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Kapitel 2: Im Wald

»Anton, kannst du mit der Kettensäge die Baumstämme da hinten zerteilen? Ich entaste derweil den großen hier vorne«, ruft Franz seinem Sohn zu.

Anton ist mittlerweile achtzehn und liebt das Arbeiten im Wald. Das Knacken, wenn die Bäume gefällt werden, die erstaunliche Wucht, die sich entfaltet, wenn sie umstürzen und sich ihren Weg durch andere Bäume und das Geäst der Blätterkrone bahnen, ist beeindruckend. Dabei begraben und zermalmen die hölzernen Riesen kleinere Pflanzen und Tiere unter sich, die sich aufgrund ihrer festen Verwurzelung oder der eingeschränkten Perspektive in Richtung Himmel nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Nur jene, welchen es gelingt, Reißaus zu nehmen oder sich in eine Höhle, ein kleines Erdloch zu flüchten, bleiben am Leben, mitunter zugedeckt von einem tonnenschweren Stamm oder einer rauschenden Blätterkrone.

Wo auch immer man in diesem Stück Natur geht und steht, begleiten einen die unterschiedlichsten intensiven Gerüche, die einen benommen machen, so feucht und moosig und schwer.

Mit geübtem Griff zerteilt Anton die Baumstämme zum Abtransport. Die frischen Schnittstellen verströmen ihren eigenen unverwechselbaren, bisweilen sogar fruchtig anmutenden Duft. Hier in diesem Wald fühlt sich für ihn alles wie eins an.

Sogar der gestrige Streit mit Marie scheint weit entfernt. Was wohl urplötzlich in seine Schwester gefahren war? Angeblich hatte sie Antons Freundin mit einem seiner Freunde gesehen. »In eindeutiger Umarmung«, wie sie zu betonen nicht müde wurde. Er hatte ihr keinen Glauben schenken wollen. Daraufhin war sie förmlich an die Decke gegangen, schreiend, kreischend, unversöhnlich.

Zu Antons Leidwesen vertreibt die laute Säge, mit der er heute hantiert, die wilden Tiere, die er ansonsten nicht müde wird zu beobachten. Sogar im frühen Morgengrauen, auch gerne nach durchfeierter Nacht, harrt er bisweilen stundenlang auf dem Hochsitz aus. Diese zarten, zum Teil aber auch mächtigen Tiere, faszinieren ihn.

Sein Vater ist Jäger, aber er, der Sohn, will noch nicht schießen. Vorgestern im frühen Morgengrauen ist er erst noch mit seiner Freundin hier gewesen. Sie hatte vermutlich gedacht, er wolle sie auf dem Jägerstand zu etwas überreden, und immerfort nervös an sich herumgezupft. Erst nach mehrmaliger Ermahnung hatte sie endlich Ruhe gegeben. Wenigstens hatte Anton danach in einiger Entfernung noch ein Reh ausmachen können.

Marie ist ebenfalls bei der Waldarbeit dabei. Routiniert zersägt sie eine Baumkrone, entastet sie mit geübter Hand. Es sieht so aus, als bereite ihr dies alles keine Mühe. Als Nächstes müssen geeignete Tannen für den Weihnachtsverkauf markiert werden.

Dieses Stück Wald ist ihr Zuhause. Jahr für Jahr ist sie hier mit dem Vater bei der Arbeit, kennt die Bäume, weiß, wo es die schmackhaften Beeren gibt und an welchem Ort die besten Pilze zu finden sind.

Voll Sorge erkennt sie, dass der Borkenkäfer mit einigen Bäumen wieder einmal unbarmherzig umgesprungen ist. Es ist ihr, als wären die Bäume, jeder einzelne von ihnen, ihre alten Bekannten. Voll Mitgefühl spürt sie das stumme Leid der sterbenden Giganten, wenn sie langsam vergehen. Der weiche Untergrund gibt federnd nach und für einen winzigen Augenblick hat sie das Gefühl zu versinken, obwohl sie durchaus fest auf dem Boden steht.

»Dieser Hornochse von meinem Bruder«, denkt sie dabei an die gestrige Auseinandersetzung zurück. »Sieht den Betrug nicht, selbst wenn er direkt vor seiner Nase geschieht.«

Die Tage werden kürzer. Die kleinen und mittelgroßen Tannen werden gefällt und zum Verkauf gebracht. Ein Weihnachtsbaum von zwei Metern wird zwischen acht und zwölf Jahre alt, ehe er fällt.

Antons Freundin ist, wie sich herausstellte, wohl wirklich nicht mit besagtem Freund unterwegs gewesen, allerdings, wie sie schlussendlich gesteht, mit einem anderen. Ob Marie gelogen oder sich nur geirrt hatte, bleibt für Anton letztlich ungeklärt, obwohl er wenigstens ihr gerne vertrauen möchte. Es herrscht wieder Frieden.

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