblieben? Sie trat an das Sprossenfenster und schob das Rollo nach oben. Mist! War das hell. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um nicht von dem Scheinwerfer geblendet zu werden. Noch etwas benommen riss sie das Fenster auf und ließ die frische Morgenluft hinein. Sofort ging es ihr besser. Beinahe meinte sie, zusehen zu können, wie der Dunst der Nacht nach draußen waberte.

Wie jeden Morgen begrüßte Anna den Mann im Mond. Er winkte ihr aus einem Druck über ihrem Bett zu. Der knollennasige Wicht ruhte, bekleidet mit Schlafmütze und Schlafrock, in einem Halbmond wie in einer Hängematte. Wellen von Wolken schienen den Mond zu wiegen. Anna hatte das Bild auf Anhieb gefallen, und so hatte der Mann im Mond die Aufgabe übernommen, über ihren Schlaf zu wachen. In der letzten Zeit allerdings vernachlässigte er seine Pflichten, sie würde einmal ein ernstes Wort mit ihm sprechen müssen.

Sie hob die Decke auf und breitete sie über das Bett. An Kopf und Fußteil verband ein geschwungener Bogen die äußeren Streben miteinander. Das polierte Messing wirkte beinahe weich, es schimmerte, lud ein darüber zu streichen.

Für gewöhnlich verzichtete Anna darauf das Bett zu machen, richtete lediglich das Kissen und ließ den Rest zusammengeknüllt liegen, wie sie daraus hervor gestiegen war. Zumindest etwas Positives sollte der Schrecken des Morgens also bewirkt haben. Am Abend würde sie unter eine Bettdecke kriechen, die zur Abwechslung nicht nach der letzten Nacht müffelte.

Anna verließ das Schlafzimmer und tappte barfüßig ins Bad. Eine kalte Dusche war jetzt genau das Richtige, um die Wirrnis aus ihrem Kopf zu verjagen.

Nach der Dusche fühlte sie sich besser. Vielleicht würde es ja doch noch ein guter Tag werden.

Mittwoch, 4. August

Anna drosselte das Tempo und fiel in einen unruhigen Schritt, bei dem ihre Arme schwungvoll vor und zurück schlenkerten, wie die einer zu groß geratenen Flickenpuppe.

Im Vorbeigehen begrüßte sie einen Kollegen, ehe sie in den Waschraum abbog. Während sie sich die Hände abschrubbte, überprüfte sie ihr Spiegelbild. Sie schüttelte das Haar. Die goldene Pracht flimmerte in Kaskaden über ihren Rücken und die kräftigen Schultern. Mit den Fingerspitzen zupfte sie an der zarten Haut ihrer Wangen. Ihr Gesicht könnte ruhig etwas mehr Farbe vertragen. Nach den Strapazen der Nacht war sie blass. Trotzdem sah sie viel jünger aus, als sie sich heute Morgen fühlte. Wenn sie sich geschickt zurechtmachte, wirkte Anna keinen Tag älter als 20, tatsächlich hatte sie jedoch vor einigen Monaten ihren 36. Geburtstag gefeiert.

Anna zog ihre Kosmetiktasche hervor und packte ihre Schminkutensilien aus. Eine großzügige Portion Rouge verhalf ihr zu neuem Leben. In einer schwungvollen Bewegung umrandete sie ihre Augen mit schwarzem Kajal. Zu schwungvoll, denn im nächsten Augenblick donnerte sie mit dem Ellenbogen gegen die Wand.

„Aua“, fluchte sie. Tränen traten ihr in die Augen. Ohne nachzudenken, wischte sie sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Danach fiel ihr Blick in den Spiegel. Ein Troll sah ihr entgegen. Dicke Trauerränder von Wimperntusche hatten sich um ihre Augen gebildet. Sie sah aus wie ein Pandabär. Angespannt starrte Anna ihr Spiegelbild an. Sie schüttelte mit dem Kopf. Und dann mit einem Mal brach es aus ihr heraus. Sie lachte. Lachtränen malten Landschaften in ihr Gesicht, zogen Schlieren in den Lachfältchen, die sich nun nicht mehr verbergen ließen. Anna wechselte in die Hocke und grapschte nach der Wand. Sie konnte sich jedoch nicht halten und plumpste zu Boden. Da saß sie eine Weile, die Beine weit von sich gestreckt und lachte schallend.

Schließlich beruhigte sie sich. Sie stemmte sich hoch. Viel Zeit blieb ihr nicht bis zum Beginn der Sitzung. Während sie die notdürftigsten Restaurierungsarbeiten an ihrem Gesicht vornahm, übte sie noch einmal den Anfang ihrer Präsentation.

Im Konferenzraum warteten bereits die Kollegen. Annas Vortrag stand als Tagesordnungspunkt Eins auf der Agenda. Ohne Umschweife legte sie los. Sie sprach mit vollem Körpereinsatz, untermalte die Details mit den Händen und zerschnitt die Luft mit ausholenden Gesten. Die ersten Sätze formulierte Anna akzentuiert, beinahe im Stakkato, die Kompetenz in Person. Die Zuhörer zuckten zusammen, als sie sich vorbeugte und auf den Tisch schlug. Gleich danach schob sie eine lange Atempause ein, stand still, die Arme an den Körper gezogen, den Kopf leicht geneigt. Sie hob die Hand und öffnete den Mund - nur ein wenig, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu schüren. Als sie ihre Lösungsvorschläge entfaltete, hingen die Kollegen an ihren Lippen. Nun schmeichelte sie ihnen mit heller Kinderstimme, um den Beschützerinstinkt in ihnen zu wecken. Sie liebte es mysteriös zu wirken. Je undurchschaubarer sie sich gab, desto mehr fraßen die Kollegen ihr aus der Hand. Anna lächelte in sich hinein. Wie gut die Manipulation auch dieses Mal gelang. „Gelernt war eben gelernt.“

Ehe sie ihren Vortrag beendete, blickte sie noch einmal jedem Zuhörer in die Augen. Keiner der Anwesenden konnte sich ihrem Blick entziehen, sie versanken in ihren dunklen Honigaugen. Der Chef, der ihr gegenübersaß, starrte Anna an. Sie zwinkerte ihm zu. Dann ließ sie sich mit einem Seufzer in ihren Stuhl fallen und schlug die Beine übereinander.

Eine halbe Stunde später saß Anna wieder in ihrem Büro. Während der Rechner hochfuhr starrte sie müde auf den schwarzen Bildschirm. In den letzten fünf Jahren waren zahllose Projekte über Annas Tisch gegangen. Besonders gern rieb sie das ihrer Mutter, der eiskalten Maria, unter die Nase. Der Gedanke an ihre Mutter ließ Anna schaudern. „Ein Kuriosum, dass ich nach all dem, was ich in meiner Kindheit und Jugend erlebt habe, noch halbwegs normal erscheine“, schoss es ihr durch den Kopf. Den Schein wahren, das konnte sie, das war eine elementare Lehre ihrer Mutter gewesen. Wie so oft dachte Anna, die Schreibweise ‚Leere’ würde womöglich besser zu ihrem Leben passen.

Leere und Einsamkeit, damit kannte sie sich aus. Manchmal, wenn sie es sich gestattete, träumte sie davon, ganz normal zu sein, eine Frau mit einer Bilderbuchfamilie. Doch nach Jahren des Wartens hatte sie begriffen: Es gab ihn nicht, diesen Mr. Right, diesen Einen, der für sie bestimmt war. Das war ein Hirngespinst, verkaufsfördernder Einfallsreichtum für unterbelichtete Hausfrauen, die sich mit banalen Liebesromanen die heile Welt erkauften.

