Читать книгу Seitensprungkind - Regula Brühwiler-Giacometti - Страница 10
Kindheit
ОглавлениеIm Tessin war es üblich – und es ist auch heute noch so –, dass man bereits im Alter von drei Jahren in den Kindergarten eintritt. Der Kindergarten war schon damals so gestaltet, dass die Kinder den ganzen Tag dort verbrachten: von 9 Uhr morgens bis 16 Uhr nachmittags. Alle Kinder aßen zusammen zu Mittag und machten dann im selben Raum ein Mittagsschläfchen. Der Kindergarten war eingerichtet für einen ganz normalen Tagesablauf. Es hatte einen großen Essensraum sowie Toiletten mit Waschbecken, wo man sich nach dem Essen die Zähne reinigen konnte. Die älteren Kinder halfen den jüngeren Kindern. Währenddessen räumten die Küchengehilfinnen die Tische beiseite und stellten kleine Bettchen (brandine) auf. Jedes Kind besaß einen eigenen Bettüberzug, der mit seinem eigenen Logo bestickt war. Vor dem Eintritt in den Kindergarten erhielt jedes Kind ein Symbol zugeteilt. Bei mir war es die Kastanie. Die Mütter mussten dann schließlich dieses Symbol auf den Kindergartenschurz, auf das Frottiertüchlein, auf das Turnsäckli und auf dem Bettüberzug sticken. So konnte jedes Kind auch sein Bettchen für den Mittagschlaf sowie die anderen Utensilien immer wiedererkennen und finden. Vor dem Schlafengehen erzählte die Kindergärtnerin eine Geschichte, bis alle still waren.
Ich weiß, ich bin sehr gerne in den Kindergarten gegangen und ich mochte meine Kindergartenlehrerin. Sie hieß „Signorina Pia“ (Fräulein Pia), so mussten wir sie nennen. Die Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit, ich gehörte zu ihren Lieblingen. Als ich sie Jahre später zufällig in Lugano wiedergetroffen habe, war sie bereits schon längere Zeit pensioniert. Sie sagte zu mir: „Weißt du, in den über 40 Jahren, in denen ich am Kindergarten unterrichtet habe, habe ich hunderte von Kindern betreut. Aber nur ein paar wenige sind mir wirklich ganz gut in Erinnerung geblieben und eines davon bist DU.“
Ja, ich liebte meine Kindergartenlehrerin. Ich machte alles für sie. Vielleicht wusste sie von meinem schwierigen Start ins Leben und wollte mir deswegen eine besondere Aufmerksamkeit geben. Ich fühlte mich jedenfalls immer sehr wohl bei ihr.
Im Nachhinein betrachtet war es für mich ein Segen, schon mit drei Jahren den Kindergarten besuchen zu können, denn ich war den ganzen Tag weg von meiner eher ungeduldigen, kalten und gefühlslosen Mami.
Nach drei Jahren hieß es dann Abschied nehmen von der Kindergartenzeit, denn die Schule stand auf dem Programm. Im Tessin erfolgte die Einschulung bereits im Alter von sechs Jahren. Ich war traurig, meine Signorina Pia verabschieden zu müssen, aber ich war reif für den Schulunterricht.
Zu all dem Wechsel gab es in diesem Jahr auch noch eine große familiäre Veränderung: Meine Mami wurde schwanger. Am 1. Juli 1964 war es dann so weit, meine Adoptiveltern wurden Eltern eines Sohnes und ich bekam somit einen Bruder – Reto. Meine Großeltern kamen aus Bern angereist, um ihr Enkelkind zu bewundern, und nahmen mich dann mit nach Bern, damit ich ein paar Wochen Ferien bei ihnen verbringen konnte, während sich meine Mami im Spital von der schweren Geburt erholen konnte. Ich hatte gerade drei Monate Schul-Sommerferien und meine Eltern waren froh, dass ich ein wenig Abwechslung genießen konnte.
Ich war gern bei meinen Großeltern. Meine Großmutter war eine ganz liebenswürdige und fröhliche Person. Ich mochte ihre Art sehr. Mein Großvater war sehr autoritär. Da ich an Gehorsam gewohnt und ein sehr folgsames Kind war, kam ich aber nie in Konflikt mit ihm. Sie unternahmen viel mit mir, besuchten mit mir den Bärengraben, den Tierpark, das „Marzilibad“ an der Aare in Bern, und wir unternahmen diverse Ausflüge. Das gefiel mir sehr.
