Читать книгу Westerwälder Tango - Reiner Karl Litz - Страница 5
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»Feierabend!«
Beherzt griff Ronald Berger nach seiner Aktentasche, von der er allerdings schon seit langem nicht mehr wusste, warum er sie eigentlich jeden Morgen mitnahm. Außer einem sporadisch geführten Chefkalender von der Sparkasse Neuwied und hin und wieder einem mit Pfälzer Leberwurst oder Limburger belegten Brot enthielt sie ohnehin nichts. Nun gut, zumindest nichts von Bedeutung. Genau genommen barg die schwarze, abgestoßene Ledertasche noch Prospekte der Ferienwohnung in Sankt Peter-Ording, in der sie vor vier Jahren ihren Urlaub verbracht hatten sowie eine bezahlte Rechnung der Kick-Fahrzeuglackierung aus dem letzten Jahr. Außerdem die silberne Krawattennadel, die ihm die Kollegen vor sieben Jahren zum Fünfzigsten geschenkt hatten und die er ebenso wenig mochte, wie die Halsbinder selbst. Zudem lagen in der Tasche einige Bonbontüten, in denen die süßen Zuckersteine eine unlösbare Verbindung mit ihrer Verpackung eingegangen waren. Flyer, Visitenkarten, abgelaufene Aspirin und Prospekte von Gebrauchtwagenhändlern oder Haftpflichtversicherern komplettierten zusammen mit dem zerknitterten und nicht eingelösten Geschenkgutschein einer Thai-Yoga-Massage das Chaos in der Tasche.
Irgendwie war es die Gewohnheit, die ihn jeden Tag wieder nach dem unattraktiven schwarzen Utensil greifen ließ, wenn er sich auf den Weg ins Präsidium machte. Logisch war das nicht. Auch nicht wirklich vernünftig oder irgendwie sinnvoll, aber aus irgendeinem ihm unbekannten Grund wohl erforderlich.
Die Tasche geht aus dem Leim, dachte er, als er sie schwungvoll vom Boden neben dem Schreibtisch hochriss und ihr dabei von der Seite einen kurzen Blick gönnte, bevor er sie vor sich auf den Schreibtisch knallte. Die Nähte am Boden begannen sich aufzulösen. An einigen Stellen glänzte das metallene Spiralband durch das abgeriebene Leder. Ein sinnvolles Weihnachtsgeschenk wäre es. Sinnvoller jedenfalls als immer neue Hemden, Socken oder Krawatten, von denen er seiner Meinung nach mehr als genug besaß. Monika würde sich bestimmt freuen, wenn er mal so etwas Nützliches gebrauchen könnte. Er schriebe »Aktentasche« auf seinen Wunschzettel, und Monika hätte etwas Passendes für ihn. Allerdings müsste sie noch zehn Monate auf die Überraschung warten. Weihnachten war gerade erst sieben Wochen her.
Mit einem gepressten Stöhnen erhob er sich aus seinem Bürostuhl, um sich zu seinen Einsdreiundachtzig aufzurichten. Es gelang ihm nicht gänzlich. Das Kreuzbein! Irgendetwas stimmte nicht damit. Seit Wochen schmerzte es, mal links, mal mehr rechts. Nein, eigentlich war es nicht nur das Kreuzbein. Es war alles um den hinteren Rücken herum, vom Hintern bis hoch zum Nacken. Er ließ einen misslaunigen Blick über seinen Schreibtisch streifen und verdrängte dabei den Gedanken an die Formulare und Berichte, deren Fertigstellung er sich für heute vorgenommen hatte. Seine Hand fuhr durch das mittellange, ergraute Haar als er zum Garderobenständer ging. Er griff seinen schwarzen Schurwollkurzmantel, legte ihn sich über den Arm und trat, den ziehenden Schmerz in der linken Gesäßhälfte und dem rechten Nacken ignorierend, auf den Flur. Dabei schwenkte er die Aktentasche mit aufgesetzt jugendlichem Schwung in Richtung Treppenhaus.