Es ekelte sie an, mit welchen Sonderlingen sie sich immer wieder einließ, die reinste Selbstzerstörung. Sie wagte es kaum, an den Käseverkäufer zurückzudenken, mit diesem Hang die Zehen der Frauen zu lutschen mit denen er sie gerade betrog. Oder an den Drogendealer, der selbst sein bester Kunde gewesen war. Nach dem Zehenlutscher hatte Anna monatelang jeden Spiegel gemieden, stand doch die Demütigung in Großbuchstaben auf ihre Stirn gelasert. Nach dem Drogendealer war sie lediglich pleite gewesen, allerdings auch polizeilich erfasst.

Und trotzdem – und darüber wunderte sie sich selbst am meisten – verlor sie den Glauben nicht ganz. Möglicherweise ruhte ja irgendwo in Gottes Backofen – weit hinten und schon ein wenig angebrannt – doch noch ein für sie Bestimmter. Diese Theorie gefiel ihr, und sie gab ihr den Arbeitstitel ‚Mr. Left’.

In Gedanken versunken, kratzte sie an einer Kruste unter der Armbanduhr. Ein Blutstropfen löste sich, zerplatzte auf dem Schreibtisch und verlief. Annas Blick fiel auf zahlreiche verschorfte Kratzer und frische Wunden an ihren Unterarmen und Händen. Sie seufzte. Warum das noch? Zuerst war da dieser Traum gewesen und nun diese Wunden. Woher stammten sie? Angeflogen konnten sie ja kaum gekommen sein. Außerdem schien es Anna unmöglich, dass sie sich die Verletzungen im Schlaf zufügt hatte.

„Nicht verwunderlich, dass die Panik nun regelmäßig zu Besuch kommt“, dachte sie. Ihre Augen begannen zu brennen. Sie wollte nicht weinen. Bestimmt war es nur Einbildung, schlichte Albträume, die sie mehr quälten, als sie sich eingestehen wollte – und da kratzte sie sich halt nachts die Arme auf. Zugegebenermaßen eine Scheißsituation, doch die würde vorbei gehen – irgendwie. Oder auch nicht. „Stacheldraht! Stacheldraht! Stacheldraht!“, schrieb sie auf ein Blatt Papier. Minutenlang starrte sie die Wörter an, dann entfuhr ihr ein Schrei: „Lasst mich in Ruhe!“ Wenn es nur nutzte. „Bitte!“, flüsterte sie.

Donnerstag, 12. August

Anna rührte in ihrem Tee und beobachtete den aufgelösten Kandis, der durch die Flüssigkeit trieb. „Wie die Kristallkugel einer Wahrsagerin“, dachte sie. Wahrscheinlich glotzte die Tante am anderen Ende der Strippe auch gerade in eine solche.

„Huh-huh!“ Anna fuchtelte mit den Händen vor den Augen herum. Bestimmt hatte die Kugel Ladehemmungen, warum sonst sollte es so lange dauern, einen Termin zu bekommen. Wenn die Frau nicht bald zurück ans Telefon käme, verließe Anna der Mut.

„Frau Koudras?“ Na endlich. „Wäre Ihnen Mittwoch, der 15. September 2010 um 17.00 Uhr recht?“

„Ganz und gar nicht“, antwortete Anna. „Mir geht es jetzt schlecht und nicht erst in vier Wochen. Meine Hausärztin, Frau Kolbe-Wittmor, hat mich extra an Sie verwiesen. Angeblich arbeiten Ihre beiden Praxen zusammen und Sie behandeln die Patienten, die sie Ihnen schickt, bevorzugt. Hat man mich da etwa falsch informiert?“

„Es tut mir leid, Herr Dr. Chlodwig hat derzeit sehr viel zu tun. Ich schaue, ob wir Sie früher unterkriegen können.“ Weg war sie. Wieder dauerte es einige Minuten. „Am nächsten Montag hat jemand abgesagt. Es ginge jedoch nur um 11.30 Uhr.“

„Dann eben 11.30 Uhr.“ Anna krallte ihre Finger mit aller Kraft in das Mousepad.

„Na wunderbar“, flötete das Spätzchen. „Dann halten wir fest, Montag 16. August 2010 um 11.30 Uhr, hier bei uns.“

„Wo denn sonst?“, knurrte Anna, nachdem sie aufgelegt hatte. „Und von ‚wunderbar’ kann garantiert keine Rede sein.“ Am liebsten hätte sie das Vögelchen zum Frühstück verspeist. Wie konnte man nur so ekelhaft freundlich sein und wozu hatte die Tante jedes Mal die Jahreszahl genannt? Wahrscheinlich musste sie sich glücklich schätzen, dass sie noch in diesem Jahr einen Termin bekommen hatte.

Anna mochte Ärzte nicht. „Na, wie geht es uns denn heute?“ Diese Pseudoherzlichkeit blieb ihr suspekt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Menschen es als Berufung empfanden, anderen beizustehen. Niemand handelte uneigennützig.

Montag, 16. August

Der Minutenzeiger rückte vorwärts, Anna warf sich mit einem Seufzer die Jacke über die Schulter, ergriff den Regenschirm und verließ das Büro. Es half nichts, sie musste sich überwinden. Eine halbe Stunde später erreichte sie die Praxis. Sie hatte diese Praxis ausgesucht, weil Dr. Chlodwig nicht nur als Psychiater arbeitete, sondern gleichzeitig eine Zusatzausbildung zum Psychotherapeuten vorweisen konnte. So blieben ihr, falls er ihr eine Therapie verschreiben wollte, die mühsame Suche nach einem Therapeuten und die wochenlange Warterei auf einen Therapieplatz erspart.

Das Wartezimmer enthielt kaum noch Sauerstoff. In der stickigen Luft fiel das Atmen schwer, ohnehin drohte Anna zu hyperventilieren. Die Wände waren schmucklos weiß getüncht. Wie im Kino waren mehrere Sitzschalen auf ein metallenes Gestell geschraubt. Die Sterilität des Raums strahlte Kälte aus, die gut zu Annas Bauchgefühl passte. Ein eisiger Klumpen, der stetig anzuwachsen schien, drückte gegen ihre Speiseröhre. Anna starrte auf ein Loch im Putz. Ein Unermüdlicher musste es mit dem Fingernagel gegraben haben. Beinahe beneidete sie ihn um diese Beschäftigungstherapie. Warum dauerte es so lange? Der letzte Patient hatte doch schon längst seine Jacke vom Garderobenständer genommen und war gegangen. Anna schwitzte auf dem Plastikstuhl, sie saß zu lange dort. Sobald sie aufstünde, das wusste sie, bliebe ein Feuchtigkeitsfilm zurück, peinlich und eklig.

Endlich schob die Sprechstundenhilfe den Kopf um die Ecke.

„Frau Koudras, Sie können jetzt zu Herrn Doktor Chlodwig hineingehen.“ Sie sprach leise mit beruhigendem Unterton.

Anna erhob sich und folgte ihr in einen kleinen Flur. Der Arzt erwartete sie bereits. Er stand an der Tür zu seinem Sprechzimmer und füllte den Türrahmen beinahe vollständig aus. „Ach Du Himmel, ist der jung“, schoss es Anna in den Sinn. Immerhin, er lächelte und reichte ihr die Hand.

„Au!“ Sein Griff schmerzte. Kein Wunder, bei diesen Pranken. Sofort ließ der Arzt Annas Hand los.