Eines Tages, nachdem wir einen schönen Ausflug mit Mittagessen auf den Gurten gemacht hatten, wurde mir plötzlich übel und ich musste mich heftig übergeben und bekam starke Bauchschmerzen. Nachdem sich am Tag danach mein Zustand zunehmend verschlimmerte, ließen meine Großeltern einen Arzt kommen. Ich hatte in der Zwischenzeit einen geschwollenen Bauch und die Bauchdecke fühlte sich hart an. Das beunruhigte den Arzt. Er wollte noch eine Nacht abwarten und ich durfte absolut nichts essen und nur ein wenig Salzwasser zu mir nehmen. Ich erinnere mich, wie ich nachts, als meine Großeltern schliefen, ins Bad schlich und Wasser aus dem Hahn trank. Ich hatte so immensen Durst – ein solch starkes Durstgefühl hatte ich nie mehr in meinem Leben!
Am nächsten Tag hatte sich mein Gesundheitszustand dermaßen verschlechtert, dass mich der Arzt sofort ins Inselspital einweisen ließ. Er hatte bereits den Verdacht auf einen Darmverschluss, was dann von den Spitalärzten auch bestätigt wurde. Es musste sofort operiert werden, dafür brauchte man aber noch die Einwilligung meiner Eltern. Die Ärzte riefen sie in Lugano an und erklärten die notfallmäßige Situation. Es war ein Schock für beide.
Die Operation dauerte ca. 6 Stunden, es war ein sehr schwieriger Eingriff. Da ich nach der Operation nichts essen durfte, wurde ich künstlich durch einen Schlauch im Arm ernährt. Sobald der Darm wieder seine normale Funktion aufnehmen würde, hätte ich wieder zur normalen Kost übergehen dürfen. Dies sollte eigentlich ein paar Tage nach der Operation erfolgen. Aber mein Darm streikte. Es vergingen Wochen, und die Ärzte wollten mich ein zweites Mal operieren, weil die Situation sehr kritisch war. Zum großen Glück hat drei Wochen nach dem Eingriff mein Darm seinen Streik aufgegeben und ich konnte langsam Schonkost zu mir nehmen. Ich war extrem abgemagert und schwach. Meine Eltern waren in der Zwischenzeit mit meinem kleinen Bruder von Lugano angereist und bangten um mein Leben. Der Hausarzt hatte ihnen gesagt, dass ein solch großer Eingriff in Lugano nicht hätte durchgeführt werden können, die Ärzte waren dazumal noch nicht so weit ausgebildet. Ich wäre vermutlich daran gestorben, wäre ich im Tessin bei meinen Eltern gewesen. Ich hatte also riesiges Glück, dass ich gerade in Bern war, wo es eine Universitätsklinik gab und die Ärzte einen solchen Darmverschluss behandeln konnten. Ich erinnere mich noch gut, wie sie mich in einem Rollstuhl in einen mit angehenden Ärzten vollgefüllten Audienzsaal brachten. Sie diskutierten gerade meinen Fall durch und ich wurde ihnen als Parade-Beispiel für eine Operation mit Komplikationen vorgeführt.
Ich hatte also gerade mein zweites Leben geschenkt bekommen. Heute ist mir klar, wenn ich die Sache analysiere, dass dieser Darmverschluss wahrscheinlich durch eine erneute große Verlustangst ausgelöst worden ist. Klar, zu jener Zeit wussten weder ich noch meine Eltern, dass dies im Zusammenhang mit der Geburt meines Bruders und meiner „Abschiebung“ zu den Großeltern nach Bern stehen könnte. Auch die behandelnden Ärzte haben diesen Zusammenhang nie im Kontext zu meinen Verlustängsten erwähnt. Der leibliche Sohn meiner Eltern war geboren. Und was war mit mir? Musste ich um meinen Platz bangen? Würde ich nicht mehr so viel Aufmerksamkeit erhalten? Oder würden sie mich vielleicht sogar wieder weggeben? Es ist schier unglaublich, welche Wege die menschliche Seele ausfindig macht, um zu überleben, und welchen Einfluss die Psyche auf den Körper ausüben kann. Heute ist mir zum Glück bewusst, wie sehr das Unterbewusstsein meinen Körper beeinflussen kann, weshalb ich auch viel mental trainiere.
