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Erste Lebensjahre
ОглавлениеEs war an einem verschneiten Tag Anfang Dezember, ich war acht Wochen alt, als meine Mami mich bei der Adoptionsvermittlungsstelle in Rapperswil abholte. Von Lugano kommend, hatte sie eine lange Reise mit dem Zug hinter sich. Es war offenbar eine rasche und fast formlose Übergabe. Wie genau diese vor sich ging, habe ich nie erfahren, darüber stand auch nichts in den Akten. So schnell ging das, ein Kind zu platzieren! Was wohl in mir vorging? Habe ich mich gefragt, wer mich jetzt in einer Tragetasche mit sich trägt? Was passiert mit mir? Wie habe ich dieses ständige lärmige Geräusch auf der Zugfahrt empfunden? Habe ich während der ganzen Zugfahrt geschrien? Irgendwann bin ich sicher vor Erschöpfung eingeschlafen.
Ich wusste nicht, ob ich jetzt wieder an einen neuen Platz kam, der für längere Zeit mein neues Zuhause sein würde. Wie konnte ich das als Baby auch erkennen? So brachte mich meine Mami in ihre Wohnung, und schon bald wurde ich auch von meinem Papi in Empfang genommen. Seine erste Reaktion war nicht gerade die tollste, die man sich wünscht: „Bring das hässliche Kind zurück, ich will das nicht!“, waren seine ersten Worte, als er mich zum ersten Mal sah, hat mir meine Mami immer wieder erzählt. Und sie gab auch zu, dass es in erster Linie ihr Wunsch war, ein Kind aufzunehmen. Mein Papi war eher skeptisch. Sie hatte sich – wie immer – durchgesetzt, und mein Papi hatte aus Liebe zur ihr sein Einverständnis gegeben. Aber ich habe meinem Adoptivvater längst verziehen, weil er mit seiner großen Liebe zu mir alles wieder gutgemacht hat. Meine Mami fügte immer wieder dazu: „Weißt du, nach einer Woche hätte er dich um keinen Preis mehr zurückgegeben!“
Als mich meine Adoptiveltern zum ersten Mal in den Armen hielten, sah ich wirklich hässlich aus. Mein ganzes Gesicht war mit Krusten übersäht. Ich litt an einer starken Neurodermitis. Aus heutiger Sicht betrachtet waren das sicher Zeichen einer Stressreaktion des Körpers, hervorgerufen durch die seelischen Strapazen.
So war ich nun in Lugano angekommen. Das rassige, dunkle Maiteli war nun in einer lateinischen Umgebung zuhause und konnte sich endlich entfalten. Es war sicher auch für meine Adoptiveltern eine riesige Umstellung, plötzlich ein Baby bei sich zu haben, für das man rund um die Uhr Verantwortung übernehmen muss. Es fehlte die neunmonatige Schwangerschaft, in der meine Adoptiveltern sich schon voll auf das Kind im Bauch vorbereiten und zu ihm eine natürliche Beziehung aufbauen konnten. Seit ihrer Anmeldung bei der Adoptionsvermittlungsstelle waren zwar auch bei ihnen schon genau 9 Monate vergangen, aber meine Eltern hatten keine Möglichkeit, mich zu fühlen oder eine Bindung zu mir aufzubauen. Ich wuchs nicht in meiner Mami heran, sie hat nicht spüren können, wie ich ihren Bauch immer mehr wölbte und in ihr strampelte. Nie konnten sie sich die Frage stellen: Wird es wohl dem Vater oder der Mutter ähnlich sein?
Diese letzte Frage trifft bei mir nicht zu, hatte ich doch unbekannte Erbanlagen. Ich war jedoch eher der südländische Typ und hatte somit eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit mit meinem Papi.