„Ich bitte um Verzeihung.“ Er gab den Weg frei und Anna trat ein. Genauso hatte sie sich das Zimmer vorgestellt: Korbsessel und Topfpflanzen, die Wände pastellfarben gestrichen.

„Dr. Michael Chlodwig, wundern Sie sich bitte nicht. Ich sehe jünger aus, als ich bin“, stellte er sich vor. „Nehmen Sie Platz und erzählen mir, warum sie hier sind. Wir kriegen Sie bestimmt wieder flott.“ Anna zuckte zusammen. Wie bitte? Sie war doch kein kaputtes Auto. „Spaß beiseite.“ Er senkte seine Stimme. „Was kann ich für Sie tun?“

Nun saß sie schon einmal da und Dr. Chlodwig erschien ihr ebenso gut oder schlecht, wie jeder andere. Darum überwand sie sich schließlich und erzählte ihm von ihren Träumen. „Das Merkwürdigste ist“, schloss sie ihren Bericht, „dass ich mir nicht erklären kann, woher die Wunden kommen. Sie sind einfach da, wenn ich morgens aufwache.“

„Wie fühlen Sie sich dabei?“, wollte Dr. Chlodwig wissen. Diese Frage hatte Anna erwartet, jetzt kam das typische Psychogeschwafel.

„Großartig natürlich. Wäre ich sonst hier?“

Der Arzt rutschte kurz in seinem Korbsessel nach hinten, richtete sich ganz leicht auf und lächelte. „Das meine ich nicht. Ärgern Sie die Wunden, machen sie Ihnen Angst? Es geschieht nachts etwas, das nicht Ihrer Kontrolle unterliegt. Was löst das in Ihnen aus?“

„Bis jetzt komme ich gut klar.“

„Hm …“ Der junge Arzt schwieg eine Weile, nahm aber den Blick nicht von Anna. „Wollen oder können Sie mir nicht vertrauen?“

„Ich kenne Sie doch kaum.“ Warum sollte sie lügen?

„Das verstehe ich.“ Selbstverständlich verstand er das. Verständnis gehörte zu den Spielregeln, gewiss fand jeder Irre, der in seinem Wartezimmer saß, hier Verständnis.

„Kommen Sie einmal mit!“ Der Arzt führte Anna zu einer Tür an der Stirnseite des Sprechzimmers. Dahinter lag ein Büro.

„Na, der Innenarchitekt wird nicht billig gewesen sein“, entfuhr es ihr. Dr. Chlodwig griente und trat an einen Schreibtisch. Die dicke Glasplatte schimmerte grünlich. Bis auf eine Lampe im altenglischen Stil und einen Federhalter war der Tisch leer. An den Wänden hingen gerahmte Dokumente und über einer Designercouch prangte ein Original von Roy Lichtenstein.

„Ich möchte, dass Sie Vertrauen zu mir fassen. Nur so können wir Ihre Dämonen besiegen“, sagte der Arzt. Gleich darauf berichtete er von seinem Werdegang. Er führte Anna durch den Raum, zeigte auf Diplome und Zertifikate von Weiterbildungen, die er mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, und erklärte den Sinn seiner Diagnosemethoden und therapeutischen Schritte. Er protzte herum. Und doch wirkte er bei all dem derart jungenhaft stolz, dass Anna es ihm nicht übel nehmen konnte. „Zuletzt habe ich mich mit Hypnose befasst.“ Er schien ehrlich begeistert, seine Wangen hatten eine leichte Röte angenommen, seine Augen leuchteten.

„Sehen Sie“, sagte er, nachdem sie ins Sprechzimmer zurückgekehrt waren. „Ich weiß, ich bin sehr ehrgeizig. Aber glauben Sie mir, bei mir sind Sie in guten Händen.“

„Und Sie glauben, das reicht mir?“, fragte Anna. „Ich bin sicher, Sie sind ein guter Arzt und ich werde auch wieder kommen, doch nur, weil ein paar Zertifikate an Ihrer Wand hängen, vertraue ich Ihnen noch lange nicht alle meine Geheimnisse an.“

„Klare Worte“, antwortete der Arzt. „Sie müssen mir eine Chance geben, dann kann ich Ihnen helfen. Das funktioniert nicht ohne Ihre Mitarbeit.“ Mit diesen Worten entließ er sie, nachdem sie regelmäßige Therapiegespräche vereinbart hatten.

Als Anna wieder auf der Straße stand, betrachtete sie das Praxisschild. Standard, einfache Schrift auf Metall, nie und nimmer hatte das der Arzt persönlich ausgesucht.

Freitag, 3. September

Dunkelheit, undurchdringlich. Anna kneift die Augen fest zusammen. Sie hofft Umrisse zu erkennen. Aber vergeblich. Schritt für Schritt tastet sie sich vorwärts. Rotz tropft aus ihrer Nase, doch das stört sie nicht mehr. Sie fällt der Länge nach hin, schlägt hart mit dem Kinn auf den Boden. Der Dreck schmeckt widerlich. Sie spuckt aus, kann jedoch den Geschmack nicht vertreiben. Sie muss aufstehen, weiter, sich in Sicherheit bringen. Was lauert da in der Dunkelheit? Sie rappelt sich auf, läuft los. Die Stimmen werden lauter. Sie verfolgen sie. Sie sind hinter ihr her, doch warum? Was hat sie getan? Vor ihr ist Licht. Die Verfolger kommen näher, sie wird es nicht schaffen. Da ist eine Mauer. Sie springt, spürt Widerstand ehe ihre Kleider reißen, kriecht vorwärts. und wieder schließt sich die Hand unbarmherzig um ihren Knöchel.

Waren es zunächst verschwommene Bilder gewesen, drang Anna von nun an Nacht für Nacht tiefer in eine fremde Welt. Sie hörte Stimmen, die sie beschimpften, verfing sich in Stacheldraht, der in ihre Arme drückte, wurde von groben Händen zurückgerissen. Und stets entdeckte sie am Morgen neue Wunden. Hinter den Träumen stand sprungbereit die Angst, setzte sich fest in ihr. Die Übungen, die Dr. Chlodwig ihr beigebracht hatte, halfen nicht. Andauernd versuchte sie, „Realität herzustellen“. Der Quacksalber konnte viel erzählen. Im Grunde glaubte Anna, dass Angst niemanden tötete. Doch mitten in der Angstattacke, wenn der Nachhall des Traums wütete, war das vergessen.

Trotz ihres Zustands ging sie zur Arbeit. Während einer Sitzung begannen Annas Fingerspitzen zu kribbeln. Die Luft schien sich zu verdicken, sich dagegen zu wehren, eingeatmet zu werden. Anna biss die Zähne zusammen. Sie kämpfte. Ihre Position, als einzige Frau im Team, ließ es nicht zu, Schwäche zu zeigen. Zu hart hatte sie gearbeitet, um den erreichten Status leichtherzig wegzuwerfen.

Die Kollegen verschwammen vor ihren Augen, sie blinzelte, verlor die Orientierung. Warum wankte der Typ, hatte er getrunken? Mit einem Mal ging das Licht aus.

Als Anna zu sich kam, lag sie auf dem Rücken. Irgendjemand hatte einen Papierkorb unter ihre Knie geschoben. Sollten sie ruhig denken, dass ihr Kreislauf den Geist aufgegeben hatte.

„Aua!“ Sie stöhnte, als sie die Beule am Kopf ertastete.