Ende August wurde ich nach einem sechswöchigen Spitalaufenthalt wieder entlassen. Mein Großvater musste mich auf den Armen aus dem Spital tragen. Ich wog nur noch 12 Kilo und hatte keine Kraft mehr, selbstständig zu gehen.
Zwei Wochen später, Mitte September, hätte ich in die Schule eintreten sollen. Da ich noch so schwach war, empfahl der Hausarzt, dass ich vorerst noch eine Weile zu Hause bleiben und danach ein weiteres Jahr Kindergarten anhängen sollte. Ich erholte mich langsam und freute mich auf die vertraute Umgebung des Kindergartens. Es war ein besonderes Jahr. Ich war die Älteste und konnte meiner geliebten Kindergärtnerin zur Seite stehen und ihr dabei helfen, die Kleineren zu betreuen. Ich war sozusagen ihre Assistentin. Das genoss ich sehr, und ich glaube, es tat mir unheimlich gut, denn ich hatte bei ihr einen besonderen Platz eingenommen.
Dieses Jahr verging im Nu. Mit 7 Jahren wurde ich dann eingeschult. Ich besuchte die Schule sehr gern. Meine Lehrerin war bekannt als die strengste im Schulhaus. Doch Probleme hatte ich nie mit ihr. Ich lernte fleißig und war eine der besten Schülerinnen. Das gab mir viel Selbstvertrauen und stärkte auch mein Vertrauen ins Leben. Ich hatte mich auch an die Anwesenheit meines kleinen Bruders gewöhnt und alles verlief rund.
Als ich etwa 7 ½ Jahre alt war, verfasste meine Mami den wohl letzten Brief für die Adoptionsvermittlungsstelle und berichtete:
„Liebes Fräulein, Sie werden sicher erstaunt sein, ein Lebenzeichen aus Lugano zu erhalten. Man sagt zwar: Keine Nachrichten, gute Nachrichten. So ist es auch bei uns und unsere beiden Kinder entwickeln sich prächtig. Regula geht seit 6 ½ Monaten zur Schule und hat glücklicherweise gar keine Schwierigkeiten, obschon sie hier mit einem wahnsinnigen Tempo vorwärtsgehen. Sie ist immer noch ein braves, liebes Kind und wir haben unglaublich Freude an ihr. Momentan weilt sie für 2 Wochen in Bern bei ihrem Grosi. Unser Reto ist ein herziger Schatz, jedoch ein ganz grosser Schlingel. Ich kann ehrlich sagen, dass Regula uns nie so grosse Mühe machte wie er. Wenn er nicht schläft, dann stellt er irgendetwas an. Man muss ständig hinter ihm her sein und kann ihn nie aus den Augen verlieren. Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute und grüsse Sie freundlich. H. Giacometti“.
Meine Freizeit verbrachte ich mit vielen Freundinnen aus der Schule und Nachbarschaft, mit denen ich zum Teil jahrelang in Kontakt blieb. Wir spielten viel im Freien; Gummitwist oder Springseil und kurvten auch die Straße runter mit allerlei Vehikeln, da es zu jener Zeit noch fast keine Autos auf der Straße gab. Ich habe einen Tretroller geschenkt bekommen, hätte aber lieber ein Fahrrad gehabt. Aber unter uns Kindern haben wir dann öfter unsere Vehikel ausgetauscht und ich konnte des Öfteren auch Rad fahren.
In der Primarschule verlief alles bestens, obwohl ich viermal einen Lehrerwechsel hatte. Ich wurde aber immer von allen gemocht, war für mich das Wichtigste war. Wiederum schaffte ich es, der Liebling von meinem Turnlehrer und von meinem Musiklehrer zu sein. Ich weiß nicht, wie ich das immer anstellte. Es kam so weit, dass mich mein Musiklehrer unbedingt bei der Schulabschlussfeier ein Solo singen lassen wollte. Es war mir so peinlich, denn ich war der Meinung, dass ich nicht so gut singen konnte. Meine Mami behauptete sogar, dass ich falsch sang. Aber wie gesagt: Es tat mir unheimlich gut, so geschätzt zu werden. Es war Balsam für meine Seele.