Das Telefonklingeln und das Stimmengewirr der Kollegen, die aus den geöffneten Bürotüren in den gut dreißig Meter langen Flur drangen, nahm er schon lange nicht mehr bewusst wahr. Sechsunddreißig Jahre im Polizeidienst und nun elf Jahre als Erster Kriminalhauptkommissar und Leiter der K1/K2 in der Kriminalinspektion Neuwied hatten ihn sensibel für die wichtigen und taub für die unwichtigen Geräusche werden lassen.
Im Büro nebenan saß Kriminaloberkommissar Nikolai Sorokin hinter seinem Schreibtisch und telefonierte. Sorokin, Sohn eines russischen Botschaftsangestellten, war ein hilfsbereiter und freundlicher Kollege, der noch dazu eine ausgesprochen kriminalistische Spürnase besaß. Ein Mann mit Potential, wie Berger wusste. Zudem wies Sorokin die Art von natürlicher Herzlichkeit auf, die Berger an vielen Russen schätzte.
Sorokins Oberkörper war angespannt nach vorn geneigt. Die rechte Hand mit einem Kugelschreiber zum Notieren bereit, seine Augen konzentrativ weit geöffnet, sprach er mit jemanden über offensichtlich Bedeutsames. Als er Berger sah, forderte er ihn wild gestikulierend zum Warten auf. Berger blieb stehen, zog eine säuerliche Schnute und blickte erst genervt auf seine Armbanduhr, dann stöhnend hinauf zur Decke.
»Ja … verstehe … am Bootsanleger … sind schon informiert? Gut, ja … wir sind auf dem Weg!« Sorokin beendete das Gespräch, warf das Handgerät auf seinen Schreibtisch und sprang mit verkniffenem Blick auf. »Ronny, das wird nix mit deinem Feierabend. Wir haben einen Toten im Rhein.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, Niko. Ich hab was vor!« Er starrte Sorokin vorwurfsvoll an und schüttelte dann heftig mit dem Kopf. Zwar stand in Wirklichkeit nichts Außergewöhnliches an, wenn man davon absah, dass ein gemeinsames Abendessen mit seiner Frau sehr wohl etwas Außergewöhnliches hätte sein sollen. Seine Gedanken verweilten aber bereits seit einer guten Stunde bei dem Glas Bordeaux und dem Nudelauflauf mit Lachs und Spinat, den Monika ihm für heute Abend versprochen hatte.
Es kriselte seit geraumer Zeit zwischen ihm und Monika, was er natürlich so gut wie gar nicht bemerken wollte. Monika Berger hatte in etlichen hitzigen Diskussionen das tägliche Miteinander zum Thema gemacht und ihn auf die wenigen verbliebenen Gemeinsamkeiten angesprochen. Im Grunde genommen sehr ehrlich von ihr. Na, jedenfalls konnte er deshalb Angebote, wie den Nudelauflauf mit Lachs, keinesfalls ignorieren und sie warten lassen.
Er sah Sorokin mit rollenden Augen an: »Geh da mal mit dem Fassbender hin. Der kann sich seine Sporen noch verdienen, ich …«
»Ronny, das kannst du nicht machen«, Sorokin unterbrach seinen Chef hastig und ungewohnt aufgeregt. »Da musst du mit.« Er fuchtelte mit beiden Armen. »Der Fassbender ist doch schon mit seinen Statistiken überfordert.«
»Ja, eben!« Berger wedelte seinerseits mit der ausgestreckten Hand in Sorokins Richtung. Seine Stimme wurde abrupt rauer. »Der müsste eben öfter raus, damit er …« Er schüttelte unwirsch den Kopf, wuchtete sich die Aktentasche unter den Arm, blickte wieder auf seine Armbanduhr und kämpfte etwas zu demonstrativ mit sich selbst. Dabei wusste er natürlich selbst, dass Sorokin recht hatte. Er musste mit raus. Ein Toter im Rhein! Es war sein Kommissariat. Es war sein Fall. Bereits jetzt. Er atmete tief ein und stöhnte beim Ausatmen nochmals vernehmlich. »Los, dann komm schon!« Resigniert warf er den Kopf zur Seite, Richtung Treppenhaus und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Die Schmerzen in Nacken und Gesäß machten sich wieder bemerkbar. Sorokin griff sich seinen Parka vom Garderobenhaken und folgte Berger, der sich bereits abgewandt hatte und in den Flur getreten war.
