Читать книгу Erzählwege - Regina Richter - Страница 8

Оглавление

Kapitel 3: Der Tag

Am dritten Tage des neuen Jahres gehen alle vier Mitglieder der Familie Reichert ihren eigenen Belangen nach. Im Nachhinein wird sich jeder Einzelne von ihnen genau daran erinnern, wie und wo er diese entscheidenden Stunden verbracht hat. Für den Rest seines Lebens. »Wäre vielleicht alles anders gekommen, wenn …?«, ist die Frage, die zu stellen keinen Sinn ergibt.

Der Traum von Sonne und Strand angesichts meterhohen Schnees und absehbaren weiteren drei Monaten Kälte ist sehr verführerisch. Marie ist bei ihrem Freund Markus, nur zehn Minuten vom elterlichen Hof entfernt, wo seine Eltern in einer Art Luxusbungalow wohnen. Das junge Paar lässt sich treiben von der Sehnsucht nach kurzen Hosen und Sommerkleidern. Pfingsten wollen sie von ihrem Weihnachtsgeld das erste Mal allein, ohne Eltern, Freunde oder Zelt im Gepäck verreisen.

Ihre Mutter hat ihr nahegelegt, das Geld lieber zu sparen, am besten gleich für einen Kinderwagen, und seine Mutter versteht nicht, wie man nicht nach Thailand oder Hawaii fliegen kann, wenn es hier schrecklich kalt ist, anstatt im Frühling nach Griechenland. Im Spannungsfeld derer, die sich angeblich niemals einmischen würden, sind sie auf der Suche nach dem Eigenen.

Markus, der sich mitten im Studium befindet, verbringt nur mehr seine Ferien zu Hause auf dem Dorf. Die beiden jungen Leute kennen sich schon seit Kindheitstagen.

Marie ist Erzieherin im gemeindlichen Kindergarten und bislang geht alles seinen geregelten Gang. Ein wenig ängstigt Marie sich vor dem, was wohl auf sie zukommen mag, sobald ihr Freund sein Studium beendet hat. Ab diesem Zeitpunkt wird es nicht mehr nur den Einfluss ihres Umfelds geben, das alles ganz genau zu wissen glaubt, sondern auch seine Wünsche. Und die ihren? Mit ausgestreckten Armen schiebt sie die damit zusammenhängenden Gedanken ganz weit von sich.

Alles weiß, knirschender Schnee, unerschütterlich blendende Sonne. Es scheint warm und doch sind die Finger und das vordere Ende der Nase kalt, lassen sie sich doch von der vorherrschenden Hochstimmung nicht täuschen.

Mit seinen neuen Skiern und drei Freunden ist Anton auf dem Berg. Unermüdlich fahren sie den Hang hinab. Für Anton ist dies viel mehr als nur eine rhythmisch gleitende Bewegung in Richtung Tal. Er hat das erhabene Gefühl, genau in diesem Augenblick hierher zu gehören, als könnte dies der einzig ewige Moment seines Lebens bleiben. Nur er für sich, ohne nichts und niemanden, auch ganz ohne seine Familie.

Beinahe erschrickt er ein wenig, als ihm dieser Gedanke ins Bewusstsein dringt, doch schließlich, so beruhigt er sich, wird es niemals so weit kommen.

»So etwas nennt man wohl flow!«, ruft er seinem Freund im Schlepplift zu.

»Powder, Anton, powder.«

»Genau, flowpowder.« So einfach konnte das Leben sein.

Weihnachten, erster Weihnachtsfeiertag, zweiter, Silvester. Carola ist mit dem Auto auf dem Weg zu ihrer Mutter. Die Feiertage sind vorbei, ihre Kinder Anton und Marie ohnehin schon wieder auf Achse und ihr Mann Franz hat sich vorgenommen zu Hause in Ruhe einiges aufzuarbeiten.

Zum Glück ist Carola dieses Jahr an der Reihe gewesen, die Oma an Heiligabend auf den Hof zu holen, so dass sie nicht den ganzen Abend über ihr nagend, besser gesagt beißend schlechtes Gewissen wie im Jahr zuvor hatte ertragen müssen. Sie verabscheut diese Sorte von Gefühl, das sich bis tief in die Knochen hinein festsetzt und einem das Gewicht einer jeden Bewegung bewusst macht. Auch wenn sie im eigentlichen Sinne keine Schuld trifft, so sucht sie diese unangenehme Empfindung dennoch jede zweite Weihnacht heim. Deshalb ist sie überaus froh, es dieses Jahr vor sich selbst wiedergutgemacht zu haben.