Ich hatte erfahren, dass ich mit meinem Fleiß viel Akzeptanz erntete. Das spornte mich weiter an. Ich wollte dann instinktiv immer die Beste und der Liebling von allen sein. Was mich dazu trieb, war mir als Kind absolut unbewusst, aber heute ist mir alles klar, wenn ich Folgendes bei Dr. Bonus lese:
„Jeder Fehler, den es macht, und schlimmer, jeder seiner Fehler, den ein anderer bemerkt, weist das Kind nicht auf diesen betreffenden Fehler hin, sondern erinnert es sofort daran, dass es selbst ein Fehler in dieser Welt ist. Das bedeutet, mit den Augen des Kindes gesehen, dass es versucht, keinen Fehler mehr zu machen.“ (Bonus, 2008)
Es verlief alles gut, ich ging meinen Weg und wurde immer unabhängiger. In der Zwischenzeit hatte sich mein Bruder als ein sehr schwieriges Kind entpuppt und bündelte die volle Aufmerksamkeit meiner Eltern, die ich zwischenzeitlich nicht mehr so benötigte. Ich konnte mich in der Schule entfalten und verwirklichen, was mir eigentlich genügte. Zudem wurde ich immer als die brave und folgsame Tochter wahrgenommen, während Reto der böse Sohn war. Eigentlich habe ich es geschafft, auch in der Familie der Liebling zu sein, währenddessen der leibliche Sohn jeweils hintanstehen musste: Was wollte ich noch mehr?
Dann kam die Zeit, als sich die Übertrittsfrage bezüglich der oberen Schulstufe stellte. Mein Lehrer war klar der Meinung, dass ich unbedingt das Gymnasium besuchen sollte, da ich das Potenzial hätte, später einmal ein Studium anzugehen. So begann ich im Alter von 12 Jahren die erste Klasse des Gymnasiums, Abteilung Literarisch, da ich zusätzlich noch Latein belegte. Meine Begeisterung für das Lernen war immer noch vorhanden, aber die Anforderungen wurden immer größer und ich musste mir langsam überlegen, welches Ziel ich erreichen wollte. Was wollte ich später studieren?
Mein größter Wunsch war es damals, Tierärztin zu werden. Dies bedeutete aber, dass noch ein langer Weg vor mir lag und ich noch jahrelang studieren müsste. Langsam kamen Zweifel auf. Wollte ich wirklich so lange über den Büchern brüten? Wollte ich nicht schon früher unabhängig sein und meinen Weg gehen können?
Mein Papi wollte unbedingt, dass ich einmal studieren sollte. Er unterstützte mich auch sehr bei den Schulaufgaben und ermutigte mich immer wieder. Trotzdem, es wurde mir auf einmal zu viel. Aber was wollte ich werden bzw. erlernen? Ich wusste es nicht. Vielleicht sollte ich einen Beruf wählen, bei dem ich meine Sprachbegabung einsetzen konnte? Da kam mir ein Infoabend der Swissair gerade gelegen, bei dem der Beruf der Flugbegleiterin vorgestellt werden sollte. Voller Begeisterung besuchte ich den Vortrag, musste aber leider ernüchtert feststellen, dass die Hauptaufgabe der Stewardess darin bestand, den Passagieren auf dem Flug Essen und Getränke zu servieren und ihre Wünsche von den Lippen abzulesen. Nein, das war nicht das, was ich machen wollte. So stand ich da und ich wusste nicht weiter.
Da es nun klar war, dass ich nicht studieren wollte, begann ich mit 15 Jahren auf Empfehlung meiner Mami eine Handelsschule. Obwohl ich immer betont hatte, dass ich nie in einem Büro arbeiten möchte, ließ ich mich von ihr überreden. Es handelte sich um eine private Handelsschule mit sehr gutem Ruf und der damaligen Gewissheit, dass für alle diejenigen, die die Prüfungen bestanden, eine Stelle in einer Bank zugesichert sei.
Die Abschlussprüfungen habe ich schließlich mit dem Prädikat „sehr gut“ bestanden, sah mich jedoch nicht als Bankangestellte. Wie für viele Jugendliche, war auch für mich die Zeit der Berufswahl eine schwierige Zeit. Man weiß nicht, in welche Richtung man gehen soll, ob man dann auch die richtige Entscheidung trifft. Schließlich kennt man in diesem Alter die Zukunft noch nicht und weiß somit nicht, wofür man sich entscheiden soll. Zudem gab es in den Siebzigerjahren noch keine staatliche Berufsberatung, man war vollends auf sich selbst gestellt. Ich war nun 17 Jahre alt und stand an einem Wendepunkt in meinem Leben.