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Kennen wir uns? Alzheimer ist tödlich

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»Kennen wir uns?« Mein Mann schluffte in Schlafanzug und Pantoffeln verstört durch den Flur in unserem Reihenhaus und suchte das Klo. »Wo in diesem vorsintflutlichen Hotel sind hier eigentlich die Toiletten? Saustall!« Er wirkte verärgert. Als ich seinen Arm nahm, um ihn zum gewünschten Örtchen zu führen, keifte er: »Ich wünsche keine unsittlichen Berührungen.« Und schon ging das Geschäft in die Hose.

Wenigstens passierte das zu Hause. Neulich, als wir bei der Fußpflege waren, war es schiefgegangen. Mein Mann spürte einen fürchterlichen Drang und Sekunden später war der Drang nicht mehr aufzuhalten. »Hab geschissen«, stellte mein ehemals geistreicher, kluger Mann sachlich-trocken fest. Ich musste das Malheur beseitigen. Die Fußpflegerin verhielt sich vorbildlich professionell und hilfreich.

Mein Mann Norbert hatte Alzheimer. Inzwischen im fortgeschrittenen Stadium. Das bedeutete ein langes, aber unaufhaltsames Absterben dessen, was ihn als Mensch ausgemacht hatte. Anfangs hatte ich nichts bemerkt. Im Nachhinein wurde mir vieles klar. Dass er sich mehr und mehr in sich zurückzog. Er fing an, Geselligkeiten zu meiden. Er wurde tüdelig und vergesslich. Wirkte zeitweilig abwesend. Das schob ich auf einen normalen Alterungsprozess und machte mir zunächst keine Gedanken. Wach wurde ich, als wir mit dem Auto unterwegs waren. Er saß am Steuer und wusste nicht mehr, wie wir nach Hause kommen sollten. Das und sein plötzlicher unkontrollierbarer Drang auf die nächste Toilette machten mich endgültig stutzig.

Ich schleppte meinen Mann, der sich heftig dagegen zur Wehr setzte, zu unserem Hausarzt, der uns in die Neurologie überwies. Dort bekamen wir die Diagnose, die ich befürchtet hatte.

Als Angehöriger ahnt man ja anfangs kaum, was da auf einen zukommt. Klar, es gab Bücher, Artikel, ich besuchte Vorträge und informierte mich umfassend. Aber alles, was man über diese schleichende Krankheit liest, ist harmlos verglichen mit dem, was man tatsächlich mitmacht. Bei meinem Mann war es keineswegs so, dass er ein liebenswerter, vergesslicher und harmloser Typ wurde, den man nur ans Händchen nehmen musste. Er wurde ausgesprochen anstrengend und vieles, was auf mich einstürmte, empfand ich als Zumutung.

Bald konnte ich verstehen, was gemeint war, wenn ich las, Angehörige stoßen an ihre Grenzen. Mein ehemals liebenswürdiger Mann wurde zeitweise aggressiv, völlig unselbstständig und ich konnte ihn keine fünf Minuten mehr allein lassen. Am Anfang konnte er sich noch normal bewegen. Später brauchte er einen Rollator und schließlich landete er im Rollstuhl. Er wurde nörgelig und quengelig.

Manchmal musste ich einfach an die frische Luft, ohne ihn. Schloss ich die Tür ab, fing er an zu randalieren. Er bollerte gegen die Haustür und rief lautstark: »Hilfeee!!« Die Nachbarn guckten schräg. Also nahm ich ihn möglichst überall mit hin. Ich konnte ihn beim Einkaufen nicht allein im Auto lassen. Einmal tat ich das, um bei der Sparkasse Geld abzuheben. Er entwickelte eine enorme körperliche Kraft, sodass mein kleiner Mercedes der A-Klasse gefährlich anfing zu schwanken. Gott sei Dank konnte er sich nicht aus dem Sicherheitsgurt befreien. Mein Mann ließ mich nicht mehr aus den Augen. Er wollte mir unbedingt überallhin folgen.

Es wurde auch gefährlich mit ihm. Norbert spielte an der Herdplatte herum und ich entdeckte, dass sie glühte. Dass man das nicht tun durfte, ersparte ich mir ihm zu erklären, denn er hätte es nicht verstanden. Er räumte die Zahnpasta in den Kühlschrank, schüttete Ketchup auf den Fußboden, was vergleichsweise harmlos war, oder maulte, ihm sei langweilig. In den Wäschekorb im Keller kippte er Waschpulver, weil er saubere Wäsche brauchte. Beim Essen goss er sich Apfelsaft in die Erbsensuppe, zerteilte die Serviette mit Messer und Gabel oder ordnete die Gulaschstücke nebeneinander auf der Tischdecke in einer gerade Reihe an. Anfangs löste ich noch mit ihm Kreuzworträtsel, aber auch daran verlor er die Lust. Es ist sehr schwer für Angehörige, diesen Verfall hautnah und über Jahre mitzuerleben. Irgendwann war klar und mein Arzt riet es mir auch: Holen Sie sich Pflege ins Haus.