Eine Stunde später stopfte sie sich ein Kissen in den Rücken und drosch auf die Lehne des Sofas ein. Der Chef hatte darauf bestanden, sie für heute nach Hause zu schicken. Anna mochte es nicht, wenn andere sich um sie sorgten und sie hasste es, Dank zu schulden.

Mithilfe der Beruhigungspillen, die Dr. Chlodwig ihr verschrieben hatte, konnte sie einige Stunden tief schlafen, ehe die Albträume sie von Neuem einholten. Schon am nächsten Morgen ging sie wieder zur Arbeit. Sie war früh dran, für die nächste Stunde gehörte die Firma ihr allein. Sie nutzte die Zeit, um das Büro des Chefs zu durchschnüffeln. Zuerst las sie die Anfragen, die auf seinem Schreibtisch lagen. Vielleicht wäre ja eine darunter, mit der sie sich profilieren konnte.

„Oh nein, nicht schon wieder.“ Die Durchblutung in den Händen schien nachzulassen. Schlagartig begriff Anna, wie unüberlegt sie gehandelt hatte. Was wäre, wenn sie geradewegs hinter dem Schreibtisch des Chefs, zusammenklappte? Raus hier. Sie warf die Akte auf den Tisch und stürmte zurück zu ihrem Schreibtisch. Atemlos ließ sie sich in den Stuhl fallen. Immer wieder starrte sie auf ihre Uhr. Der Rhythmus ihrer inneren Zeit hämmerte voran, fand jedoch keine Entsprechung in der Wirklichkeit. So schlimm wie heute war es noch nie gewesen. Sie verspürte den Drang, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen, immer wieder, nur, damit endlich diese Gefühle aufhörten. Alles wäre besser als das.

Als Anna am nächsten Morgen erwachte, blieb sie liegen. In der Nacht hatte sie eine Stunde lang den Esszimmertisch umrundet, getrieben, wie ein Tier im Käfig. Die gleichförmige Bewegung hatte die Angst gelindert, doch sie leider nicht aufgelöst. Der Schlafentzug gab ihr den Rest. Alle Kraftreserven waren aufgebraucht. Die Tage vergingen, ohne dass sich Annas Zustand veränderte. Es gab Momente, da fühlte sie sich besser, da fand sie Schlaf, doch niemals im Bett. Das Schlafzimmer mutierte zum Ort des Horrors. Und nun gab es nichts Essbares mehr im Haus, sie musste einkaufen. Sie stand an der Tür, seit 15 Minuten, die Klinke niedergedrückt. Sie konzentrierte sich auf die Atmung, zählte bis zehn, versuchte die Tür zu öffnen, doch der Arm gehorchte ihr nicht. Sie schloss die Augen und zählte erneut. Endlich gelang es ihr, das Haus zu verlassen.

Warum es ihr so schwer fiel und was sie auf der Straße zu befürchten hatte, wusste Anna nicht zu sagen. Diffuse Ängste fraßen ihre Vernunft gnadenlos auf. Es gelang ihr nicht, die verquere Welt in ihrem Kopf, die dafür verantwortlich war, zu beeinflussen.

In der kühlen Luft fiel das Atmen leichter. Zügig schritt Anna aus, der Rhythmus ihrer Schritte füllte ihren Geist und alle Gedanken schienen zu ihren Füßen zu strömen. Kilometer um Kilometer legte sie so zurück. Als sie am Wegrand eine Bank entdeckte, ruhte sie aus, den Blick starr auf den Horizont gerichtet. Sie durfte ihren Gedanken keinen Raum geben, sonst käme die Angst zurück. Irgendwann schlug sie den Rückweg ein. Im Supermarkt trödelte sie herum, es schien ihr unmöglich, in die Wohnung zurückzukehren. Dieselbe Wohnung, die zu verlassen sie sich vor ein paar Stunden nicht hatte vorstellen können. Sie öffnete die Haustür. Das Blut rauschte in ihren Ohren, kaum dass sie die Treppe bewältigt hatte. Sie stolperte hinein, es fiel ihr schwer, das Gleichgewicht zu halten. Schwankend erreichte sie das Sofa. Sie ließ sich fallen, wie ein Baby rollte sie sich zusammen. Schließlich ergriff sie die Decke und versteckte sich vor der Welt.

Mindestens eine Woche lang blieb Anna daheim. Nur einmal ging sie zu Dr. Chlodwig. Doch nach einigen gestärkten Stunden rutschte sie erneut in die Dunkelheit. Nur der Traum war lebendig, die Wunden sichtbar und unbegreiflich. Stundenlang starrte sie die Landschaften über dem Kaminofen an. Sie hatte sie im letzten Jahr auf den Lofoten selbst fotografiert. Anna liebte die großartige Kulisse von Norwegens Fjorden, und die Dörfchen mit den bunten Holzhäusern beeindruckten sie stets aufs Neue. Heute jedoch glitt ihr Blick hindurch in ein fernes und unbekanntes Nichts.

Das Telefon klingelte, Anna presste die Handflächen auf die Ohren. Sie wollte es nicht hören, es quälte und verhöhnte sie. Warum sollte sie das Gespräch annehmen? Mit wem auch immer sprechen? Niemand konnte ihr helfen.

Eine halbe Stunde später läutete die Türglocke. Anna öffnete nicht. Ein Schlüssel fuhr in das Schloss, der Mechanismus klickte, dann schwang die Tür nach innen. Anna wusste sofort, wer sich da unaufhaltsam näherte. Nur eine Person hatte einen Zweitschlüssel: Die eiskalte Maria.

„Was ist los?“, rief diese, kaum, dass sie eingetreten war. Sie klang ungehalten. Ohne eine Erkrankung Annas auch nur in Betracht zu ziehen, fiel Maria über sie her.

„Warum gehst du nicht ans Telefon? Oh mein Gott, wie du riechst, du solltest wirklich hin und wieder duschen.“ Maria schritt durch die Wohnung und rümpfte die Nase. „Wie lange warst du nicht im Büro?“ Anna antwortete nicht. „Meinst du, auf diese Weise kannst du Karriere machen?“ Maria gab sich die Antwort selbst. „Wohl kaum. Das lässt sich kein Unternehmen lange gefallen. Wahrscheinlich sitzt schon nächste Woche eine hübsche Universitätsabgängerin auf deinem Stuhl.“

Anna öffnete den Mund, obwohl sie nicht wusste, was sie erwidern sollte. Sie konnte auf Jahre voller Predigten zurückblicken. Wie so oft sog sie die Wange ein und zerbiss die Haut der Innenseite, bis der Schmerz in ihr Bewusstsein drang. Als sie Blut schmeckte, presste sie die Zungenspitze gegen die wunde Stelle.

„Was ziehst du für Grimassen?“, geiferte ihre Mutter. „Sieh zu, dass du unter die Dusche kommst und dann zieh dir was Anständiges an! Ich fahre dich zur Arbeit.“

„Oh Gott!“ Anna rannte ins Bad. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr den Toilettendeckel anzuheben, ehe sie die Reste des Frühstücks erbrach. In ihrer Kehle brannte Magensäure, und in ihren Augen brannten Tränen. Tränen der Angst, doch auch der Wut. In diesem Augenblick hasste sie ihre Mutter noch mehr als zuvor. Wie dumm sie gewesen war. Sie hätte es wissen müssen. Natürlich ließe sich Maria die Gelegenheit nicht entgehen, sie zu demütigen. Warum nur hatte sie ihr die Schlüssel zu ihrer Wohnung überlassen? Aber wem hätte sie ihre Zweitschlüssel anderfalls anvertrauen sollen? Es gab niemanden sonst in ihrem Leben.

