Читать книгу Westerwälder Tango - Reiner Karl Litz - Страница 6

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Ätzend!

Keine Sau wollte in dieses verdammte Kaff fahren. Oder wenigstens daran vorbei.

Carsten Uhlemann war vor einer geschlagenen Stunde in diesem öden Nest angekommen, hatte zwischenzeitlich sieben, acht Autofahrer am Zebrastreifen vor dem Bahnhof angesprochen und um Mitfahrgelegenheit gebeten, aber keiner schien in diese verkackte Gegend fahren zu müssen. Den verdammten Westerwälder Überlandbus nach Koblenz hatte er knapp verpasst. Wahrscheinlich fuhr täglich nur dieser einzige Bus um viertel nach sechs in der Früh aus dem Kaff raus.

Er war müde und fahrig, sein Hals kratzte beim Schlucken und der Kopf brummte wie ein Wespenschwarm. Außerdem verspürte er ein nagendes Hungergefühl in seinem Magen. Aber nicht mal dieses Leid war zu beheben, denn zu dieser frühen Stunde hatte hier keine einzige verschissene Kneipe auf. Oder wenigstens ein Café, in dem man sich aufwärmen und ein Brötchen kaufen konnte.

Er war seit gestern Abend kurz nach neun mit dem Zug unterwegs. Regionalbahn, Eurobahn, Intercity, S-Bahn und schließlich der Bus von Au nach Altenkirchen. Mein Gott, was für Käffer! Hier stand er nun, vor dem Altenkirchener Bahnhof, und es war bereits kurz vor halb acht. Kalt, neblig und dunkel. Ab und zu trieben ihm kleine, feuchte Schneeflocken ins Gesicht, die sofort schmolzen und eine kalte, nasse Gesichtshaut hinterließen.

Wahrscheinlich würde er das Schwein gar nicht mehr zu Hause antreffen, selbst, wenn ihn nun doch noch jemand mitnähme, weil der Widerling mit Sicherheit bereits auf der Arbeit war, wenn er dort ankäme. Trotzdem stellte er sich den verblüfften Gesichtsausdruck vor, wenn er ihm gegenüberstünde. Er würde ihm keine Gelegenheit für Fragen lassen, sondern sofort handeln.

Dieses Gesicht.

Seine Träume waren geprägt von diesem Gesicht. Waren geprägt von dem Leid, das von ihm ausgegangen war. Diese widerliche Fratze, die ihn niemals losgelassen hatte, die ihn immer noch verfolgte und die ihm sein Leben zur Hölle gemacht hatte. Ja, diese wenigen Jahre damals hatten sein Leben geprägt. Übel geprägt! So, wie das vieler anderer auch. Dieses Schwein hatte ihr Leben in eine einzige Qual verwandelt. Hatte ihre Seelen in ein Gefängnis gesteckt, aus dem sie nicht ausbrechen konnten. Aber das sollte nun bald vorbei sein. Die Demütigungen und Qualen, die Gewalt, die sie zu Sklaven, zu unfreien Menschen gemacht hatten, diese grausame Kerkerhaft würde bald ein Ende haben.

Er spürte, wie sich sein Magen verkrampfte, sich sein Schlund verengte. Loslassen! Jetzt und hier musste er sich von diesem lähmenden Gefühl lösen und seine ganzen Kräfte mobilisieren. Jetzt musste er noch einmal alles riskieren, um einen Schlussstrich ziehen zu können, die Dämonen der Vergangenheit besiegen und aus seinem Bewusstsein verbannen. Um endlich leben zu können!

Er sah einen braunen Ford Focus auf den Zebrastreifen zurollen, sprang vor, sah den Fahrer an und hob die Hand. In gebückter Haltung und mit ausgestreckten Armen, so als könne er den Wagen festhalten, gäbe dieser trotzdem einfach Gas, lief er zum Fahrerfenster, das langsam heruntergelassen wurde.

»Fahren sie Richtung Neuwied … Dierdorf? Ich muss nach Dierdorf«, fragte er mit aller Freundlichkeit, die er aufzubringen bereit war und rieb sich dabei die Hände, um zu signalisieren, dass er fror.