Carola hat noch eine ältere, eigentlich sehr umgängliche Schwester, die leider einen Tyrannen zum Mann genommen hat, der es liebt, einen jeden bloßzustellen, mit besonderer Vorliebe seine Frau und seine Schwiegermutter. Vor vielen Jahren schon hatten die Schwestern untereinander abgemacht, dass ihre Mutter die Feiertage im Wechsel einmal bei der einen und einmal bei der anderen Tochter verbringen sollte. Auch wenn Carola daran nichts ändern kann, so weiß sie, wie sehr ihre Mutter unter diesem Arrangement seit jeher leidet.

Sie selbst als die sicherlich Stärkste in diesem Gefüge hätte sich dringend zu einem klärenden Machtwort durchringen und sich schützend vor ihre Mutter stellen müssen. In ihrer Vorstellung allerdings sah Carola ihre Schwester in dem Moment, in dem sie es wagen würde, Tacheles zu sprechen, vor Enttäuschung in tausend Stücke zerbrechen. Sich selbst für diesen Scherbenhaufen verantwortlich zu zeichnen, bringt sie beim besten Willen nicht über sich.

Heute will sie ihrer Mutter die restlichen Plätzchen, die sie zuvor in der Adventszeit in mühevoller Kleinarbeit gebacken und dekoriert hatte, mitbringen. Nach Weihnachten isst das Gebäck zu Hause ohnehin keiner mehr und die alte Frau wird sie bestimmt noch bis Faschingsdienstag glücklich und voll Dankbarkeit in ihren morgendlichen Kaffee eintunken. Dieser Gedanke lässt Carola unweigerlich schmunzeln.

»Was machen eigentlich die Kinder heute? Und wie geht es Franz?«, will die alte Frau von ihrer Tochter wissen, als sie wenig später einträchtig beisammensitzen.

»Was wollte ich jetzt eigentlich machen?«, greift Franz sich an den Kopf. Das Denken fällt ihm heute irgendwie schwer, als ginge es um eine tausendstel Sekunde langsamer als sonst. Für einen Augenblick setzt er sich an den Küchentisch, um ein Glas Wasser zu trinken und die Ruhe des Alleinseins zu genießen.

Er rekapituliert die Ereignisse des Morgens, sich fragend, warum er ihn eigentlich als so überaus anstrengend empfunden hat. Anton war schon sehr früh schwer bepackt mit seiner Skiausrüstung losgezogen und Marie hatte nach dem immer wiederkehrenden Gespräch mit ihrer Mutter um Kinderwägen entnervt das Haus verlassen.

Warum Carola ihre Tochter mit diesem leidigen Thema nicht in Frieden lassen konnte, ist für Franz unverständlich. »Was vermisst Carola denn so sehr, dass sie unbedingt mit vierundfünfzig Großmutter werden will?«, murmelt er vor sich hin.

Franz ist jetzt neunundfünfzig und drängt seine Tochter bestimmt nicht in den Hafen der Ehe und zu einer Schar von Kindern, wünscht er sich vielmehr, dass sich seine Kinder so frei wie irgend möglich fühlen und in ihrem noch jungen Leben entfalten können. Für alles andere bliebe später immer noch genug Zeit.

Die Feiertage sind zugegebenermaßen strapaziös gewesen, geprägt von zu viel Essen auf der einen und zu wenig Schlaf auf der anderen Seite. Seit ein paar Tagen ist ihm zudem ab und an leicht schwindelig. Vielleicht, so vermutet er, sind es auch nur die Nachwirkungen der äußerst ausgiebig begangenen Silvesternacht.

Trotz des latenten Unwohlseins kommt für Franz ein untätiger Tag im Bett nicht in Frage. Jetzt, da endlich einmal alle für ein paar Stunden aus dem Haus sind, möchte er sich an die Buchhaltung machen, den Erlös aus dem Weihnachtsbaumverkauf berechnen und sich an die Planungen für das kommende Jahr setzen.

Seine Frau hatte die gute Idee, die Imkerei weiter auszudehnen und Interessierte dafür an den Hof zu locken. »Bienen sind voll im Trend«, hat Carola gemeint. Andere Imker könnten bei ihnen ihre Kästen unterstellen, Wissbegierige sich informieren. Seine Aufgabe ist es nun, dafür die Werbetrommel zu rühren.