Am 11. Dezember 1958 schrieb meine Mami der privaten Kindervorsorge in Rapperswil:
„Liebes Fräulein, Unsere Regula (sie heisst jetzt so) hat sich bei uns schon gut eingelebt und wir haben viel Freude an ihr. Sie wird jeden Tag hübscher und lebhafter und der Ausschlag im Gesichtchen ist vollständig weg. Gestern war ich mit Regula beim Doktor. Er war sehr zufrieden mit ihr. Sie ist nun 9 Wochen alt und wiegt schon 4 700 kg, sie hat aber auch immer einen guten Appetit!“
Es schien alles gut zu laufen, ich hatte mich in der neuen Familie offensichtlich bereits nach kurzer Zeit eingelebt, denn am 24. Februar 1959 verfasste meine Mami ihren zweiten Brief für Rapperswil:
„Endlich kommt wieder einmal eine Nachricht von unserer Regula. Ich lege Ihnen ein Phöteli bei, damit Sie sehen, wie unsere Tochter sich gemacht hat. Sie können sich kaum vorstellen, welche Freude wir an diesem ‚Chrötli‘ haben. Sie ist ein liebes, fröhliches Meiteli und bis jetzt entwickelt sie sich sehr gut. Regula wiegt schon 6,6 kg und vor 3 Wochen hat sie die erste Krankheit gehabt. Sie war stark erkältet und hustete viel und dazu kam noch Durchfall – also alles zusammen. Ich bin wirklich froh, dass diese anstrengenden Tage und fast schlaflosen Nächte vorbei sind. Auch mit dem Hautausschlag geht’s besser; es gibt Tage, wo man überhaupt nichts sieht, und plötzlich ist das Gesichtlein wieder ganz voll. Aber der Arzt sagt, dass dies mit der Zeit vollkommen weg geht. Regula ist ein ganz hübsches Meiteli geworden (die Haare sind zwar bald alle weg) und sie wird von ganz Cassarate bewundert. Sie hat immer einen guten Appetit und am Mittag isst Regula schon viel Gemüse. Entschuldigen Sie bitte meine Schrift, denn Regula sitzt bei mir und fuchtelt mit ihren Händchen immer nach dem Papier und gibt mir hie und da einen Stoss. Nach Ostern werde ich mit Regula für ca. 10 Tage nach Bern fahren. Im Fall Sie unser Meiteli eventuell sehen möchten, kann ich Ihnen noch genau berichten, wann ich in Arth-Goldau vorbeifahre. Ich wünsche Ihnen schöne Ostertage und alles Gute, Ihre Hedi Giacometti“.
Am 30. April 1959, da war ich seit knapp 5 Monaten in der Familie Giacometti und bald 7 Monate alt, informierte meine Mami wiederum die Adoptionsvermittlungsstelle über den Verlauf:
„Endlich kommen wieder einmal zwei Phöteli von unserer Regula. Nicht wahr, sie ist ein herziges Schätzeli geworden? Letzte Woche bekam sie ihre zwei ersten Zähnchen (unten), zum Glück ohne Schmerzen. Bald, bald kann sie allein sitzen und im ‚Yompa-la‘ springt sie rückwärts schon durch die ganze Wohnung. Regula wiegt nun 7,8 kg und für ihr Alter ist sie sehr lang. Jeden Tag macht sie nun grosse Fortschritte; sie lacht und jauchzt den ganzen Tag. An diesem Kindlein haben wir wirklich riesige Freude. Durch ihre sonnige Art hat sie sich schon zum Liebling von ganz Cassarate gemacht! Indem ich Ihnen alles Gute wünsche, grüsse ich Sie herzlich.“
Es war für mich sehr rührend, als ich diese Briefe im Alter von 57 Jahren zum ersten Mal las. Tränen rollten über meine Wangen. Ich schien von meinen Adoptiveltern voll akzeptiert worden zu sein und sie hatten große Freude an mir. Aber wie fühlte ich mich bei ihnen? Wie sah es in meiner Seele aus? Was verdeckte mein Lachen und Jauchzen den ganzen Tag? Auf jeden Fall sah es von außen so aus, dass es mir gut ging, und ich möchte auch nicht daran zweifeln.
