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Lebenslüge mit Todesfolge Suizid: Schock, Trauer, Wut, Begreifen

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Der Gerichtsmediziner hatte mir geraten, ihn nicht noch einmal anzuschauen. Er sehe entstellt aus und ich solle ihn doch in Erinnerung behalten, wie ich ihn kenne. Der Mann hat keine Ahnung, dachte ich. Ich wollte es unbedingt und setzte mich durch. So schlimm sah er nicht aus. Jedenfalls nicht für mich. Es war ein total bewegender Moment, ihn tot zu sehen, und ich bin froh, dass ich ihn noch einmal angeschaut habe. Er hatte ein paar Beulen und Kratzer, aber sein vertrautes Gesicht habe ich wiedererkannt. Ich hätte gern noch mehr Zeit mit ihm gehabt, Zeit für uns, aber auch Zeit für mich, Zeit, um Abschied zu nehmen, aber ich war nicht stark genug, darauf zu bestehen. Man hat ihn mir entrissen.

Drei volle Wochen war er verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Wir hatten uns sonntags für 15 Uhr verabredet und wollten Freunde besuchen. Mein Mann war mit seinem Mountainbike unterwegs. Wir wohnten im Süden, in einer bergigen Gegend. Mein Mann liebte Extremsportarten. Paragliding, Fallschirmspringen, Bergsteigen. Immer am Limit. Und eben sein Mountainbike, mit dem er in jeder freien Minute unterwegs war. Sogar sonntagsmorgens. Anstatt mit mir im Bett zu kuscheln, stieg er lieber auf sein Rad.

Als er bis 20 Uhr nicht zurück war, habe ich die Polizei verständigt. Auf der Wache sagte man mir, er sei vielleicht noch ein Bier trinken oder hinge mit Freunden fest. Völliger Blödsinn, mein Mann trank nicht, rauchte nicht und hatte auch kaum Freunde. Ein sehr introvertierter Mensch. Über seinen Sport reagierte er sich ab. Das kam mir schon manchmal zwanghaft vor. Er war so in sich gekehrt, dass es mir manchmal unheimlich war.

Bei mir tickte mit meinen 36 Jahren die biologische Uhr und ich wollte unbedingt Kinder. Mein Mann wollte das auf gar keinen Fall. Er war überzeugt, er könne wegen seiner eigenen traumatischen Kindheit kein guter Vater sein. Das war unser Knackpunkt und ich hatte ihm am Abend zuvor gesagt, dass ich an Trennung dächte, wenn er meinen Kinderwunsch nicht akzeptieren könne. Dass ich so nicht mit ihm weiterleben könne. Da waren wir schon 15 Jahre zusammen. Bei diesem Gespräch sagte er – wie immer – nichts. Aber er hatte Tränen in den Augen.

Sonntag Abend tat die Polizei alles, um mich zu beruhigen. Erfahrungsgemäß tauchten vermisste Menschen von selbst wieder auf und es gebe eine Erklärung für ihr Fernbleiben. Erst Montag Morgen wurde ein Suchtrupp gebildet, der die Gegend systematisch durchkämmte. Ohne Ergebnis. Ein Polizeipsychologe bemühte sich, bei mir die Hoffnung zu erhalten, dass er noch gefunden wird. Aber ich wusste nach einem Tag, dass er tot sein musste. Woher ich diese innere Gewissheit nahm, ist mir erst heute klar. Denn alles deutete darauf hin. Ich hatte die Warnzeichen einfach übersehen.

Drei volle Wochen blieb er verschwunden. Drei Wochen, in denen ich verloren zu Hause saß und mich fragte, was mache ich bloß? In denen ich alle Verwandten und Freunde anrief, Nachbarn informierte. Alle halfen mir bei der Suche. Die Polizei riet mir, seine Kontobewegungen zu überprüfen. Vielleicht hätte er sich aus dem Staub gemacht. Aber so war es sicher nicht. Sein Konto blieb unangetastet.

Ich hatte Tage, da lief ich die Strecken ab, die er gerne befuhr, guckte unter jeden Busch, jeden Strauch. Schließlich hängten wir überall Plakate auf mit seinem Foto. Zuletzt wurde ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera gestartet. Nichts tat sich. Ein Albtraum.

Nach drei Wochen meldete sich ein Spaziergänger mit Hund. Die hatten ihn in einer Schlucht erspäht, in die er wohl mitsamt seinem Bike gestürzt sein musste. Von oben schwer und nur dank seiner knallroten Biker-Jacke zu sehen. In der Gerichtsmedizin stellte man Genickbruch fest. Keine Fremdeinwirkung. Die Polizei deklarierte es als Unfall. Einer der schrecklichsten Momente in meiner Erinnerung: Als ich die Plakate mit seinem Foto wieder abnehmen musste.