Der Fahrer sah ihn skeptisch an, entgegnete dann aber zum Erstaunen Uhlemanns: «Ich arbeite in Dierdorf. Steigen sie ein!«

Die knapp halbstündige Fahrt in dem völlig überheizten und ungesund nach einem aufdringlichen Vanilleduftbäumchen stinkenden Wagen verbrachten die Insassen mit äußerst knapper Konversation, was vor allem an Uhlemanns Verschlossenheit lag. Der Fahrer sagte ihm, dass er in der Dierdorfer Stadtverwaltung arbeite. Uhlemann log, er besuche seine Tante, die in Dierdorf wohne. Auf Höhe der Dierdorfer Tankstelle am Schlossweiher stieg er aus, bedankte sich und bog nach wenigen Metern nach links ab, um durch die nächste Straße den alten Ortskern zu betreten.

In einer Bäckerei am Marktplatz kaufte sich Uhlemann eine Rosinenschnecke, die er gierig mit sechs Bissen verschlang. Die Verkäuferin hatte ihm zuvor freundlich den Weg zu der Straße im Ortsteil Giershofen beschrieben. Das Haus Nummer sieben würde er schon selbst finden. Nur wäre wahrscheinlich niemand mehr zu Hause und er müsste bis zum Abend warten. Na, egal. Das machte nun auch nichts mehr aus. Er würde dem Saukerl ohnehin als allererstes die Faust ins Gesicht rammen. Seine rechte Hand glitt in die Außentasche seines Parkers und ergriff den Schlagring, den er bei sich trug, seit der Libanese ihm nachts das Nasenbein gebrochen hatte. Ohne Vorwarnung. Und ohne Grund. Ohne Vorwarnung würde er heute auch zuschlagen, allerdings nicht ohne Grund!

Während er sich seinen Weg durch die beinahe menschenleeren Straßen der Kleinstadt suchte, begann es zu dämmern. Er hatte nur sein Ziel vor Augen. Die ihm bekannte Straße mit dem Haus Nummer sieben.

Es war kurz nach acht.

-

»Ich kann es ihnen noch nicht sagen, Herr Kleinschmidt. Nein … Ja, ich fahre am späten Nachmittag zur Rechtsmedizin der Uni nach Bonn. Danach wissen wir mehr.« Berger trommelte mit den Fingern auf der Schreibunterlage. Diese Telefonate mit der vorgesetzten Dienstbehörde nervten ihn.

Kriminaldirektor Herbert Kleinschmidt, Leiter der Zentralen Kriminalinspektion Koblenz, wäre mit seinen Leuten von der K11 zuständig, sollte sich die Wasserleiche tatsächlich als Mordopfer entpuppen. Aber das war noch nicht ausgemacht. Es bestand noch immer die Möglichkeit, dass es sich um einen Unfall oder einen Selbstmord handelte. Natürlich nicht für Berger, der sich diesbezüglich bereits festgelegt hatte. Die entdeckten Einstichstellen am Opfer, als Hinweise auf Drogenmissbrauch, ließen allerdings nun auch die Kollegen in Koblenz über ein Verbrechen nachdenken.

»Sobald wir Klarheit haben, rufe ich sie wieder an. Ja … noch vor heute Abend. Ich … ich melde mich sofort danach. Bis dann, tschüss!«

Berger legte auf und seufzte. »Kann es kaum erwarten, der Kleinschmidt. Ich schenk ihm den Toten, da braucht er sich gar nicht für anzustrengen. Ich hab genug zu tun, die Arbeit brauch ich nicht. Setz dich, Niko.« Er wippte mit der Lehne seines Bürostuhls zurück, verharrte in der bequemen Stellung und wies Sorokin, der sein Büro betreten hatte, den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch zu. »Was macht der Bericht?«

»Na, du bist gut! Ich bin gestern Abend gegen zehn heimgekommen und seit heut` morgen halb acht im Büro. Ich bin ja dran, Ronny. Heute Mittag hast du ihn.«

»Lass gut sein, war nur ein Scherz. Hier …« Berger griff nach der aktuellen Ausgabe der Rheinland-Post vom 12.02.2009 und warf sie Sorokin in den Schoß. »Hat der Timmermans doch tatsächlich das Foto veröffentlicht!«

Sorokin faltete die Lokalseiten auf. »Man kann aber nichts erkennen mit dem schwarzen Balken vor dem Kopf.«

»Na ja, genug finde ich. Aber woher hat der die Info mit den Drogen? Hat er so gute Lauscher, dass er uns zuhören konnte?«

Sorokin las:

»… ist es nicht auszuschließen, dass es sich bei dem Toten um ein Opfer der Neuwieder Drogenszene handelt …

von unserem Redakteur Luis Timmermans …«

Er legte die Zeitung auf den Tisch und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht gibt es einen Informanten?«