Kurz nach meinem ersten Geburtstag folgte im November 1959 ein weiterer Brief von meiner Mami an die Adoptionsvermittlungsstelle:
„Schon seit einiger Zeit haben Sie nicht mehr von uns gehört. Wie Sie auf den Phöteli sehen können, wird unsere Regula immer herziger und sie kann jetzt schon laufen. Sie macht jeden Tag Fortschritte und wir haben grosse Freude an unsere Regula. Vor sechs Wochen hatte Regeli hohes Fieber und Halsweh und seit da schläft sie in der Nacht sehr schlecht. Es kann sein, dass es vom Penicillin ist, welches in der Medizin war und ev. hat auch die Kinderlähmungs-Einspritzung eine nachteilige Wirkung. Sie wurde vom Arzt gründlich untersucht, aber es scheint nur eine vorübergehende Störung zu sein. Bis jetzt konnte ich mich ja wirklich nicht beklagen, denn ausser dieser Schlaflosigkeit war Regula ein ganz liebes, braves Meiteli. Bestimmt wird auch diese Zeit bald vorbeigehen und dann werde ich mein Schlafmanko wieder gründlich aufholen. Regeli hat nun schon sieben Zähnli, drei unten und vier oben, und sie wiegt 10 kg. Für 13 Monate ist sie sehr gross. Auch die Haare werden langsam länger und wie Sie auf dem Photo sehen können, bekommt Regeli herzige ‚Chruseli‘. Ich finde wirklich, dass es kein hübscheres Meiteli gibt als meine Tochter! Ihrem Unternehmen wünsche ich weiterhin alles Gute und grüsse Sie alle herzlich, Ihre Hedi Giacometti“.
Ich war oft krank und hatte massive Schlafstörungen. Meine Mami hat mir viel von jener Zeit berichtet. Sie sagte mir, ich schlief praktisch nie, den ganzen Tag und die ganze Nacht blieb ich wach. Meine Mami und mein Papi erzählten mir, dass sie im Turnus während der Nacht wach geblieben sind: bis 2 Uhr morgens wachte mein Papi über mich, dann übernahm meine Mami. Es war eine herausfordernde und nervenaufreibende Situation. Sie suchten Rat beim Hausarzt, doch auch er konnte sich die Ursache offenbar nicht genau erklären. Auch nach einer gründlichen Untersuchung konnte er keine ersichtliche Krankheit feststellen. Die Vermutung lag nahe, dass es eine Reaktion auf das Penicillin war oder eventuell durch die Kinderlähmungsimpfung ausgelöst worden sei. Der Arzt war der Meinung, dass es sich sicher bald wieder normalisieren würde. Doch er sollte nicht recht behalten: Dieser Zustand dauerte etwa 9 Monate an und meine Eltern erzählten mir immer wieder, dass ich während dieser Zeit nie geschlafen hätte. Als sie erneut den Hausarzt aufsuchten, glaubte er ihnen nicht. Er sagte: „Kein Mensch überlebt so lange Zeit ohne zu schlafen.“ Und so fühlten sich meine Adoptiveltern alleingelassen. Es war wirklich eine schreckliche Zeit für sie.
Durch die ständige Unruhe entwickelte meine Mami in dieser Zeit eine Schlafstörung, und sie erhielt vom Arzt dann die ersten Schlafmittel, die auf dem Markt zu haben waren. Was damals noch nicht bekannt war: Diese Tabletten machten abhängig, und auch meine Mami wurde ihr Opfer und kam ein Leben lang nicht von diesen Medikamenten los. Tragisch. Sie sagte dann immer zu mir, dass ich daran schuld wäre, dass sie mit diesem Zeug angefangen hätte. Ich nehme ihr diese Vorwürfe nicht übel und weiß, sie wollte mich damit nicht verletzen und suchte nur nach einer Entschuldigung für ihre lebenslange Medikamentenabhängigkeit.