-
Ein Angler, ein älterer Russe, hatte ihn am Haken gehabt. Zunächst musste der sich in Erwartung eines ganz großen Fanges wohl gefreut haben. Nun saß er zusammengefallen auf einem Eisenpoller am Rand der Kaimauer und stierte auf das Kopfsteinpflaster vor seinen Füßen. Ein Kollege von der Trachtengruppe hatte ihm eine Decke über die Schultern gelegt und redete beruhigend auf ihn ein.
Nachdem der Russe in Erwartung eines besonders fetten Fangs die Leiche mit seiner Angel auf Sichthöhe herangezogen hatte, war diese uferseitig in die Hanftrossen des verwaisten Bootsanlegers von Kramers Personenschiffen getrieben und hatte sich dort verfangen. Dort hing sie immer noch. Die Angel, die der Angler beim Anblick seines Anglerglücks in Panik von sich geworfen hatte, trieb fünf Meter weiter stromabwärts, nach wie vor mittels Nylon und Haken an der Leiche haftend.
Der Rhein hatte Niedrigwasser und strömte etwa zwei Meter unterhalb der Kaimauer vorbei. Zwischen dem unansehnlichen, rostigen und verbeulten Anleger und der Mauer lagen etwa sechs, sieben Meter. Die Leiche dümpelte genau in der Mitte, dort, wo die Trossen am Tiefsten durchhingen. Eine männliche Leiche. Man konnte den Hinterkopf und die rechte Schulter erkennen, der Rest hing im seichten Wasser ab.
Das Motorboot der Wasserschutzpolizei hatte flussseitig am Steiger festgemacht. Auf dem Deck des Bootsanlegers bewegten sich bereits mehrere Beamte. Die Schutzpolizei hatte das Gelände weiträumig abgesperrt. Trotzdem waren an diesem späten Februarnachmittag gut hundert Schaulustige zum Rheinufer gekommen und standen hinter dem Absperrband oder oben auf der Deichmauer, um ja nichts zu verpassen.
Es war kurz nach fünf, bereits dunkel und unangenehm kalt, aber es fror nicht. Fassbender hatte kurzzeitig seine Statistiken beiseitelegen müssen, um die Kollegen der Wasserschutzpolizei zu benachrichtigen und zur Absicherung des Fundortes rauszukommen, was ihm erkennbar nicht gefiel. Mit säuerlicher Miene und eingezogenen Schultern schlich er, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, über das Gelände. Fünf Hochleistungsstrahler tauchten die Szenerie in ein gespenstig kaltgrelles Licht. Zwei Taucher schoben sich zwischenzeitlich durchs beckenhohe Wasser und versuchten zusammen mit einem Kollegen auf dem Steiger, den Leichnam aus den armstarken Befestigungsseilen zu befreien. Ein Kollege auf dem Trockenen führte einen Bootshaken, mit dem er die Trossen anhob.
»Irgendwelche Verletzungen?«, brüllte Berger von der Kaimauer zu den Tauchern hinab. Die schüttelten die Köpfe, einer von ihnen machte eine vage Handbewegung, die aussagen sollte, dass man darüber streiten könne, ob das, was sie sahen, als Verletzung zu bezeichnen wäre. Sorokin zog sich an Bergers Schulter nach vorn und beugte sich über das Stahlgeländer, um einen ersten Eindruck vom Leichnam zu bekommen. »Unfall oder Selbstmord«, meinte er nach einem abwägenden Blick.