»Wahrscheinlich hat er uns durch das Teleobjektiv beobachtet. Vielleicht war die Zeltöffnung ein wenig offen, und dabei hat er bemerkt, wie wir die Einstichstellen gefunden haben. Egal wie, mich nervt`s. Aber, was mir dabei eingefallen ist, Niko: Wenn unser Toter hier in der Nähe ins Wasser gegangen ist oder geschubst wurde, oder was auch immer … Neuwied! Weißt du, was ich meine? Unsere Neuwieder Drogenszene. Die Drogenfreaks kennen sich doch alle untereinander. Wir sollten nicht auf die Antworten der Drogenkollegen warten und uns bei unseren Problemfällen in der Deichstadt selbst schon mal umhören. Was meinst Du?«

»Sollten wir nicht besser zuerst den Bericht der Rechtsmedizin abwarten? Dann wissen wir doch genau, wie lange er im Wasser getrieben und wo er in den Rhein gelangt ist. Das gäbe uns doch einen präziseren Hinweis auf einen möglichen Herkunfts- oder Tatort.«

Berger schüttelte den Kopf. »Wir verlieren Zeit. Außerdem kann eine Wasserleiche, vorausgesetzt sie beginnt bei uns ihre Reise, im Extremfall in drei Tagen bereits in der Nordsee sein. Im anderen Extremfall, wenn sie hängengeblieben ist an irgendwelchen Tauen oder Gestrüpp unter Wasser, kann sie nach Wochen noch bei uns rumhängen. Die Fließgeschwindigkeit in der Mitte des Rheins liegt bei gut sieben, acht Kilometern in der Stunde, am Rand dümpelt sie eher und wirbelt leicht zurück.« Berger klopfte mit einem Bleistift auf der Lehne seines Stuhls. »Nimm dir das Bild von unserem toten Freund und frag nach, ob ihn jemand kennt. Es reicht, wenn du im Grünspan in der Schlossstraße und beim Walli in der Engerser Straße nachfragst.« Berger wusste, dass sich die harten Drogenfreaks am ehesten in diesen beiden Kaschemmen aufhielten. Wenn einer Drogen brauchte und sich in Neuwied nicht auskannte, würde er früher oder später in einer der beiden Kneipen aufschlagen.

»Und der Bericht?« Sorokin schaute seinen Chef vorwurfsvoll an. »Wahrscheinlich soll ich beides und beides sofort machen?«

»Den Bericht machst du dann heut` Nachmittag, mein Gott, Niko. Nun mach doch kein Drama.« Bergers Falte zwischen den Augenbrauen hatte sich vertieft, sein Blick bereits leicht verfinstert. Sorokin wusste, dass nun keine Diskussion mehr angesagt war. »Die paar Fakten hast du doch in einer halben Stunde zusammen. Nun los, Niko, bring mir einen Zeugen!«

-

Nachdem Sorokin sich im Laufschritt auf den Weg in die Stadt gemacht hatte, rief Berger das Rechtsmedizinische Institut der Uniklinik an. Professor Dr. Severin Gutjahr war bei der Arbeit, so seine Sekretärin. »Nun stellen sie mich schon durch!«, fauchte Berger sie an. »Wir haben einen Toten!«

»Ja, Herr Berger, das haben sie alle. Trotzdem hat Herr Professor nur zwei Hände und einen Arbeitstag, der wahrscheinlich einige Stunden mehr umfasst als der Ihre!«, schepperte es mit spitzem Ton aus der Leitung.

Berger war nahe daran, die Xanthippe am anderen Ende der Leitung zusammenzufalten, überlegte es sich aber im letzten Moment anders. Mit einem geräuschvollen Zischen entwich die aggressiv geladene Luft aus seinen aufgeblähten Lungen. Das war ihm in letzter Zeit schon des Öfteren aufgefallen: Sein beinahe legendärer Kampfgeist, so wie ihn alle kannten, schien ihm offensichtlich peu à peu abhanden zu kommen. Sollte er etwa mittlerweile eine Art Altersmilde entwickelt haben? Oder sollte sich sein Verstand doch so langsam gegen sein gefürchtetes und nicht unerhebliches Aggressionspotential durchsetzen? Altersweisheit etwa? Jedenfalls verspürte er hin und wieder so etwas wie Gelassenheit oder Gleichmut, der überdies auch noch beinahe in ein Stadium ehrlicher Zufriedenheit überzugehen schien. Nicht immer, aber immer öfter. Berger atmete tief. Warum nicht, dacht er.