Bei der Krankenkasse beantragte ich Pflegestufe 2. Wir wurden daraufhin von einer Dame besucht, die meinen Mann ausfragte. Ob er sich noch allein anziehen könne. Norbert nickte diensteifrig, selbstverständlich könne er das. Stimmte nicht. Hosen und Pullover zog er inzwischen verkehrt herum an und wenn ich nicht aufpasste, kam die Unterhose gar nicht zum Einsatz. Ob er sich morgens und abends die Zähne putze. Selbstredend! Eine seiner leichtesten Übungen. Auch das stimmte nicht. Wenn ich ihm seine Zahnbürste mit Zahnpasta nicht anreichte und hinter ihm stehen blieb, passierte gar nichts. Als er dann behauptete, er lese täglich die Zeitung, wurde ich wütend. Die Wahrheit war, er nahm sich stets die Tageszeitung, hielt sie aber verkehrt herum und starrte verständnislos auf die Blätter. Von Lesen konnte also gar keine Rede sein. Dann wurde er gefragt, ob er denn noch telefonieren könne. »Lassen Sie ihn eine Nummer wählen!«, verlangte ich mit Nachdruck. »Dann sehen Sie, dass auch das nicht mehr geht.« – »Ihr Mann kann noch sehr gut für sich sprechen«, wurde ich patzig belehrt. Und der bestätigte stolz, dass Telefonieren kein Problem für ihn sei, dass er das täglich praktiziere. Die Dame von der Krankenkasse jedenfalls tat so, als übertriebe ich maßlos. »Na sehen Sie mal! Ihr Mann ist doch noch ganz plietsch und selbstständig.« Immerhin bekamen wir Pflegestufe 1.

Ich beschloss, da von der Krankenkasse keine Unterstützung zu erwarten war, auf eigene Kosten eine polnische Pflegekraft bei uns im Gästezimmer einzuquartieren. Olga, eine rundlich-gemütliche Dame mittleren Alters mit einer wahren Engelsgeduld. Mein Mann war nicht ihr erster dementer Pflegefall. Anfängliche wüste Beschimpfungen vonseiten meines Mannes ließ sie mit stoischer Ruhe über sich ergehen. Liebevoll ging sie auf seine Kindereien ein.

Als Norbert anfing, zum Essen seinen Zahnersatz aus dem Mund zu nehmen, pürierte sie seine Mahlzeiten. Damit er sich nicht von Kopf bis Fuß bekleckerte, band sie ihm ein Lätzchen um, für das sie ein Betttuch durchgeschnitten hatte. Anfangs weigerte sich mein Mann, bei ihr zu bleiben, wenn ich das Haus verließ. Ich fühlte mich immer noch mehr angebunden als mit einem Säugling.

Was das alles mit mir machte, interessierte keinen. Ich verzichtete im Bekanntenkreis natürlich auf drastische Schilderungen der Realität mit der Folge, dass alle stets sagten, er sei doch noch ganz gut zurecht. Waren andere Leute da, verhielt er sich komischerweise meist liebenswürdig. Ich fand, es wurde immer grauenhafter.

Nach einem Jahr, sein Zustand hatte sich noch einmal drastisch verschlechtert, war ich fix und fertig und dachte daran, ihn in Pflege zu geben. Der Mann, den ich einst geliebt, respektiert und für manches bewundert hatte, versank im Tal des Vergessens. Dabei wurde er immer weniger umgänglich. Das war kein würdiger Abgang. Als das Stadium kam, wo er mich nicht mehr als seine Frau erkannte, beschloss ich endgültig, Norbert in einem Pflegeheim anzumelden.

Es tat mir in der Seele weh, was diese Krankheit mit einem Menschen machte. Seinen 70. Geburtstag feierte er in der »Arche«, der Alzheimer-Gruppe im Klarastift. Hier war er umgeben von männlichen und weiblichen Leidensgenossen. Ich brachte ihm seinen Lieblingskuchen, einen Frankfurter Kranz mit. Er nahm gar nicht wahr, dass er Geburtstag hatte. Alle Alzheimer-Patienten saßen um einen großen runden Tisch. Eine Dame zeigte mir stolz ihre Perlenkette, indem sie sich ihres Pullovers und BHs entledigte und mir ihren entblößten Oberkörper und ihre welken Brüste entgegenstreckte. Der Herr neben ihr holte aus und gab ihr eine Backpfeife, was lautes Geschrei zur Folge hatte. Ein Dritter pickte die Krokantbrösel vom Geburtstagskuchen und versenkte sie in seiner Kaffeetasse. Und eine Dame wollte partout zum fünften Mal zur Toilette geschoben werden. Kaum war sie ergebnislos zurück am Tisch, ging alles in die Hose. Das Pflegepersonal hatte meinen vollen Respekt. Nie ein lautes Wort, keine Ungeduld, kein Schimpfen. Selbst mit den ekligsten Situationen wurde gelassen umgegangen.