Unter dem Küchentisch stupst der Hund ihn mit seiner feuchten Schnauze an. »Ja, Oskar, du bist ja mein Guter«, tätschelt er ihn. »Nachher gehen wir noch in den Wald und sehen an der Futterkrippe nach dem Rechten.«

Der Wald ist für Franz so etwas wie ein zweites Wohnzimmer. Einfach so in einem fremden Wald herumzuspazieren würde ihm nie in den Sinn kommen, aber ein eigenes Stück davon zu besitzen und die dazugehörigen Bäume, Pflanzen und Tiere zu hegen und zu pflegen, erfüllt ihn mit Stolz. Dieser Flecken Natur erscheint ihm wie eine Verlängerung seines eigenen Hauses, ein Freiluftraum unter einem dichten Blätterdach, in dem alles möglich ist, essen, arbeiten, reden, lachen, leben.

Er selbst betrachtet sich als einen Teil des Waldes und dieser ist wiederum ein unverrückbarer Part von ihm, genauso wie es einst bei seinem Vater und davor bei seinem Großvater gewesen ist. Er weiß, dass sich auch Anton und Marie jeder auf seine eigene ganz besondere Art und Weise tief mit dem ganzen Hof, aber vor allem mit dem Wald verbunden fühlen.

Marie ist so stark mit allen Lebewesen in dieser saftigen grünen Natur verwurzelt, dass es Franz vorkommt, als lebte seine Tochter förmlich mit den Moosen, Bäumen, kleinen Flechten, Hasen und Mäusen des Waldes. Bis auf das letzte weiße Hemdchen würde sie alles mit den Bewohnern des Waldes teilen, um am Schluss über und über mit Laub und Beeren belohnt zu werden.

Bei Anton verhält es sich etwas anders. Franz hat den Eindruck, sein Sohn könne inmitten all dieser Natur vor allem eines, nämlich klarer denken. Seine Sinne wirken hier geschärfter, seine Atmung konzentrierter als irgendwo sonst.

Bei der Wendeltreppe, die in den Keller führt, nimmt Franz meist freihändig zwei Stufen auf einmal, doch heute hält er sich lieber, Schritt für Schritt, am Geländer fest. Erneut ist ihm schummrig zumute, sein Kopf fühlt sich an wie mit Schaumstoff umhüllt.

»Werde ich mir doch keine Grippe eingehandelt haben. Dafür habe ich jetzt überhaupt keine Zeit«, argwöhnt er, gleichzeitig energisch beschließend sich nicht weiter damit zu beschäftigen.

Im Untergeschoss hat Franz sich ein kleines Büro, ausgestattet mit einem Computer, einer leistungsstarken Musikanlage und ein paar Hanteln für zwischendurch, eingerichtet. Schwungvoll dreht er die Anlage auf – »heute kann ich ja mal lauter also sonst« – fährt den Rechner hoch – »ah, den Kaffee habe ich vergessen« – steht auf, um ihn zu holen – »was soll denn schon wieder dieser Schwindel« – will sich wieder hinsetzen, seine Knie geben nach – »wir sollten öfter tanzen gehen«, denkt er sich völlig unzusammenhängend – rutscht weiter – verliert das Bewusstsein.

Der Bürostuhl hat Armstützen. Schief, halb am Boden, hängt Franz zwischen einer der Lehnen und der Sitzfläche unglücklich mit dem Kopf fest, als Carola ihn endlich nach wer weiß wie langer Zeit findet.

Verwundert und merklich eingeschränkt erwacht Franz erst im Krankenhaus wieder. Ohne Wenn und Aber lautet die Diagnose Schlaganfall. Das Sehen bereitet ihm Probleme, die rechte Hand, vielmehr die ganze rechte Seite scheint nicht mehr zu gebrauchen zu sein und auch die Worte, sie wollen nicht so recht heraus zwischen den rechts leicht nach unten hängenden Lippen.

Die Krankenhaustage bringen Geschäftigkeit mit sich, zusätzlich müssen zu Hause die Tiere und der Hof versorgt werden, doch an den ruhigen Abenden erlöst die zurückgebliebene Familie leider keine alltägliche Ablenkung von ihren Sorgen.

Schweigend sitzen die Geschwister mit ihrer Mutter um den vertrauten Tisch, der nun kaum noch einladend wirkt. Auch wenn nur eine Person fehlt, so scheint diese Holzplatte auf vier Beinen, eines der bisherigen Kernstücke der Familie, komplett leergefegt zu sein. Aussagen von Ärzten werden wiedergekäut, muss doch der Raum auf irgendeine Weise, notfalls mit bereits Bekanntem, gefüllt werden.