Fünfzehn Minuten später stand Anna vor dem Spiegel.

„Wann lässt du endlich deine Augenbrauen ordentlich zupfen? So nimmt dich niemand ernst.“

„Hauptsache du nimmst mich ernst“, flüsterte Anna.

„Bitte, was?“

„Ach schon gut.“

Maria schien Annas Resignation zu entgehen. Das war nichts Neues. Maria ignorierte die Gefühlswelt ihrer Tochter, solange Anna sich erinnern konnte. Sie legte ausschließlich Wert auf Äußerlichkeiten. Stets klassisch in gedeckten Farben gekleidt, die Frisur seit 30 Jahren unverändert, sah sie immer gleich aus. Kein Haar hätte es gewagt, eigene Wege zu gehen. Einmal war dem Coiffeur ein Missgeschick passiert, als er die Haartönung eine Nuance dunkler gewählt hatte. Maria hatte nicht gezögert, den Mann auf Schadenersatz verklagt und selbstverständlich gewonnen. Die Sorgfalt, die sie auf ihr Äußeres verwendete, ließ sie bedauerlicherweise bei ihren inneren Werten vermissen. Freundlichkeit und Herzenswärme lagen ihrem Wesen so fern, wie die Bahamas der Mongolei. Humor war ihr fremd, gelegentlich ließ sie sich zwar zu bissiger Schadenfreude herab, ihr Wesen jedoch blieb hart und unnahbar. Nicht ohne Grund trug sie den Schimpfnamen ‚eiskalte Maria’. Wüsste sie davon, sie empfände ihn sicherlich als Auszeichnung.

Anna ergab sich in ihr Schicksal. Weder mental noch körperlich fühlte sie sich in diesem Augenblick ihrer Mutter gewachsen. Wie eine Betrunkene torkelte sie zum Auto, mehr geschoben, als aus eigener Bewegung. Dann hockte sie stumm auf dem Beifahrersitz des Mercedes‘. Sie verweigerte es, sich anzuschnallen. Ungeduldig griff Maria über sie hinweg, zerrte den Gurt aus der Führung und rammte den Bügel in das Gurtschloss. Dann startete sie den Wagen und fuhr los. Während der Fahrt plärrte WDR 4 aus dem Radio – deutscher Schlager – schon im normalen Leben eine Qual. Die Fahrt wollte nicht enden und schon wieder sang eine nasale Frauenstimme im ¾ Takt von Liebe und Glück. Anna bohrte die Nägel in die Fingerkuppen. Maria schien das Lied zu genießen, beschwingt klopfte sie den Takt mit Zeige- und Mittelfinger gegen das Lenkrad. Anna starrte die Finger an, sie verschwammen vor ihren Augen. Das Pochen wurde lauter, bis es in ihrem Kopf dröhnte.

Wie in Trance griff Anna hinüber. Bedächtig umfasste sie die klopfenden Finger und bog sie mit einem Ruck nach hinten. Maria kreischte. Mit quietschenden Reifen kam das Auto auf dem Seitenstreifen zum Stehen.

Endlich Ruhe. Anna atmete jetzt langsamer, tief und kraftvoll, so dass sich ihr Brustkorb sichtbar hob und senkte. In den letzten Jahren war sie stolz auf ihre Leidensfähigkeit gewesen, hatte die Quälereien der Mutter als sportliche Herausforderung betrachtet und sich so stets aufs Neue bewiesen, wie viel sie aushalten konnte. Doch nun hatte Maria eine unsichtbare Grenze überschritten. Schlagartig erkannte Anna, wie krankhaft dieses Muster ihr Leben vergiftete.

Bis hier hin und nicht weiter“, sagte sie. In ihrer Stimme schwammen Eisberge. Auch Annas Willenskraft ruhte für gewöhnlich, einem Eisberg gleich, im Verborgenen. Nun trotze sie der Schwerkraft. „Steig aus!“

Als Maria zögerte, sprang Anna aus dem Auto, riss die Fahrertür auf, packte den Arm ihrer Mutter und zog sie aus dem Wagen. Dann stieß sie sie von sich. Maria strauchelte.

„Wie kannst du es wagen?“ In ihrer Arroganz schien sie nicht zu bemerken, wie gefährlich sprungbereit der Hass in den Augen ihrer Tochter kauerte.

Anna öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch dann besann sich. „Ach.“ Verächtlich winkte sie ab. Sie ließ ihre Mutter stehen, drehte sich um, stieg in Marias Auto und fuhr davon.

Mittwoch, 15. September

Anna fuhr. Es gab weder ein Wohin noch ein Woher. Gas geben - schalten - bremsen. Wie in Trance bewegten sich Hände und Füße. Längst hatte sie Köln hinter sich gelassen und die Eifel erreicht. Sie folgte einer Landstraße, fuhr an Feldern vorbei, ohne den Flickenteppich aus Grün- und Gelbtönen zu bemerken.

Mit einem digitalen Warnton meldete sich der Mercedes. Die Tankanzeige blinkte hektisch. Mist, genau das fehlte noch zu Annas Glück. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als eine Tankstelle zu suchen. Jetzt endlich nahm Anna ihre Umgebung wahr. Der Wagen glitt voran. Hin und wieder durchbrach eine Felswand die unendliche Folge von Wiesen und Wäldern. Nachdem sie getankt hatte, ließ Anna die breite Landstraße, der sie seit einiger Zeit gefolgt war, hinter sich und bog ab in eine schmale, kurvige Straße. Die Bäume rechts und links standen einander zugeneigt. Tuschelnd steckten sie die Köpfe zusammen, und als der Wind in die Wipfel fuhr, erklang ein leiser Choral. Das grüne Gewölbe wich offenem Land und Anna erreichte ein Dorf. Sie verspürte keine Lust auf Zivilisation, daher bog sie erneut in eine Nebenstraße ein.

Während die Straße anstieg, veränderte sich die Landschaft. Die Wälder verschwanden in der Ferne. Das weiße Fell der Schafe tupfte Blüten in eine Wiese. Etwas abseits erhob sich ein Fachwerkhaus, umgeben von Scheunen und Ställen. Auf den Weiden käuten schwarzbunte Kühe ihre Grasmahlzeit wieder. Unter einer Baumgruppe standen ein Schimmel und ein Fuchs Nase an Nase. Dicht an die Fuchsstute gedrängt konnte Anna ein Fohlen ausmachen. Es stand auf dünnen Beinen, den spärlichen Schweif zwischen die Hinterbacken geklemmt. Plötzlich sprang es in die Höhe. Aus dem Sprung heraus stob es über die Wiese und kehrte dann an die Seite der Mutter zurück, als sei es nie fort gewesen.

Annas Gedanken glitten zurück in ihre Kindheit. Wie oft hatte sie Marias Inszenierungen über sich ergehen lassen müssen? Anna hatte sich nicht wehren können. Erst im Alter von fünfzehn Jahren hatte sie die Selbstironie entdeckt und seitdem heimlich Titel für die schauspielerischen Glanzleistungen ihrer Mutter erfunden. Da gab es die „Dreifache Drohung mit eingesprungenem Schweigen“, ein selbsterklärendes Konzept, die „Axt im Walde“, bei der Maria mit der Schärfe ihrer Stimme und der Wucht ihrer Worte Wälder abholzte. Oder Annas Lieblingsakt, das „Herzliebchen mit dem Honigmund“, ein Appell an Pflicht und Moral, der in der Regel eine Belohnung nach sich zog. Nach jeder dieser Inszenierungen folgte eine Phase der Stille, an die sich die „Friede-Freude-Eierkuchen-Phase nahtlos anschloss.