»Nun gut, Frau Xan … Frau Engelhardt, sie haben sicherlich Recht.« Er glaubte seinen eigenen Worten nicht, was nur bedeuten konnte, dass sein Kampfgeist noch nicht ganz verloren war. Und trotz der klugen Eingebung, die zickige Vorzimmerfrau des Professors nicht noch feindlicher zu stimmen, konnte er seine grundsätzliche Abneigung gegen diese Form von Unflexibilität nicht ganz verheimlichen, was sich aber lediglich durch ein leichtes Flattern in der Stimme und eine etwas zu schnelle, flache Atmung erahnen ließ. »Ähh, wäre es möglich, dass er mich kurz zurückruft? Nur um sicher zu gehen, dass ich nicht umsonst komme. Vielleicht ergeben sich ja noch Probleme bei der Leichenschau oder …«

Frau Engelhardt unterbrach Berger. »Augenblick …« Sie hielt die Hand vor die Sprechmuschel und sprach mit Jemandem. Berger konnte nur hören, dass es sich um einen Mann handelte, wahrscheinlich Gutjahr selbst.

»Herr Berger? Der Herr Professor ist jetzt hier und kann mit ihnen sprechen«, säuselte Engelhardt übertrieben höflich, obwohl ihre Stimme eine gewisse Enttäuschung verriet.

»Hallo Herr Kommissar!«, grüßte Gutjahr in seinem sonoren Vibrato.

»Herr Professor Gutjahr. Danke, dass sie mir die Gelegenheit geben … ich weiß, dass sie …«

»Schon gut, Herr Berger, überhaupt kein Problem! Frühstückspause, da kann ich wenigstens den Hörer halten, ohne dass er mit Adipocire verschmiert wird.« Er lachte herzhaft.

Adipocire, Leichenlipid oder Leichenwachs, eine Mischung aus körpereigenen Fettsäuren, Alkalisalzen und Glycerin, die bei Wasserleichen nach einigen Wochen entsteht, wäre bei ihrer Leiche ohnehin nicht zu finden. Sie hatte zweifellos noch vor einigen Tagen gelebt und der Körper hatte das wachsartige Zersetzungsprodukt noch gar nicht bilden können.

»Das würde ihnen doch bestimmt nichts ausmachen, lieber Professor, oder?«

»Richtig, Herr Berger, richtig! Das ist ja quasi unser täglich Brot.« Er lachte nochmals herzhaft ob des unappetitlichen Wortspiels. »Aber Scherz beiseite, ich kann ihnen noch nicht viel sagen.«

»Das war mir klar, aber heute Nachmittag … Ich wäre gegen sechzehn Uhr bei ihnen.«

»Ich werde mir Mühe geben, lieber Herr Berger. Und ich hoffe … na, mit ein bisschen Glück werde ich sie dann auch zufrieden stellen können.«

»Das reicht mir völlig, Herr Professor. Mehr kann und will ich nicht verlangen.« Berger lachte, wie um seine Friedfertigkeit unter Beweis zu stellen und den ironischen Unterton seiner Bemerkung zu überspielen. Er war auf die Zusammenarbeit mit der Uniklinik angewiesen. »Gibt es irgendetwas, was sie schon sagen können?«

»Nun ja, bis jetzt, bis zu dieser meiner Frühstückspause, ist zumindest schon klar, dass unser gemeinsamer Freund nicht ertrunken ist.«

Bergers Gehirn ratterte wie die Ventilstößel seines betagten Dienstdiesels bei Vollgas. Da Gutjahr nicht weitersprach und sich offenkundig an der Verblüffung seines Gesprächspartners ergötzte, setzte Berger nach: »Er war schon tot, als er ins Wasser kam?«

»Ja, zweifellos. Aber nicht lange davor. Wahrscheinlich kam er unmittelbar nach dem Todeseintritt oder zusammen damit ins Wasser. Bevor sie weiterfragen: Nein, die Todesursache kann ich ihnen noch nicht sagen. Da müssen wir uns beide gedulden bis zu unserem Rendezvous am späten Nachmittag.

Und nun widme ich mich meinem Frühstück, Herr Berger. Sonst bekomme ich Ärger mit meiner Chefin hier!« Er lachte kurz auf und die Engelhardt räusperte sich nervös im Hintergrund.