»Abwarten!«, brummte Berger.
»Ja, das empfehle ich in diesem Fall auch immer, Ronny. Der Fall könnte in wenigen Stunden geklärt sein oder dich auch noch in zwei Monaten beschäftigen. Aber wir ziehen ihn erstmal raus.« Lothar Muscheid, Leiter der Wasserschutzpolizei in Neuwied, schaltete sich in das Gespräch ein, klopfte Berger auf die Schulter und grinste.
»Ah, grüß` dich Lothar. Ja, ich weiß worauf du hinauswillst: Er lag ja quasi auf dem Trockenen.« Er wies mit einem Kopfnicken auf die nur wenige Meter von Ihnen entfernte Fundstelle der Leiche im seichten Rhein. »Da darf ich mich bei dir bedanken, dass ihr ihn für mich rausholt und ich nicht selbst in die Brühe muss.« Um seinen ironischen Unterton zu verstärken sah Berger Muscheid vorwurfsvoll von der Seite an.
Bergers provokante Bemerkung zielte auf die häufig auftretende Zuständigkeitsfrage für eine Leiche im oder in Nähe zum Wasser, die nicht immer sofort und eindeutig zu klären war. Je nach Fundort waren sofort die Kollegen der Kripo, oder wie in diesem Fall, zunächst die Wasserschutzpolizei für die Bergung verantwortlich.
»Na, na, kein Grund für Kompetenzgerangel, Ronny. Er hängt im Wasser, wir holen ihn da raus, und ihr macht weiter. Alles in bester Ordnung!«, konterte Muscheid.
Die Taucher hatten den Leichnam, so behutsam, wie es die Strömung zuließ, von den Seilen gelöst und wurden nun zusammen mit dem Toten an ihren Halteseilen zu der in Flussrichtung abschüssig verlaufenden Panzerrampe, im Amtsdeutsch »Ersatzübergangsstelle«, geleitet. Während die kleine Kolonie Stockenten und einige Nilgänse hastig und schnatternd von ihren Ruheplätzen auf dem Kopfsteinpflaster aufschreckten, um in den Fluss zu flattern, hatten die Taucher mittlerweile das abschüssige Pflaster der Rampe erreicht. Sie zogen den leblosen Körper auf Brusthöhe, dann ließen sie ihn in eine weiße Leichenhülle gleiten, die die Kollegen bereits darunter ausgebreitet hatten. Das Wasser strömte aus den Öffnungen der Hülle nach allen Seiten ab, als die Beamten ihre Last die Anhöhe hinauftrugen und auf dem Deichvorgelände ablegten. Die Leichenhülle sah aus, wie eine überdimensionierte Einkaufstasche von Ikea. Allerdings in der weißen Variante, nicht in der blau-gelben.
»So, nun gehört er euch!« Lothar Muscheid rieb sich die kalten Hände und zwinkerte Berger zu. Für ihn und seine Männer war der Job hier erledigt.
»Gute Arbeit, Jungs. Wie sieht er aus?«, rief Muscheid und bückte sich, um in das Behältnis schauen zu können.
»War noch nicht lange im Wasser. Ich schätze höchstens zwei, drei Tage«, meinte einer der Taucher. Sein Kollege pflichtete ihm mit einem unmerklichen Kopfnicken bei.
»So. Okay, Lothar. Danke für die Bergung. Jetzt schauen wir mal, was mit ihm los ist.« Berger hatte sich neben Muscheid gestellt und reichte ihm mit einer auffordernden Geste die Hand. Muscheid ergriff sie und klopfte Berger freundschaftlich auf den Oberarm.
»Ich schicke dir morgen unseren Bericht. Ich brauche dann nur noch deine Unterschrift.«
»Geht klar, Lothar. Aber, hetz dich bloß nicht. Ich weiß doch, wie sehr ihr im Stress seid.« Mit verkniffenem Blick grinste er Muscheid an.