Ein elender Gestank holte Anna zurück in die Gegenwart.

„Igitt“, rief sie und trat auf das Gaspedal, um so schnell wie möglich aus dieser Dunstwolke herauszukommen. In einer Kurve, sie hatte die Biegung noch nicht ganz durchfahren, fiel ihr Blick auf ein Fahrzeug. Es stand quer und versperrte die ganze Breite der Straße. Das Rinnsal, das aus seinem Heck lief, verströmte diesen schrecklichen Gestank. Anna riss das Lenkrad herum. Es rappelte und knallte, als sie bergan über unebenes Gelände holperte. Etwas schlug peitschend gegen die Seitenscheiben. Mit aller Kraft umklammerte sie das Lenkrad, während sie in Panik nach dem Bremspedal trat. Es holperte noch einige Male, dann endlich blieb das Auto stehen.

Und wie es stand, mitten in einem Sonnenblumenfeld im Nirgendwo. Anna hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Auf einem Ortsschild hatte sie Quiddelbach gelesen, und einige Hinweisschilder auf den Nürburgring waren ihr aufgefallen. Doch danach war sie noch mehrmals abgebogen. Wie hieß das letzte Dorf, durch das sie gekommen war? Sie erinnerte sich nicht mehr.

Anna zuckte zusammen, als jemand an die Seitenscheibe des Autos klopfte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte ein Mann. „Ja Mädchen, du machst ja Sachen.“ Der Bauer öffnete die Fahrertür und hielt Anna seine schmutzige Pranke entgegen. Sie betrachtete die dargebotene Hand, deren Fingernägel dringend nach einer Nagelbürste verlangten. Der Mann schien etwa 60 Jahre alt zu sein und war von kräftiger Statur. Seine Stimme klang freundlich, und sein Lächeln wirkte vertrauenerweckend.

„Kommste klar?“, fragte er. Anna nickte stumm. „Na dann ist’ s ja gut, sonst hätt ich dich noch über de Schulter schmeißen und zum Hof tragen müssen.“ Er lachte dröhnend, ergriff Annas Arm und führte sie aus dem Feld zurück auf die Straße. Rechts und links lagen zahlreiche abgeknickte Sonnenblumen. Das Auto hatte eine breite Schneise der Verwüstung hinterlassen.

„Es tut mir leid“, sagte Anna und deutete auf das Bild der Zerstörung.

„Ist halb so wild, ist ja nichts Ernstes passiert.“ Der Bauer winkte ab. „Ich muss erst die Gülle wegbringen, dann zieh ich mit dem Schlepper den Wagen raus.“ Er schob Anna zu seinem Traktor. „Komm Kindchen, hier an der Seite kannste sitzen. Während ich noch mal losfahre, päppelt dich meine Frau mit einem schönen Stück Apfelkuchen auf. Und dazu ein kleines Körnchen, dann ist die Welt wieder in Ordnung.“

„Wenn das so einfach wäre“, seufzte Anna.

„Es ist so einfach“, antwortete der Bauer.

Nach kurzer Fahrt hielten sie vor dem Fachwerkhaus. Als der Bauer Anna hineinführte, zog sie unter dem Türsturz instinktiv den Kopf ein. Sie hielt inne, ging einen Schritt zurück und las die eingemeißelten Zahlen. 1764. Damals waren die Menschen kleiner gewesen. Heute hieß es, sich in Ehrfurcht vor dem alten Haus zu verneigen, wollte man sich nicht die Stirn anstoßen. Die Diele war voller schmutziger Kleidung. Inmitten des Chaos stand eine ältere Dame und lächelte Anna herzlich entgegen.

„Hier trägt man irgendwann die Nase nicht mehr so hoch, alte Häuser lehren Demut.“ Sie lachte und strich sich mit den Fingerspitzen über den Haaransatz, als taste sie nach einer Beule. Mit einer Geste bat sie Anna in die Stube. „Bitte entschuldige die Unordnung in der Diele, es lohnt sich nicht, hier aufzuräumen. Mein Mann nutzt sie als Schmutzraum. Hier stehen immer mindestens drei Paar schmuddelige Stiefel rum, von seinen verdreckten Wachsjacken mal ganz abgesehen.“ Sie seufzte, lächelte ihrem Mann jedoch gleichzeitig zu.

„Du Arme“, erwiderte er. In seiner Stimme lag Zuneigung. „Du hast es schon schwer mit mir.“ Er wandte sich an Anna und wies auf eine Tür. „Hier geht es ins Wohnzimmer.“

Erstaunt blickte Anna sich in dem Raum um. Eigentlich hatte sie mit einer altertümlichen Sitzgarnitur gerechnet. Aber stattdessen war das Zimmer sehr modern eingerichtet. Das Highlight jedoch hing an den Wänden. Großflächige, farbenfrohe Gemälde bedeckten die Tapete beinahe nahtlos - Blüten, Landschaften und Bilder von dicken Damen in Abendkleidern. Anna mochte den Raum und die Bilder auf Anhieb. Hingerissen betrachtete sie die fröhlichen Farben, und für einen Augenblick vergaß sie ihre Sorgen.

Als der Hausherr nach einer guten Stunde zurückkehrte, brachte er keine guten Nachrichten: Die Offroadstrecke hatte den Mercedes zwei Reifen gekostet, und es würde bis zum nächsten Morgen dauern, bis der Händler in Adenau Ersatz besorgen konnte. Mist, nun hing sie hier fest. Die Bauersleute boten Anna das Gästezimmer an. Anna zögerte, es kostete sie Überwindung, doch schließlich ging sie auf das Angebot ein. Sie durfte den Wagen nicht zurücklassen, wenn sie nicht riskieren wollte, dass Maria sie wegen Diebstahls anzeigte. Falls das nicht längst geschehen war. Anna grauste vor der eiskalten Rache, für die ihre Mutter berühmt war. Sie machte selbst vor der eigenen Tochter nicht halt, darüber war sich Anna im Klaren.

Zum Glück lenkten ihre Gastgeber sie ein wenig ab. Gemeinsam verbrachten sie den Abend in der gemütlichen Wohnstube. Nun erfuhr sie auch, wo sie gestrandet war: Der Sonnhof lag in der Nähe von Kottenborn, unweit des Städtchens Adenau. Die Bäuerin, sie nannte sich zwar so, hatte jedoch keinerlei Pflichten auf dem Hof, hatte ihre Berufung in der Malerei gefunden und sich einen Ruf in Kunstkreisen erworben. All die Bilder an den Wänden entsprangen ihrem Herzen und ihrem Pinsel. Sie hatte einen schwungvollen Stil, Anna stellte sich vor, wie sie, bis zu den Ellenbogen bunt gesprenkelt, an der Staffelei stand und den dicken Damen auf der Leinwand Leben einflüsterte.

„Ich würde auch gern solch ein Leben führen“, seufzte Anna. “Aber dafür fehlt mir die Inspiration. Alle träumen immer von der Selbstverwirklichung. Ich habe nicht einmal einen blassen Schimmer, worin ich mich verwirklichen könnte. Ich glaube, ich habe gar keine Träume.“

„Jeder Mensch hat einen Traum, du hast deinen nur noch nicht gefunden“, erklärte die Bäuerin. „Vielleicht musst du noch etwas älter werden. Ich habe in jungen Jahren auch noch nicht geahnt, wohin mich mein Weg führen würde.“

Als Anna später in dem gemütlichen Gästezimmer in ihrem Bett lag, dachte sie noch einmal über das Gespräch nach. Die Bäuerin, sie hieß Lydia, hatte in ihrem Leben zahlreiche Umwege genommen.