Auch ich wollte an einen Unfall glauben. Das war jedoch reiner Selbstschutz. Heute ist mir klar, er hat sich das Leben genommen. In einer für ihn aussichtslos scheinenden Situation. Ihm wuchs mein Kinderwunsch über den Kopf. Die ständigen Auseinandersetzungen. Er war wohl depressiv. Und ich war über alle Warnsignale hinweggegangen. Ich wollte sie nicht wahrnehmen.

Ich war beseelt davon, ein Baby zu bekommen. Ich wollte unbedingt schwanger werden, steigerte mich da hinein, je älter ich wurde. Zu meiner Lebensplanung gehörten Kinder. Dadurch hatten wir uns so weit voneinander entfernt, dass er mir fremd geworden war. Heute bin ich sicher, dass er sehr verzweifelt gewesen sein muss. Ich habe Schuldgefühle, dass ich so über seine Bedürfnisse hinweggegangen bin. Ich mache mir Vorwürfe. Aufgrund seiner Biografie ist mir heute klar, warum er sich so gegen ein Kind wehrte. Er hatte eine lieblose Kindheit und Angst, dass er seinen Kindern nicht genug geben könnte. Unser Dilemma: Er redete nicht. Er war ein beständiger Schweiger. Er sagte einfach nichts.

Die ersten Wochen nach seinem Tod war ich in einem Schockzustand gefangen. Weinen konnte ich nicht. Da war nur Verzweiflung und Ratlosigkeit. Ich musste mein Leben neu ordnen. Es war so viel zu regeln und zu organisieren. Sein Selbstmord hatte mein Leben negativ verändert. Irgendwann kam auch eine unbändige Wut, dass er so sang- und klanglos gegangen war. Ohne Abschiedsbrief, ohne ein Wort. Ohne den Versuch unternommen zu haben, unsere Probleme zu klären. Ohne sich zu stellen. Eine Situation ohne vernünftigen Abschluss. Einfach abgeschnitten. Wortlos. Ohne Abschied. Ein gewaltsames Ende. Ich fühlte mich aus der Bahn geworfen und um mein weiteres Leben betrogen. Ich verlor durch diese Erfahrung mein Vertrauen ins Leben. Diese Gewissheit, alles wird gut.

Ich habe ihn ganz konventionell auf einem Friedhof in der Nähe unseres Hauses bestattet. Jeden Tag muss ich dort vorbeigehen. Ich machte verschiedene Phasen durch. Eine Weile besuchte ich jeden Tag sein Grab und hielt innere Zwiesprache. Da überwog die Verzweiflung, das Nicht-Verstehen. Dann konnte ich eine Zeit lang sein Grab nicht mehr sehen. Ich ignorierte den Friedhof. Dann wieder fluchte ich über ihn und beschimpfte ihn wüst, wenn ich am Friedhof vorbeiging. Und dann gab es eine Phase, wo ich gern mit ihm getauscht hätte. Ich dachte, wäre ich doch auch tot. Das mündete letztlich in eine Phase, in der ich dankbar für die Mühsal des Lebens war, dankbar, dass ich sie spüren durfte. Es war ein höllisches Wechselbad der Gefühle.

Unsere Wohnung gestaltete ich in meiner Wut-Phase um. Als ich ihn beschimpfte und über ihn fluchte. Seine Sachen gab ich zum größten Teil weg. Sein Foto steht im Wohnzimmerregal. Wenn ich ihn heute anschaue, sehe ich seinen depressiven Blick. Verzagt. Unfroh, obwohl er lächelt. Dann denke ich, ich hätte achtsamer in seine traurigen Augen schauen müssen.

Mir hat eine Trauergruppe unserer Gemeinde viel gegeben. Die Gruppe bestand aus jungen Frauen in meinem Alter, deren Männer viel zu früh gegangen sind. Manche hatten Kinder, andere wollten noch welche – wie ich. Wer so eine Situation durchlebt hat, kann nachempfinden, was der andere denkt. Ich fühlte mich aufgehoben und verstanden, ich konnte weinen oder auch starr oder zornig sein. Das tat mir gut.

Mein Mann und ich hatten darüber gesprochen, dass es besser sei, auseinanderzugehen, als uns gegenseitig krank zu machen. Ich sagte das immer in der Hoffnung, er werde sich besinnen und wir würden eine Lösung finden. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass er sich so aus dem Staub macht. Dass er einfach abhaut. Ich war mein halbes Leben mit ihm zusammen. Ich hatte meine Identität verloren und musste wiederfinden, wer ich bin. Tagebuchschreiben hat mich dabei unterstützt. Ich habe mir über viele Dinge Rechenschaft abgelegt. Auch immer wieder die Frage: Hätte er sich nicht das Leben genommen, wenn ich ihn nicht so unter Druck gesetzt hätte? Ich weiß es nicht.