Dann passiert es endlich und zugleich viel zu früh. Auch wenn sich an seinem gesundheitlichen Gesamtzustand nur wenig geändert hat, wird Franz aus der Klinik entlassen. Die nach wie vor bestehende rechtsseitige Lähmung macht für ihn nicht nur ein selbstständiges Fortkommen ohne Rollstuhl unmöglich, die unnütze Hand schränkt ihn zudem derart ein, dass er bei zahllosen alltäglichen Verrichtungen dauerhafte Unterstützung benötigt. Auch sein Sprechen, sogar seine Stimme sind verändert, wenn er nun langsam und gepresst um die passenden Worte ringt. Einzig und allein das Sehen hat sich deutlich verbessert, was erfreulich ist, die anderen Defizite dennoch nicht auszugleichen vermag.

Seitdem der Vater wieder zu Hause ist, zieht sich die Mutter nach ihrem vollbrachten Tagwerk immer zeitiger zurück, um ihre Augen versteckt vor den Blicken der Kinder mit Tränen zu füllen und den Tag für sich selbst nicht unnötigerweise in die Länge zu ziehen. Der Schlaf, dem sie manchmal ein wenig nachhelfen muss, ist in seiner Abgeschiedenheit vom wirklichen Leben derzeit ihr bester Freund. Ihre sichtlich von der Situation betroffenen Kinder lässt sie im restlichen Licht des ausgehenden Tages auf sich gestellt zurück.

Meistens sitzen Anton und Marie dann noch für eine Weile in der Wohnküche zusammen, aber ihre Unterhaltungen gestalten sich äußerst mühsam. Früher spielten sie das Spiel, wer als Erster spricht, hat verloren. Jetzt haben die Ereignisse den einst harmlosen Zeitvertreib ins Gegenteil verkehrt. Das erste Wort bekommt den Zuschlag.

»Was hat das alles zu bedeuten?«, wagt Anton sich vor, nachdem die Mutter sich an einem Abend früher denn je zurückgezogen hat. Als Marie zu ihm aufsieht, wiederholt und ergänzt er seine Frage: »Was bedeutet das jetzt für uns?«

Zaghaft schüttelt sie lediglich den Kopf.

»Erzähl mir eine Geschichte, Marie, eine Geschichte darüber, wie das hier ausgehen wird«, fleht Anton seine ältere Schwester beinahe flüsternd an, während er die Hände gefaltet in ihre Richtung reckt. »Ich brauche einen Anhaltspunkt. Was soll ich anfangen mit meinem Leben? Wie und wofür soll ich mich entscheiden?«

»Anton, du bist kein Kind mehr«, startet Marie ihren Versuch, sein Ansinnen abzuweisen. »Wir sollten …« Mitten im Satz hält sie inne, während sie ihren Bruder abwägend taxiert.

Aus Erfahrung weiß sie, dass er nicht eher aufgeben wird, als dass sie sich geschlagen gibt. Zudem macht er, zusammengesunken wie er vor ihr sitzt, einen überaus elenden Eindruck.

Sie kann nicht anders, sie muss ihm helfen. »Also gut, ich habe eine Idee, die durchaus Sinn machen könnte«, gibt sie sich einen Ruck. »Wir können sie gemeinsam durchgehen, unsere zukünftigen Lebensgeschichten in verschiedenen Varianten, soweit das überhaupt möglich ist. Sozusagen erzählen wir uns unsere Zukunft gegenseitig vorneweg. Vielleicht fällt es dir danach leichter, dich durch den derzeitigen Dschungel zu navigieren. Aber ich brauche dabei deine Unterstützung.«

Auffordernd blickt sie den kleinen Jungen von einst an. »Ein Kneifen von deiner Seite gibt es dieses Mal nicht, verstanden?« Marie hat Lunte gerochen. Vielleicht konnte diese Unternehmung durchaus interessant werden.

»Einverstanden«, signalisiert ihr Anton mit einem Nicken.

»Gut.« Marie befindet sich sichtlich in ihrem Element. »Der Plan sieht wie folgt aus. Zuerst schaffe ich die allgemeinen Grundlagen der Geschichte, sozusagen eine gemeinsame Basis. Von dieser ausgehend entwerfen wir im Anschluss unsere jeweiligen Wege, welche auf allen zuvor getroffenen Entscheidungen fußen müssen.«

»Wie bei den Mäusegeschichten?«, versucht Anton sich selbst aufzuheitern.

»Ganz genau, nur mit dem Unterschied, dass der Ausgang bei uns leider gewiss ist.«

Mit großen Augen, den Blick nach unten gerichtet, starrt Anton betroffen vor sich hin.

Ohne weiter auf ihren Bruder einzugehen, fängt Marie an von dem zu erzählen, was sein könnte oder vielleicht einmal werden wird, und so beginnt eine sehr lange Nacht mit ihren möglichen zukünftigen Leben.

Erzählwege

Подняться наверх