Ich kam an einen Punkt, wo ich dachte, der Tod sei für uns alle eine Erlösung. Als mein Mann eine Erkältung mit anschließender Lungenentzündung bekam und ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hoffte ich für ihn und mich, dass es sein Ende sei. Doch da hatte ich die Rechnung ohne die junge engagierte Ärzteschaft in dem katholischen Hospital gemacht. Mein völlig orientierungsloser, halb toter Mann wurde mit Antibiotika vollgepumpt. Als die Lungenentzündung abklang, stellten wir fest, dass sein Schluckreflex nicht mehr funktionierte. Er konnte tatsächlich nicht mehr schlucken. Also konnte er auch nichts mehr essen. Künstliche Ernährung war das Letzte, was wir wollten. Nun wollten die Ärzte eine Magensonde legen. Ich war entsetzt. »Warum?«, fragte ich. »Mit welchem Ziel? Damit mein Mann weiter im Heim vor sich hinsiecht? Ohne Sinn und Verstand?« Ich konnte es nicht fassen. »Warum darf er nicht sterben?« Ich holte Norberts Patientenverfügung und überreichte sie dem Ärzteteam. »Mein Mann hätte das nie gewollt, dass er so würdelos am Leben gehalten wird.« Eine sehr junge Ärztin sagte: »Sie können doch nicht wollen, dass Ihr Mann stirbt!« – »Doch«, insistierte ich. »Wenn er bei klarem Verstand wäre, würde er Ihnen sagen, dass er das so nicht will.« Es folgte eine volle Woche, in der die Ärzte mit allen Mitteln versuchten, das Leben meines Mannes zu retten. Ich muss wahrheitsgemäß sagen, dass ich froh war, dass ihnen das nicht gelang. Eines frühen Morgens wurde ich von der Stationsschwester angerufen: »Kommen Sie bitte, es geht zu Ende.« Mein Mann war nicht wieder zu Bewusstsein gekommen. Ich war froh, dass er endlich sterben durfte. Für mich war das, ich sage es ehrlich, eine Befreiung.

▸ Die Alzheimer-Krankheit

Die Zahlen sind erschreckend: Rund 1,2 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Alzheimer und jährlich werden 200 000 Neuerkrankungen festgestellt. Im Jahr 2030 sollen es sogar schon 2,3 Millionen sein. Die Dunkelziffer liegt noch bei weitem höher. Mit der global steigenden Lebenserwartung erhöht sich auch die Häufigkeit der Krankheit. Die Anzahl der Betroffenen weltweit soll von heute 35 Millionen auf 66 Millionen im Jahr 2030 und geschätzte 115 Millionen 2050 steigen. Die Krankheit tritt vor allem im höheren Alter auf: Nur zwei bis drei Prozent der 70- bis 75-Jährigen sind betroffen, wohingegen jeder Dritte über 90 Jahre an Alzheimer leidet.

Die Alzheimer-Forschung stellt fest: »Alzheimer, die am meisten verbreitete Form der Demenz, führt immer zum Tod. Es handelt sich um eine fortschreitende, unheilbare Gehirnstörung mit unbekannter Ursache. Die Folge: ein langsames Sterben aller geistigen und körperlichen menschlichen Funktionen. Zu den Symptomen dieser Erkrankung zählen Gedächtnisverlust, Verwirrtheit und Desorientierung. Dazu kommen Veränderungen des Wesens, ein beeinträchtigtes Urteilsvermögen und der Verlust der Sprachfähigkeit. Charakteristisch für die Demenz ist ein Rückgang der intellektuellen Funktionen, der sich bezeichnenderweise im normalen sozialen Umfeld und bei täglichen Aktivitäten zeigt.« (www.alzheimer-forschung.de)

Wer keine Erfahrung mit Alzheimerpatienten hat, hält diese oftmals für harmlos vergessliche alte Menschen. Oft aber führt diese Krankheit auch zu Aggressionen, die nicht selten in körperlichen Übergriffen enden und für Angehörige weder zu bewältigen noch zumutbar sind. Wer unter leichter Vergesslichkeit leidet, wem Namen oder Telefonnummern nicht auf Anhieb einfallen oder unter Gedächtnislücken leidet, muss sich noch keine Sorgen machen. Sie sind Teil des normalen Alterungsprozesses. Ältere Menschen haben eine so riesige Datenmenge auf ihrer »Festplatte«, dass sie schlicht mehr Zeit brauchen, um Neues zu lernen oder sich an Erlerntes zu erinnern.

Paul ist tot

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