Wir waren so unterschiedlich. Ich bin eher emotional und positiv. Wenn wir Reisen machten, konnte ich mich begeistern für die schöne Gegend, das Wetter, die neue Situation, während er sich sorgte, ob die Unterkunft in Ordnung sein würde. Ich bin Optimist gewesen und emotional, er Pessimist und Verstandesmensch. Wir hatten keineswegs dieselbe Wellenlänge. Trotz allem hatte ich Vertrauen in unser Ja-Wort, das wir uns immerhin in der Kirche vor Gott gegeben hatten. Es war eine tiefe Verletzung für mich, dass etwas, auf das ich mein Leben gebaut hatte, worauf ich mein Leben ausgerichtet hatte, mir so brutal genommen wurde. Dass er diesen Weg wählte, weil er die Situation nicht mehr aushielt. Bis heute unfassbar.

Ein neuer Partner passt noch längst nicht in mein Leben, aber von meinem Kinderwunsch habe ich mich verabschiedet. Schweren Herzens. Ich sage mir, es ist dann eben so. Es sollte nicht sein. Ich muss sehen, wie ich zurechtkomme. Es ist schmerzvoll, dass wir so gescheitert sind. Dass er sein Leben einfach beendet und mich so verlassen hat. Ich bin selbstständiger und selbstbewusster geworden. Der dicke Panzer, den ich um mich herum aufgerichtet hatte, bröckelt langsam. Das ist gut. Ich denke oft, er ist schon da, wo ich noch hinkomme. Eins ist gewiss: Ich habe das Schlimmste durchlebt, was ein Mensch durchleben kann. Ich habe es überlebt. Schlimmer kann es nicht kommen. Von null wieder anfangen. Ohne Partner. Kinderwunsch begraben. Ich weiß, ich muss vor nichts mehr Angst haben. Ich gehe meinen Weg. Zwar fühle ich mich oft einsam. Ich suche die Einsamkeit aber auch, gebe meinen Gefühlen endlich Raum. Die Trauer darf kommen. Das geht nur, wenn man die Einsamkeit akzeptiert. Ich gebe mir Zeit, dass sich alles innerlich entwickeln und heilen kann.

Die Gruppe gibt mir Halt. Wir wissen viel voneinander. Dort ist das Wissen gut aufgehoben. Ich habe viel von mir preisgegeben. Unter manchen Menschen fühle ich mich fremd. Es verbindet mich nichts mit ihnen. Sie können mich auch nicht verstehen. Ich schaue heute genau: Wer gehört zu mir, auf wen kann ich mich verlassen? Bei wem fühle ich mich geborgen und gut aufgehoben? Bei wem kann ich mich öffnen? Belanglose Kontakte meide ich.

▸ Trauerphasen

Die Psychologie unterscheidet vier Phasen der Trauer, die aber in individueller Abwandlung durchlaufen werden können.

Hier folgt die Einteilung der Trauerphasen nach der Schweizer Psychologie-Professorin Verena Kast (angelehnt an das Modell von Elisabeth Kübler-Ross):

Trauerphase 1: Nicht-Wahrhaben-Wollen

In dieser ersten Phase der Trauer ist der Betroffene vom Schock der Nachricht meist wie erstarrt. Es herrschen Verzweiflung, Hilf- und Ratlosigkeit vor. Häufig wird der Verlust vom Trauernden zu diesem Zeitpunkt verleugnet.

Trauerphase 2: Aufbrechende Emotionen

In dieser Phase wird begriffen, dass der Verstorbene wirklich tot ist und nicht wieder zurückkehren wird. Es können die verschiedensten Gefühle beim Trauernden aufkommen, von Leid und Schmerz über Wut, Zorn, Traurigkeit, Angst und Freude bis hin zu Schuldgefühlen. Für den weiteren Verlauf ist es sehr wichtig, dass der Trauernde die Möglichkeit bekommt, diese Gefühle zu äußern und auszuleben.

Trauerphase 3: Suchen und Sich-Trennen

Das bewusste Abschiednehmen kann nun beginnen; der Verlust wird verarbeitet. Dies geschieht durch intensive Auseinandersetzung mit dem Verstorbenen. Diese Phase ist für den Trauernden einerseits sehr schön, andererseits sehr schmerzlich. Im Verlauf dieses intensiven Prozesses kommt dann der Augenblick, in dem der Trauernde die innere Entscheidung trifft, wieder »Ja« zum Weiterleben zu sagen oder aber auf Dauer in der Trauer zu verharren.

Trauerphase 4: Neuer Selbst- und Weltbezug

In der letzten Trauerphase kehrt allmählich innere Ruhe und Frieden mit sich selbst und dem Verlust ein. Es wird ein neuer Lebenszusammenhang ohne den Verstorbenen geschaffen und somit der Wiedereingliederung in die Gesellschaft der Weg bereitet. Der Trauernde merkt nun, dass es auch ohne den Verstorbenen weitergeht und dass er selbst für seine Zukunft verantwortlich ist. Der Verstorbene bleibt aber ein wichtiger Teil in der Erinnerung des Trauernden.

Wichtig zu wissen im Zusammenhang mit den verschiedenen Phasen der Trauer ist, dass die einzelnen Trauerphasen nicht klar voneinander abgrenzbar sind. Sie können sich überlappen, miteinander vermischen oder auch in veränderter Reihenfolge ablaufen.

Paul ist tot

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