Читать книгу Krähenflüstern - Regine Kölpin - Страница 6
1968
Оглавление»Du musst verstehen, dass du nicht bleiben kannst, hörst du?« Die Stimme ist weich, streichelt ihn mit den Vokalen. Die Hand gleitet über seine dunklen Haare. Als sie damit aufhört, greift sie ohne zu zögern in seinen Schrank, zieht die Sachen heraus und packt den Koffer. »Ich gebe dir etwas von mir mit«, sagt sie und reicht ihm eine durchsichtige Tüte mit einer kleinen blonden Haarsträhne. »Ich werde immer an dich denken, aber jetzt kann ich nicht mehr bei dir sein. Später werde ich dich wieder holen. Ganz bestimmt. Verlass dich drauf!«
Sie schließt den abgeschabten Koffer, der dabei ein leises Ächzen von sich gibt. Zur Befestigung zurrt sie einen Gürtel darum. Der Junge freut sich ein bisschen auf die große Reise, aber er hätte es schöner gefunden, wenn sie mitgekommen wäre.
Angst hat er nicht, denn ihre Stimme klingt recht fröhlich und sie plappert munter weiter. »Du kommst zu netten Leuten. Leute, die fest an Gott glauben und gut auf dich aufpassen werden.«
Er kennt die Leute aus der Kirche. Sonntags gehen sie immer dorthin. Es ist warm und hinterher gibt es Kekse und Tee.
Er nickt. Alles ist halb so wild. Sie würde ihn wieder zu sich holen, ganz bestimmt. Sie hat es gesagt.
»Du musst lange fahren«, plaudert sie weiter und steckt ihm ein Malbuch ein. »Damit es nicht langweilig wird.« Ihre Stimme klingt jetzt doch komisch. Als ob sie weinen würde, wenn sie weiterredet. Und so sagt sie nichts mehr, schaut nur immer wieder aus dem Fenster.
Als der weiße VW-Bus mit der roten Schrift auf den Hof rollt, nimmt sie ihn in den Arm und versinkt mit ihrer Nase ganz in seinem Haar. »Es ist nur für kurz, mein Kleiner. Bestimmt. Nur für kurz. Bis ich es hier im Griff habe. Vertrau mir!«
Sie winkt ihm hinterher, bis er um die Ecke gefahren ist. Er starrt aus dem Fenster, wo die Bäume an ihm vorbeisurren. Der Mann am Steuer hat noch nichts zu ihm gesagt. Der Junge nimmt seinen Plüschhasen und zieht ihn vor das Gesicht. Der Hase ist der Einzige, der merken darf, dass er doch weint.
Sie würde ihn holen, hat sie gesagt. Ihre blonden Haare würden sich mit seinen vermischen, so wie es immer gewesen ist.