„Es war nicht leicht zu meiner Zeit“, hatte sie erklärt. „Da richtete man sich ganz automatisch nach dem, was die Eltern und die guten Sitten verlangten. Natürlich habe ich rebelliert. Doch erst als ich das Leben nicht einfach laufen ließ, sondern mich aktiv daran beteiligte, begann eine neue Phase.“

Tatsächlich war Annas Leben bisher an ihr vorbeigelaufen, ohne dass sie steuernd eingegriffen hätte. Die richtungsweisenden Entscheidungen hatte alle ihre Mutter getroffen und als Anna das Studium hinter sich gebracht hatte, entwickelte sich alles wie von allein. Vielleicht war sie deshalb so unglücklich? Diese Passivität konnte nicht der richtige Weg sein. Daran würde sie unbedingt etwas ändern müssen.

In dieser Nacht schlief Anna traumlos und als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich so erholt wie schon lange nicht mehr. Wer hätte gedacht, dass sich die heile Welt mitten in der Eifel versteckte? Ihr Blick fiel auf die Unterarme. In den letzten Tagen hatte Anna sie stets verhüllt, um die Wunden nicht sehen zu müssen. Selbst im Bett hatte sie langärmelige Shirts getragen. Gestern jedoch hatte sie auf ein T-Shirt der Gastgeberin zurückgreifen müssen, deshalb schauten ihre geschundenen Unterarme heute hervor. Ob sie es wollte oder nicht, sie musste nachsehen. Viele der Kratzer waren verschorft oder vernarbt, doch es gab auch einige neue. Anna seufzte. Natürlich hatten die Wunden nicht über Nacht verschwinden können, auch nicht hier in der Idylle. Entschlossen wischte sie eine Träne fort. Genug geheult. Es gab Zeiten des Leidens und Zeiten des Handelns, nun war es an der Zeit, die Dinge in die Hand zu nehmen. Sie griff zum Handy, rief die Praxis des Psychiaters an und vereinbarte noch für den gleichen Nachmittag einen Termin.

„Na, wo drückt denn heute das Pumpschen?“, fragte Dr. Chlodwig, als sie einige Stunden später in seinem Sprechzimmer saß. Immer diese Sprüche. Anna schüttelte im Stillen mit dem Kopf, verkniff sich aber, das schräge Begrüßungszeremoniell des jungen Arztes zu kommentieren. Endlich bat er sie zu erzählen, wie es ihr ergangen war. Anna zögerte kurz, doch sie hatte sich fest vorgenommen, sich diesmal ihren Dämonen zu stellen. Zuerst kämpfte sie um jeden Satz, köchelte in der Seelensuppe aus Albträumen und Ängsten. Doch mit der Zeit berichtete sie flüssiger. Der Psychiater flocht hin und wieder eine Frage ein und brachte so Struktur in Annas Erzählfluss.

Es war anders als sonst, denn heute öffnete sie ihren Schutzwall, wenn auch nur einen Spaltbreit. Als sie von den Erlebnissen des Vortags sprach, fragte der Arzt nach ihrer Kindheit.

„Ich habe früh gelernt, selbstständig zu sein. Funktionieren und Haltung bewahren! So lautete die Devise.“

„Was ist mit Ihrem Vater? Sie haben noch nie von ihm gesprochen.“

„Er lebt nicht mehr, hat sich umgebracht, als ich zehn war“, antwortete sie tonlos. Nicht nur Annas Gesichtsfarbe tendierte gen Weiß, auch der Arzt erbleichte. Anna presste die Fäuste gegen die Lippen. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme hohl. „Eine lustige kleine Geschichte. Sie hat es sogar in die Bildzeitung geschafft. Dem Kirchenrat war das bestimmt unangenehm. Da hat sich doch der Küster vom eigenen Kirchturm gestürzt und seine Eingeweide auf den Stufen vor dem Eingang verteilt.“

„Himmel“, entfuhr es Dr. Chlodwig.

Anna ließ den Erinnerungen nun freien Lauf. Sie sprach darüber, wie sehr sie sich vor der Dunkelheit gefürchtet hatte. Sie war vielleicht sieben oder acht Jahre alt gewesen, als die Angst sie zum ersten Mal berührte. Sie hatte versucht sich zu verstecken, sich wimmernd, wie ein Baby zusammengerollt. Dennoch, das Entsetzen hatte sie gefunden – monatelang - jede Nacht. Der Vater hatte an ihrem Bett gesessen, ihr zauberhafter, viel zu weicher Papa. Ihre Hand hatte in der seinen geruht. Er hatte sie nicht schützen können, schon damals war sie auf sich selbst gestellt gewesen.

Hätte er nur etwas mehr Lebenskraft gehabt. Er fehlte Anna jeden Tag. Sie wollte ihn als liebevoll und warmherzig in Erinnerung behalten, doch stets sah sie nur diese grauenhaften Bilder, sie ließen sich nicht wegschieben, sie kamen ungefragt und Anna musste sie aushalten. Ihr Vater auf den Stufen vor der Kirche, verrenkt, wie ein Hampelmann. Die Wade unterhalb des Knies nach oben abgeknickt, lag er in seinem Blut. Er war kaum noch zu erkennen gewesen, ein schiefer Mund, eine Grimasse, mit der er sie anzusehen schien. Den lebendigen Vorwurf in den Augen des Toten hatte sie nicht vergessen können – bis heute.

Die eiskalte Maria hatte ihn in den Tod getrieben. Gespottet hatte sie über Annas Vater, ihn Weichei genannt und ihn ausgelacht mit ihren Freundinnen. Wie eine Dressurnummer hatte sie ihn vorgeführt, sie hatte ihn aufgebraucht. Danach war die Erziehung ihrer Mutter eine Qual gewesen. Körperliche Übergriffe hatte es nicht gegeben, Marias Methoden waren subtiler. Wenn Anna funktionierte, bekam sie hin und wieder etwas Wärme und wenn sie versagte, kehrte Stille ein.

Nur selten hatte Anna ihren Willen durchgesetzt. Sie konnte sich gut erinnern, mit welchen Worten sie mit vierzehn von der Mutter zu deren Kosmetikerin geschleppt worden war.

„Du kannst nicht früh genug lernen, dich zu pflegen. Du bist keine Schönheit, da musst du wissen, wie du das Beste aus dir heraus holen kannst.“

Erst hatte die Kosmetikerin sich mit Annas Akne beschäftigt, bis Tränen geflossen waren, doch dann hatte sie begonnen, an Annas rechter Augenbraue zu arbeiten. Büschelweise hatte sie die Haare ausgerissen, bis Anna vor Schmerz um sich schlug.

„Nein, sofort aufhören!“, hatte sie gebrüllt. Da erst hatte die Frau von ihr abgelassen.

„So können Sie doch nicht vor die Tür“, hatte sie gesagt, aber darin sollte sie sich getäuscht haben. Und ob Anna gekonnt hatte. Maria hatte ihr befohlen, zurückzugehen, doch Anna hatte sich geweigert. Seitdem hatte diese Weigerung Bestand, ein sichtbarer Beweis, dass sie sich doch nicht uneingeschränkt der Macht der Mutter unterwarf. Wie eine Trophäe prangte die linke Braue unangetastet über ihrem Auge.