»Du glaubst doch nicht, dass ich darauf anspringe, Ronny. Im Übrigen habe ich jetzt noch was vor.« Er sah auf seine Armbanduhr, drehte sich zu dem Anleger um, auf dem zwei Kollegen der Besatzung des Polizeibootes warteten und nickte seinen Leuten zu. Dann blickte er zu Berger zurück: »Wir sind dann hier so weit. Ich wünsch` euch eine erfolgreiche Aufklärung. Wie gesagt, ich hab noch was vor. Schönen Abend euch!« Er grinste Berger nochmals breit an, drehte auf dem Absatz um und ging über den Steg zu seinen Männern.
Berger sah ihm hinterher. »Seit wann so dünnhäutig, Lothar?« rief er ihm mit gespielte Besorgnis nach und blinzelte Sorokin mit einem Auge zu. Muscheid tat so, als höre er ihn nicht. Berger schwenkte den Kopf und blickte zur Absperrung, wo Jürgen Rübesam, Leiter Kriminaltechnik, und sein Kollege in ihren weißen Polypropylen-Overalls soeben das Deichvorgelände betraten. »Also, die SpuSi«, rief er und winkte die beiden herbei. »Ihr könnt loslegen, Männer!« Die beiden traten neben den Leichensack, öffneten den Reißverschluss und schoben die Öffnung der Leichenhülle behutsam auseinander, um hineinblicken zu können.
»Schätze, er könnte zwanzig, vielleicht auch dreißig Jahre alt sein. Was meinst du, Niko?«, fragte Berger, der sich zusammen mit seinem Kollegen hinter die beiden vor dem Leichnam hockenden Kriminaltechniker gestellt hatte und über deren Schultern blickte.
»Ja, ich schätze Mitte zwanzig«, antwortete Sorokin, der den Kopf zur Seite geneigt hatte während er den Leichnam beäugte.
»Zwei bis vier Tage im Wasser … Waschhaut an der Innenhand, die sich noch nicht ablöst. Ich sehe keine Läsionen, auch keine Treib- oder Fischfraßverletzungen«, ergänzte Rübesamm, dessen Augen mit abschätzendem Blick über den Leichnam wanderten.
»Lass die SpuSi mal machen, Ronny. Wenn die vorne fertig sind, drehen wir ihn mal auf die Seite.« Sorokin trat einen Schritt zurück und berührte dabei Bergers Arm.
Bei Wasserleichen ist der Grad der Verwesung grundsätzlich ein genauso bedeutsames Indiz für den Todeszeitpunkt wie bei Trockenleichen auch. Die Wassertemperatur spielt hierbei allerdings eine entscheidende Rolle. Der Prozess des Aufquellens der Oberhaut zur Waschhaut kann im Sommer wenige Stunden, im Winter dagegen bis zu mehreren Wochen dauern. Ähnlich unterschiedlich vollzieht sich die Ablösung der Ober- von der Unterhaut. In der warmen Jahreszeit löst sich die Epidermis an den Fingern bereits nach Tagen von der darunterliegenden Dermis, bei Temperaturen um den Nullpunkt erst nach Wochen. Frühe Leichenveränderungen treten in der Regel bereits nach einer halben Stunde auf, wobei Totenflecken bei Wasserleichen in der Regel gänzlich fehlen. Ganz abgesehen davon kann eine Wasserleiche natürlich überhaupt erst nach dem Tod ins Wasser geraten sein …
Es ergaben sich also sofort Fragen, die letztlich erst die Rechtsmedizin in Bonn würde klären können.
Berger wandte sich zur Deichmauer. Sein Blick verfinsterte sich augenblicklich. Hinter dem etwa sechs Meter entfernten Absperrband entdeckte er jemanden, der, mit einer Kamera vorm Gesicht, unentwegt Fotos in ihre Richtung schoss.
»Hallo, lassen sie das mal!« Berger war abrupt laut geworden und ging entschlossen auf den Mann zu. Als er vor ihm stand und der Mann seine Kamera runter nahm, erkannte er das schmale Gesicht mit den stets aufgeregt geröteten Wangen. Es war Luis Timmermans, Lokalredakteur der Rheinland-Post.