Am 8. März 1960 wurde ich von meinem Papi mit gerichtlicher Urkunde und Adoptionsvertrag adoptiert und habe seinen Familiennamen angenommen. Der Heimatort blieb noch der alte, so wie das Gesetz es damals vorsah. Die Behörden stellten mir aber einen neuen Geburtsschein aus, auf dem ich als Regula Giacometti eingetragen war. Ich war nun in meine neue Familie „wiedergeboren“, mit neuer Identität und einer neuen Identifizierung durch eine neue Geburtsurkunde – als ob ich in die Familie Giacometti hineingeboren worden wäre.
Am 6. Mai 1960, als ich bereits 1 ½ Jahre alt war, schrieb meine Mami Folgendes an die Adoptionsvermittlungsstelle:
„Schon lange Zeit haben Sie nichts mehr von uns gehört, dies will ich nun schnellstens nachholen. Wie Sie wahrscheinlich gehört haben, ist Regula inzwischen ein ‚Giacometteli‘ geworden und wir sind natürlich glücklich, dass Regeli nun ganz uns gehört. Sie ist immer noch ein liebes, herziges Meiteli und sie macht uns wirklich viel Freude. Leider schläft sie immer noch nicht, wie sie sollte; in der Nacht erwacht sie öfters und schreit, dass die ganze Nachbarschaft Konzert hat. Ich weiss nun nicht, ob dies mit den Zähnen zusammenhängt und ich hoffe sehr, dass Regula bald wieder besser schläft. Auch hat sie zwei schlimme Anginas gehabt; dies ist der schwache Punkt von unserer Tochter, denn, wie der Doktor sagt, hat sie schon jetzt schlimme Mandeln. Auf Rat vom Doktor, werden wir im Juni Regula nach Silvaplana geben, ein privates Kinderheim (sie nehmen nur 3–4 Kinder), während wir dann am Meer Ferien machen werden. Im Juli nehme ich sie dann mit mir nach Maloja, wo wir einen Monat Ferien machen. Ich wünsche Ihnen alles Gute und grüsse Sie freundlich, H. Giacometti“.
Ich hatte immer noch Schlafstörungen und war des Öfteren krank, was sicher auch bei nicht adoptierten Kindern in diesem Alter der Fall sein kann. Ich erwachte viel in der Nacht und schrie laut. Wollte ich vielleicht meine Adoptiveltern testen, ob sie wirklich immer kommen und für mich da sind, wenn ich mich nicht wohl fühle oder Angst habe? Das Schreien in der Nacht zwang meine Eltern, mich aus dem Bettchen zu nehmen und mich zu beruhigen, da ich sonst die ganze Nachbarschaft aufgeweckt hätte.
Weil ich so oft Angina hatte, wurde ich auf Rat des Hausarztes für vier Wochen in ein privates Kinderheim in Silvaplana gebracht. Offenbar waren meine Adoptiveltern mit mir überfordert. Ich war erst 1 ½ Jahre alt, und schon wieder stand mir eine Trennung bevor. Was ging wohl in mir vor, als sich meine Adoptiveltern von mir verabschiedeten und ich mich erneut an eine neue Umgebung und an neue Bezugspersonen gewöhnen musste? Oder war etwa mein ständiges nächtliches Weinen der Grund, dass ich hierher versetzt wurde? Brauchten meine Adoptiveltern eine Auszeit, um sich von meinen Schlafstörungen beziehungsweise ihrer ständigen Pflege aufgrund meiner Krankheiten zu erholen? Meine Eltern fuhren in dieser Zeit ans Meer. Hätte mir die Meeresluft nicht auch gutgetan? Ich hatte als Kleinkind wieder keine Chance, die erneute Trennung irgendwie einzuordnen oder mich dagegen zu wehren. Würden meine Mami und mein Papi mich auch wieder abholen oder musste ich jetzt für immer hier bleiben? Wie war die Betreuung in diesem Kinderheim? Wusste man von all den Trennungen, die ich schon durchgemacht hatte?
Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass leider auch der Hausarzt keine Ahnung hatte, was eine erneute Trennung für ein so kleines Adoptivkind bedeutet und welche Auswirkungen diese haben kann. Wenn ich das schreibe, macht es mich sehr traurig. Ich hätte meinen Sohn in diesem Alter niemals für so lange Zeit in fremde Betreuung geben können! Und so kam es, wie es kommen musste: Als mich meine Adoptiveltern vier Wochen später wieder abholten, erkannte ich sie nicht wieder. Aus Erzählungen meiner Mami weiß ich, dass ich nicht mit ihnen weggehen wollte und wie am Spieß schrie.
Heutzutage ist es so, dass sogar bei kurzen Spitalaufenthalten die Eltern aufgefordert werden, einen großen Teil des Tages, und falls nötig auch die Nacht, beim Kind zu verbringen, um das Getrenntsein auf ein Minimum zu reduzieren, denn heute weiß man, dass eine lange Trennung zu einem seelischen Langzeittrauma führen kann und noch schwerwiegendere Störungen als meine sowieso schon vorhandenen Krankheiten hervorrufen kann.
„Auch bei leiblichen Kindern, die von der Mutter getrennt werden und bis dahin seelisch und körperlich gesund waren, können diese Kinder, je jünger sie sind, desto stärker, plötzlich körperlich und seelisch erkranken und sogar lebensgefährliche Erkrankungen entwickeln, woran sie schlimmstenfalls auch sterben können. Ihre Lebenskräfte sind durch den Weggang der Mutter geschwunden, die ihnen bisher, beginnend in der Schwangerschaft, als Kraftquelle diente.“ (Hellbrügge, 2003)
Meine Mami war eine sehr lebhafte und kontaktfreudige Person. Sie war bestrebt, dass ich immer mit vielen Kindern spielen konnte. In der warmen Jahreszeit ging sie täglich mit mir in einen kleinen Park am See (auf dem Coverbild sieht man mich in diesem Park), wo ich im Sandkasten mit gleichaltrigen Kindern spielen konnte. In den Wintermonaten sorgte sie dafür, dass öfter Kinder zu uns zu Besuch kamen. Ich hatte viele liebe Menschen um mich, viele Aktivitätsmöglichkeiten, und ich konnte mich dadurch gut entfalten.
Aber krank war ich nach wie vor sehr oft. Angina hatte ich zwar keine mehr, da mir im Alter von 2 Jahren die Mandeln operiert wurden. Dafür erlitt ich einen heftigen Keuchhusten, wie es im Medizinbuch steht. Die Hustenattacken dauerten über Monate – und wieder kämpfen meine Adoptiveltern mit vielen schlaflosen Nächten. Im Brief meiner Mamis vom Dezember 1960 an die Adoptionsvermittlungsstelle liest man Folgendes:
„Liebes Fräulein, Anbei sende ich Ihnen einen Gepäckempfangsschein, mit welchem Sie auf dem Bahnhof Rapperswil einen Kinderwagen abholen können. Im Fall der Wagen beschädigt sein sollte, ist er versichert und Sie können dementsprechend reklamieren. Ich hoffe, einem kleinen Pflegling einen Dienst zu erweisen; bestimmt können Sie immer alle gut gebrauchen. Wir freuen uns sehr, mit unserem Regeli Weihnachten zu feiern und sie wartet mit grosser Ungeduld aufs Christkind, von welchem sie viele Geschenkli erwartet. Regula hat seit anfangs November den Keuchhusten, leider ziemlich stark, und ich habe wieder viele schlaflose Nächte hinter mir. Nun geht’s allerdings bedeutend besser und am 2. Januar 1961 werden wir für 4 Wochen nach Mürren gehen, dann wird bestimmt dieser langwierige Husten ganz verschwinden. Es ist wirklich schade, dass Sie Regula nicht sehen können! Ihr Mündchen plappert den ganzen Tag. Sie hat nun zwei herzige Zöpfli und so sieht sie schon wie ein grosses Meiteli aus. Wir haben unglaublich viel Freude mit ihr. Ich wünsche Ihnen und dem ganzen Unternehmen alles Gute für 1961 und allen frohe Weihnachten. Liebe Grüsse H. Giacometti + Familie“.
