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Heimatlos

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Im Dezember 2013 saß ich im Zug Richtung Lugano. Diese Reise hatte ich schon unzählige Male gemacht, hauptsächlich in diesem Jahr, als meine Mami sehr krank wurde und ich sie fast jedes Wochenende besuchte. Doch diesmal war es anders. Ich reiste heim, aber meine Mami war nicht mehr da. Die großen Sorgen um sie waren verflogen. Mit den Sorgen war aber auch sie weg. Niemand erwartete mich nun in Lugano. Ich musste noch diverse administrative Arbeiten erledigen und hatte dafür ein Hotelzimmer gebucht, nicht weit entfernt vom Haus, in dem meine Mami die letzten Jahre gelebt hatte. Es war ein mulmiges Gefühl.

Früher habe ich mich jedes Mal riesig gefreut, wenn ich den Gotthardtunnel passiert hatte und an Airolo vorbeifuhr. Nun war ich wieder in meinem geliebten Tessin! All die schönen Erinnerungen an meine Kindheit und Jugendzeit mit ihren Ausflügen, Freundschaften, Pfadfinderlagern, Ballett und ganz besonders die Gedanken an meinen lieben Papi wurden wieder geweckt. Heute war ich traurig. Ich dachte an meine Mami, die erst kürzlich verstorben war. Und wie ein Blitz traf mich eine Feststellung, ein Gedanke den ich nie zuvor hatte: Ziemlich genau vor 55 Jahren – es war auch im Dezember – hatte meine Mami die gleiche Reise unternommen wie ich jetzt, mit mir, als achtwöchiges Baby. Eingewickelt und in eine kleine Tragetasche, brachte sie mich in meine neue Heimat, zu meiner neuen Familie. Sie hatte mich in Rapperswil bei der Adoptionsvermittlungsstelle abgeholt. Es war sicher eine große Aufregung für sie und auch für mich. Ich wurde in meinem kurzen Leben zu diesem Zeitpunkt bereits zum dritten Mal aus der gewohnten Umgebung herausgerissen und fremdplatziert. Nie zuvor hatte ich auf meinen Fahrten nach Lugano diese Gedanken, sie kamen jetzt, wo scheinbar alles zu Ende war.

Am Bahnhof angekommen, nahm ich, wie üblich, den Bus Richtung Lugano-Cassarate. Doch diesmal war das Ziel nicht mehr die Wohnung meiner Mami, sondern ein fremdes Zimmer in einem Hotel. Der Weg dorthin führte jedoch an meinem Elternhaus vorbei. Das fühlte sich komisch an. Ich bezog mein Zimmer und flüchtete sofort wieder ins Freie. Zum Glück musste ich einen Termin bei der Bank wahrnehmen und konnte nicht zu viel darüber nachdenken. Die Gefühle überwältigten mich erst später. Ein wenig Ablenkung bekam ich auch durch eine Kindheitsfreundin, die soeben aus den USA nach Lugano gekommen war, um ihre Eltern zu besuchen.

Ich lief wieder am Haus meiner Mami vorbei und konnte es kaum fassen, dass sie nicht mehr dort lebte und jetzt eine andere Person in ihrer Wohnung hauste. Ich hatte kein Zuhause und keinen Heimathafen mehr! Es war ein unfassbares Gefühl, auf das ich nicht vorbereitet war. Ich fühlte mich verloren. Meine Mami war keine einfache Person gewesen, sie war sehr streng und fordernd. Aber sie war meine Mami. Sie hat mich behütet, gepflegt und erzogen. Sie war meine Familie. Und nun stand ich da, alleine. Das gleiche Gefühl wie 55 Jahre zuvor, als mich meine leibliche Mutter weggegeben hatte.

Verlassen, allein, heimatlos. Nur diesmal, als erwachsene Person, wusste ich mit diesem Verlust und der Leere umzugehen. Ich konnte die Situation mithilfe meines Verstandes emotional einordnen, denn ich wusste, dass der Tod zum Leben gehört. Er ist unumgänglich. Für meine Adoptivmutter war er eine Erlösung. Ich hatte in der Zwischenzeit meine eigene Familie, die mir Kraft und Sicherheit gab. Darin bestand der große Unterschied zu damals, als ich von meiner leiblichen Mutter verlassen wurde. Als Neugeborenes war ich noch nicht in der Lage, diese komplexen Gedankengänge nachzuvollziehen und einzuordnen, war somit völlig hilflos der Situation ausgeliefert. Es bestand nur noch Leere und Angst. Den Verlust konnte ich damals nicht verarbeiten und die Trennung nicht verkraften. Ein Teil von mir wurde mir weggenommen.

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