»Hallo Herr Berger, muss ich ihnen etwa erst meinen Presseausweis zeigen?« Timmermans grinste frech.
Berger ging nicht auf die Bemerkung ein. »Sie werden doch wohl kein Foto von unserer Leiche veröffentlichen wollen?« Er sah den schlanken, fast dürren Mann mit dem streng gescheitelten, nass glänzenden dunklen Kopfhaar drohend an. Den unwillkürlichen Impuls, nach der Kamera zu greifen und diese unsanft auf dem Kopfsteinpflaster landen zu lassen, bekämpfte er, indem er die sprichwörtliche Faust in der Tasche machte, was ihn allerdings mehr Beherrschung kostete, als ihm lieb war.
»Ich mache hier nur meine Arbeit, Herr Berger, genau wie sie auch.« Timmermans schob das Kinn keck nach vorne und blickte Berger starr in die Augen. »Doch, wo sie gerade hier stehen: Um wen handelt es sich da hinten, und was ist passiert?«
»Herr Timmermans, sie haben doch wohl mitbekommen, dass die arme Person gerade erst aus dem Wasser gezogen wurde. Wer und was, könnten wir ihnen sagen, wenn wir selbst mehr wissen. Und jetzt darf ich sie bitten, das Fotografieren zu unterlassen. Sie wollen doch ihre Leser nicht etwa mit den Bildern einer Wasserleiche schockieren?« Eigentlich wollte Berger noch ein lang gezogenes »oder« nachsetzen, unterließ es aber, um nicht unnötig Öl ins Feuer zu gießen. Er nickte nur kurz und wandte sich ab.
Das Verhältnis zwischen den Kommissariaten und der Rheinland-Post war nicht das Beste. Das anderer Behörden und dem Tagesblatt auch nicht. Die Redakteure hatten es sich in den letzten Jahren zur Gewohnheit gemacht, Personen in ihren Berichterstattungen bloßzustellen, anzuklagen oder gegeneinander auszuspielen. Seien es nun Mitarbeiter der Stadtverwaltung, solche des Amtsgerichts, der Kripo, von Krankenhäusern … Was auch immer es zu berichten gab, die Redakteure der Rheinland-Post witterten überall Skandale und scheuten auch nicht davor zurück, Unterstellungen oder Halb- und Unwahrheiten zu veröffentlichen. Das Leben in Neuwied schien nur noch aus Betrug, Skandalen und kriminellen Machenschaften zu bestehen. Und stets fanden diese Schreiberlinge mindestens einen Schuldigen, den es mit Mutmaßungen bloßzustellen galt. Auch Berger war schon Opfer einer solchen Schmutzkampagne geworden, weil er angeblich falsch oder zu spät ermittelt hatte. Timmermans war besonders berüchtigt für diese Art von »Enthüllungsjournalismus«. Er schien von dem Gedanken besessen zu sein, irgendwann einmal den ganz großen Coup zu landen und einen großen Skandal aufzudecken. Nun, den wollte Berger ihm auf keinen Fall liefern.
Die uniformierten Beamten hatten mittlerweile das Gestänge des Schutzzeltes aufgebaut, zogen die weiße Kunststoffhülle darüber und hoben es über den Leichnam. Zwei weitere Mitarbeiter brachten Strahler und stellten sie hinter den Eingang ins Zelt.
Berger ging hinein. Die Kollegen der Spurensicherung waren soeben dabei, den Leichnam aus dem weißen Kunststoffsack zu heben und ihn auf eine ausgebreitete blaue Folie zu legen. Die aufflackernden Strahler verströmten augenblicklich eine stickige Hitze, die zudem einen unangenehmen, künstlichen Geruch von den Zeltwänden lösten.