Meine Mami erzählte mir, dass jede zweite Woche der Hausarzt bei uns zu Hause war. So kam es dann auch, dass ich, als ich ca. 2 ½ Jahre alt war, wegen starken undefinierbaren Bauchschmerzen am Blinddarm operiert werden musste. Davon trage ich jetzt noch eine 10 cm lange Narbe. Es stellte sich danach heraus, dass der Blinddarm eigentlich gar nicht entzündet war, sondern es sich um eine Bauchfellentzündung gehandelt hätte. Diese Operation war demnach vergebens.
Ich war nun zweijährig und ständig krank. Im Nachhinein denke ich, hatten diese Krankheiten eher psychosomatische Ursachen, hervorgerufen durch die häufigen Trennungen, wurden aber nicht als solche erkannt. Meine Adoptiveltern schrieben der Adoptionsvermittlungsstelle immer wieder, sie hätten riesige Freude an mir und könnten sich ein Leben ohne mich nicht mehr vorstellen. Aber ich glaube auch, dass es eine sehr schwierige Zeit für sie war. Ich schrie viel, raubte ihnen den Schlaf und forderte durch meine Krankheiten ihre ständige und volle Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich wollte ich sichergehen, dass sie sich immer um meine Bedürfnisse kümmerten. Meine Mami gab später aber zu, dass sie mich nicht immer aufgenommen hat, wenn ich im Bettlein schrie. Sie war der Meinung, dass man Babys nicht zu fest verwöhnen soll, sonst beherrschten sie einen. Und so ließ sie mich am Tag – in der Nacht konnte sie es wegen der Nachbarschaft nicht – für längere Zeit schreien.
Da meine Mami im Büro meines Papis mithalf, organisierten meine Eltern eine Haushaltshilfe. Diese kam mehrmals in der Woche, um den Haushalt in Ordnung zu halten und dazu noch mich zu betreuen. Jahre später traf ich diese liebenswürdige Frau wieder und sie erzählte mir spontan: „Weißt du, deine Mutter war extrem streng mit dir. Sie hatte mir verboten, dich aufzunehmen, wenn du geschrien hattest. Aber ich konnte es nicht ertragen, du hattest so laut geschrien, dass mir fast das Herz zerbrochen ist. So habe ich dich dann in die Arme genommen und nach kurzer Zeit musstest du ein ‚Görbschen‘ machen und danach warst du dann wieder ruhig.“
Ich bin ihr so dankbar, dass sie mich so liebevoll betreut hat. Trotz ihres höllischen Respekts vor meiner Mami hat sie den ganzen Mut zusammengenommen und ihr gebeichtet, dass sie mich regelmäßig vom Bettchen aufgehoben und dabei gemerkt habe, dass der Grund meines Schreiens Verdauungsprobleme waren. Sobald sie mich kurz in den Armen hielt, konnte ich auch wieder ruhig im Bettchen einschlafen.
Ja, das war meine Mami. Eine strenge Erzieherin, die es gut meinte, aber eindeutig zu wenig Empathie für ein Kleinkind hatte – und erst recht keine Vorstellung davon, wie viel zusätzliche Aufmerksamkeit ein traumatisiertes Adoptivkind gebraucht hätte, damit es nicht immer wieder an die erste schmerzliche Trennung erinnert würde.
Schon in meiner Kindheit entwickelte ich viele Ängste, die mich leider das Leben lang begleiteten. Meine Mami wollte, dass ich mich früh daran gewöhne, allein zu Hause zu sein. Sie meinte, es würde mich stärken, wenn ich abends immer wieder auf mich allein gestellt wäre. Heute weiß ich: Es hat genau das Gegenteil bewirkt und Verlustängste provoziert.