Anna war stets allein gewesen, Freunde kannte sie nicht. Der eiskalten Maria war niemand gut genug gewesen, um mit ihm Umgang zu pflegen. Und spielen, die Fantasie fließen lassen oder einfach nur Fahrrad fahren, war Anna nach dem Tod des Vaters schlichtweg verboten. Sie wurde gedrillt, gedrillt auf Erfolg, gedrillt auf Haltung, gedrillt auf Rücksichtslosigkeit und Egoismus. Zuletzt - das war die entscheidende Lektion gewesen - gedrillt auf Manipulation. So hatte sie gelernt, bei anderen Menschen die Schwachstellen aufzudecken und für ihre Zwecke zu nutzen. Sie hatte gelernt, Freundlichkeit oder Großzügigkeit vorzutäuschen und sie hatte gelernt, die Menschen fallen zu lassen, sobald sie den gewünschten Nutzen erbracht hatten.

„Nur keinen Ballast ans Bein binden“, war Marias Devise gewesen. Anders als Anna schreckte Maria nicht davor zurück, ihre Opfer zu vernichten. Aber dieses Verhalten hatte Anna sich nicht zueigen gemacht, Manipulation setzte sie gern und oft ein, doch willentlich einen Menschen zu zerstören, lag ihr fern. Dennoch hatte sie bis heute keine Freunde, niemand hielt es lange mit ihr aus. Sobald die Menschen bemerkten, dass es nur um Annas Vorteil ging, zogen sie sich zurück.

Dr. Chlodwig hörte Anna zu, ohne sie zu unterbrechen. Je länger sie sprach, an desto mehr Details erinnerte sie sich. Lange hatten sich diese hinter einer Mauer verborgen. Anna hatte die Barrikade in Kindertagen errichtet, Stein für Stein hatte sie aufgebaut und die Ängste und die Trauer um den Vater dahinter versteckt. Jetzt drängte das Seelenleid aus ihr heraus und durchtränkte Dutzende von Taschentüchern. Es war Anna nicht klar gewesen, wie sehr die Vergangenheit, obwohl sorgsam verbarrikadiert, Einfluss auf sie hatte. Als diese Erkenntnis in ihren Verstand vordrang, kam sie endlich zur Ruhe.

„Wie geht es Ihnen jetzt?“, fragte der Arzt, nachdem beide eine Weile geschwiegen hatten.

Gute Frage. Anna schluckte. Wie ging es ihr?

„Ich kann es nicht beantworten.“ Sie stockte. „Ich bin erschöpft. Und auch irgendwie - irgendwie erleichtert.“

„Erleichtert ist ein gutes Wort. Sie haben Ballast abgeworfen, nun dürfen Sie sich getrost leichter fühlen.“

„Hören diese Albträume jetzt auf?“

„Das wird sich zeigen. Vielleicht erwarten Sie erst einmal nicht zu viel. Es ist nur ein Anfang. Wappnen Sie sich gegen die Träume und gegen die Angst. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, aber der erste, der entscheidende Schritt, der ist getan.“ Mit diesen Worten entließ Dr. Chlodwig Anna aus seiner Praxis. Ihre 50 Minuten waren herum.

Sie schleppte sich nach Hause. Sie war so kaputt, als hätte sie allein ein Mannschaftsturnier gegen das Ringerteam ihres Gymnasiums bestritten. Der Tag war anstrengend gewesen, doch auch befreiend.

„Ha!“, rief sie dem Lenkrad zu. „Ab jetzt geht es aufwärts.“ Sie würde sich die Welt zurückerobern. Doch zunächst brauchte sie ein bisschen Schlaf. Sie schloss die Tür ihrer Wohnung auf, ging auf direktem Weg ins Schlafzimmer, zog sich aus und kletterte ins Bett. Unter der Decke ringelte sie sich wie ein Eichhörnchen zusammen, gähnte ein letztes Mal und fiel bald in einen leichten Schlummer. Sie schlief noch nicht lange, als der Albtraum erneut von ihr Besitz ergriff.

Donnerstag, 16. September

Anna flieht, Dunkelheit umfängt sie. Sie hört die Stimmen und rennt vor ihnen davon. Stacheldraht bohrt sich schmerzhaft in ihre Haut. Und dann ist sie da: Die Hand, die ihren Knöchel umfasst.

Mit einem Mal schiebt sich ein anderes Bild vor die Szenerie. Die Spieluhr, die sie als Kind so liebte. Papa hatte sie ihr geschenkt und auch nach seinem Tod spürte sie seine Gegenwart, wenn leise ‚Guten Abend, gute Nacht’, erklang. Aber jetzt, immer wenn sie nach ihr greift, verschwindet die Spieluhr. Sie sucht danach, fleht, ruft und hört die Mutter lachen. „Der Müllwagen hat die Spieluhr mitgenommen. Werd endlich erwachsen!“

Die Spieluhr schwebt mitten im Raum, umgeben von grauer Unendlichkeit, eine Miniaturspielzeugkiste bemalt mit zierlichen Blüten. Ein Teddybär lacht ihr entgegen, eine Giraffe grinst und wackelt mit dem Kopf. Auch ein Püppchen mit Hütchen sitzt da und hinten thront ein Kasper mit einer gestreiften Mütze. Er feixt. Mit einem Mal verändert sich sein Gesicht, wirkt beinahe menschlich, wenn auch ein wenig verwaschen. Ihr scheint, als ähnelten die Züge vage denen ihres Papas, doch sogleich verschwimmt das Bild wie eine Spiegelung in bewegtem Wasser. Die Stimme, die zu ihr spricht, ist ihr unbekannt, doch sie gleitet in ihr Herz und bindet ihre Seele. Der Augenblick ist wahrhaftig, präsent und sie weiß: Es ist nicht nur ein Traum.

Anna erwachte. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen, andernfalls könnte ihr der Traum entgleiten. Zu ihrem Erstaunen blieb sie ruhig, obwohl die Stimme ihr keineswegs Positives gesagt hatte. Im Gegenteil, es war eine Warnung gewesen.

Wieder und wieder sagte sie die Worte auf, die sie im Traum gehört hatte. Erst als sie sicher war, keines der Worte aus ihrem Gedächtnis zu verlieren, löste sie die Starre, schaltete das Licht ein und warf einen Blick auf den Wecker. Viel Schlaf war ihr nicht vergönnt gewesen. Es war erst kurz vor zwei. Sie schwang die Beine aus dem Bett, schlang die Decke um ihren nackten Körper und tappte in ihr Arbeitszimmer hinüber. Dort setzte sie sich an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Es dauerte einen Moment, bis das Programm startete. Na endlich. Anna öffnete ein leeres Dokument und begann zu tippen. Zeile um Zeile schrieb sie nieder, und mit jedem Wort, das auf dem Bildschirm erschien, spürte sie die wachsende Bedrohung.

Anna“, stand da. „Du darfst nicht länger warten. Du musst handeln. Dein Leben ist bedroht, schon jetzt greift die Vergangenheit in deine Welt. Fürchte dich nicht, sei mutig und triff deine Wahl. Aber bedenke, dein Handeln wirkt wie ein Regentropfen, dessen Aufprall das Wasser noch lange danach mit weiten Kreisen überzieht. Deine Entscheidungen führen dich auf die Wanderschaft. Wähle den Weg durch die Säulenhalle der Zeit. Dort kannst du Hilfe und Rettung finden.“

Mysterien der Zeit

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