»Keine Ausweispapiere. keine Scheckkarten, kein Führerschein …« Jürgen Rübesam hatte erfolglos die Kleidung des Toten durchsucht. Ein weiterer Kollege machte Fotos von den einzelnen Untersuchungsschritten an der Leiche. Jetzt zogen sie ihr Jacke und Hemd aus, um nach Verletzungen zu suchen, die auf äußere Gewalteinwirkung hindeuten könnten.
»Keine Hämatome, keine Schürfmale … doch, Moment …« Berger reckte den Hals und versuchte die ihm abgewandte Schädelseite zu sehen. »Dort hat er `ne Abschürfung, na … bis auf den Schädelknochen sogar.« Er wies mit dem Finger auf eine etwa fünf Zentimeter breite Stelle oberhalb des linken Ohres. »Hat er sich aber vermutlich im Flussbett geholt. Könnte eine Treibverletzung sein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte wetten können, dass es kein Selbstmord ist.«
»Er kann ja immer noch geschubst worden sein. Oder er ist ausgerutscht und konnte sich nicht mehr aus dem Fluss retten, Ronny. Vielleicht konnte er gar nicht schwimmen. Unfall, Selbstmord, Mord … alles Spekulation im Moment«, gab Sorokin zu bedenken.
»Da!« Rübesam deutete auf die linke Armbeuge. »Sieht nach einer Einstichstelle aus.«
»Ja!« Bergers Interesse war geweckt. Er beugte sich über den Arm des Toten. »Lasst uns mal Handrücken, Kniekehlen und so weiter sehen.« Rübesam und sein Kollege zogen Hose und Unterhose der Leiche herunter. Penis und Hodensack waren dunkelgrün bis blau verfärbt und wie bei Wasserleichen üblich, auf die Größe eines Tischtennisballs geschrumpft.
»Ja, hier!« Rübesams Kollege wies mit dem Zeigefinger auf mehrere Stellen in der Leiste. Durch das aufgequollene, blassgrün verfärbte Gewebe waren sie nicht für jeden sofort erkennbar. Dem geübten Blick der SpuSi-Leute entgingen sie allerdings nicht.
»Injektionsstiche! Tja, dann werden wir die Kollegen von der Droge morgen früh mal interviewen«, meinte Berger und nickte den Mitarbeitern zu, die auf die Einstichstellen zeigten. »Vielleicht können die uns sagen, wen wir hier vor uns haben. Das Foto geht so schnell wie möglich zur KD nach Koblenz raus.«
Die beiden Kollegen der SpuSi drehten den Leichnam auf die Seite. Am Hinterkopf konnte man deutlich leichte Schürfverletzungen und Kratzspuren sehen.
»Könnte vom Flussbett stammen … oder auch nicht. Ansonsten scheint er wenig abbekommen zu haben.« Berger erhob sich, rieb sich die Hände und schob die Zeltfolie am Eingang ein wenig zur Seite, um hinauszusehen. »Jürgen, der Edeltracht wartet.« Er deutete auf den Mitarbeiter des Bestatters, der in seinem schwarzen Mantel, dem weißen Hemd, der silbergrauen Krawatte und seinen gegeelten Haaren deutlich aus der Menschenmenge hinter dem Absperrband herausstach. Er würde die Leiche in die Bonner Rechtsmedizin bringen. »Lasst unseren stummen Freund hier nicht zu lange auf dem kalten Boden liegen.« Berger rieb sich erneut die Hände. »Wenn ihr mich jetzt entbehren könnt, mach ich mich mal auf nach Hause. Ich hab noch was vor jetzt!«, äffte er Lothar Muscheid nach und grinste Sorokin an. »Und Niko, ich bekomme den Bericht dann morgen Vormittag, gell!«
Die Kollegen der SpuSi nickten beiläufig, Sorokin sah Berger mit einem gequälten Blick vorwurfsvoll an. Der verließ das Zelt, um den Heimweg anzutreten. Sein Gewissen meldete sich, er hatte vergessen Monika anzurufen, um seine Verspätung anzukündigen.