Das gehörte auch zu ihren Erzählungen: „Weißt du, ich wollte mit deinem Papi einmal pro Woche ins nahe gelegene Bistro gehen, um ein wenig fern zu sehen sowie um andere Menschen zu treffen. Und als wir dich ins Bett legten, verabschiedeten wir uns von dir und erklärten dir, dass wir ganz in der Nähe seien und ich keine Angst haben müsse, sie würden bald wieder nach Hause kommen.“
Diese Abende und die damit verbundenen heftigen Angstgefühle habe ich nie wieder vergessen und kann sie heute noch nachfühlen. Ich konnte nie einschlafen und hatte panische Angst vor Einbrechern und anderen bösen Gestalten. Jedes kleinste Geräusch versetzte mich in Angst und Schrecken. Ich versteckte mich unter der Decke und atmete kaum noch, so dass mich niemand hören und finden konnte. Es waren für mich unendliche Stunden, die Zeit schien stillzustehen. Erst als ich meine Eltern kommen hörte, konnte ich mich langsam beruhigen. Als sie dann bei mir ins Zimmer schauten, stellte ich mich immer schlafend. Ich wollte nicht, dass ich getadelt werde, weil ich immer noch wach lag. Und so musste ich immer wieder diese schrecklichen Gefühle des Verlassenwerdens von neuem erleben, die ständige Wiederholung der ersten traumatischen Gefühle in meinem Leben. Meine Eltern waren sich dessen offenbar nicht bewusst.
Ich bin klar der Meinung, dass man einem (adoptierten) Kind nie zu viel Liebe, Aufmerksamkeit, Zuwendung und Empathie schenken kann. All diese Eigenschaften sind viel wichtiger als eine strenge und spartanische Erziehung.
Als ich 4 ½ Jahre alt war, im März 1963, verfasste meine Mami wieder einen Brief an die Adoptionsvermittlungsstelle:
„Liebes Fräulein, Jeder Tag geht vorüber, ohne dass ich meine guten Vorsätze, Ihnen zu schreiben, ausgeführt habe. Aber eben, die Zeit vergeht so schnell und nun ist unsere Regi schon 4 ½ Jahre alt. Je grösser sie wird, je mehr Freude macht sie uns. Regula ist wirklich ein lustiges, liebes, intelligentes Kind und für nichts in der Welt würden wir sie wieder hergeben. Anbei sende ich Ihnen ein Bildchen, wo Regula Schlittschuh läuft. Für diesen Sport hat sie einen eisernen Willen und bis sie jeweils vom Schlittschuhplatz wegkam, brauchte es immer etwas. Auch mit Skifahren geht’s schon ganz ordentlich und dieses Jahr in Mürren hat sie sich prächtig erholt und amüsiert. Es ist nur schade, dass Sie nie in das Tessin kommen, ich würde Ihnen Regula so gerne zeigen. Sie hat sofort mit allen Leuten schnell Freundschaft und alle haben sie gerne. In den Kindergarten geht sie immer fleissig und sie spricht jetzt Deutsch und Italienisch sehr gut. Auch diesen Sommer werden wir die meiste Zeit in Maloja verbringen. Ich kann nun auch besser profitieren, denn meine Büroarbeit habe ich ganz aufgegeben. Nun, ich hoffe trotzdem, dass Sie bald unsere Tochter persönlich kennen lernen und wünsche Ihnen indessen alles Gute. Liebe Grüsse sendet Ihnen Ihre H. Giacometti“.
All die Briefe, die meine Mami geschrieben hat, sind so berührend und hinterlassen mir jetzt im Erwachsenenalter ein sehr gutes Gefühl. Es ging mir wirklich gut bei den Giacomettis, meine Eltern hatten offenbar viel Freude an mir. Sie haben mir so viel geboten, wie zu jener Zeit sicher nicht jedes Kind erleben durfte. Für all dies bin ich meiner Mami und meinem Papi unendlich dankbar.