Das kann ich mir denken, wollte Berger spontan sagen, ließ es aber und bemerkte dabei wieder verblüfft, mit welcher affenartigen Geschwindigkeit sich seine Altersmilde weiter entwickelte. Als Alternative wählte er, ohne wirklich darunter zu leiden: »Danke! Einen guten Appetit. Und bis heute Nachmittag!«

-

Berger klingelte zum zweiten Mal. In der Wohnung darüber hatte sich die Gardine bewegt. Im Erdgeschoss Bahnhofstraße einhundertdreiundvierzig, bei Hubert Nied, genannt Flipsi, tat sich nichts. Doch Berger war sicher, dass Flipsi zu Hause war. Erstens war Flipsi Hartz-IV-Empfänger und hatte nichts zu tun, zweitens war er als Junkie nachtaktiv und vormittags um halb elf mit Sicherheit im Bett.

Sorokin hatte Berger angerufen, als der beim Walli erfahren hatte, dass der Tote vor drei Tagen mit Flipsi am Tresen gestanden haben sollte, danach aber nicht mehr gesehen wurde. Berger war sich zwar absolut sicher, dass Flipsi nichts mit dem Tod des Fremden zu tun hatte, der stadtbekannte Junkie konnte aber mit Sicherheit wichtige Hinweise über den Toten geben oder die Gründe, warum der in Neuwied gewesen war.

Hubert Nied, zweiundfünfzig Jahre alt und eine Art Neuwieder Original war aus dem Stadtbild nicht wegzudenken. Vor allem im Sommer hing er täglich auf dem Luisenplatz, am Fahnenhügel, vor dem Drei Schweitzer Keller oder auf der Deichmauer rum. Ein armer Hund, der keinem etwas zuleide tat und seit frühester Jugend am Heroin hing. Erstaunlich, dachte Berger, erstaunlich, dass er überhaupt noch lebt! Die meisten Junkies seiner Generation hatten längst das Zeitliche gesegnet. Flipsi diente den Kollegen der K3 hin und wieder als Informant in Drogensachen und verdiente sich damit ein paar Euro. Im Gegensatz zu vielen anderen Junkies hatte er einen schlichten, unkomplizierten Charakter. Mit anderen Worten: Man konnte ihm und seinen Aussagen relativ vertrauen.

Berger ging durch die Hofeinfahrt und trat in einen verkommenen Hinterhof, der mit verbogenen, rostigen Fahrrädern, ausrangierten Bettgestellen, alten Autoreifen, Mülltüten und allerlei sonstigem Unrat vollgestellt war. Er schob sich an einigen zerbrochenen Pflanzenkästen vorbei, in denen noch die vor Jahren vertrockneten Geranien in ihrer ganzen braunen Armseligkeit steckten und klopfte an eines der Fenster im Erdgeschoss.

Nichts.

»Ja, Himmelherrgott!« Berger schlug heftig mit der Faust auf den Fensterrahmen, der sogleich leicht nachgab. Offensichtlich war das Holz faul. Im ersten Stock, genau über ihm, wurde ein Fenster geöffnet und ein korpulenter, älterer Mann schaute heraus.

»Dä schläft bestemmt noch. Dat hät et fröjer net gegewe!«, posaunte der Nachbar in breitestem Neuwieder Platt und meinte damit, dass die Lebensgewohnheiten des Herrn Nied in früheren, besseren Zeiten, gesellschaftlich kaum als akzeptabel angesehen worden wären. Sprachlich zwischen mittel- und moselfränkisch angelegt, dokumentierte der Dialekt die standhafte Weigerung der Einheimischen, die Hochdeutsche Lautverschiebung aus dem fünften Jahrhundert zu akzeptieren. Berger hatte in der Volksschule selbst nur Platt gesprochen hatte. Wann hatte er sich eigentlich gesellschaftlich so angepasst und die Mundart abgelegt?

Er sah zu dem Mann hoch und nickte. Jetzt rührte sich drinnen etwas. Berger drückte die Nase ans Fenster und versuchte, etwas durch die verdreckte Scheibe zu erkennen. Da! Undeutlich zunächst, sah er Flipsi, der in Boxershorts und T-Shirt aus seinem Schlafzimmer geschwankt kam und sich die Augen rieb. Zwei Meter vor dem Fenster blieb Flipsi stehen und glotzte Berger erschrocken an.

»Aufwachen! Nun mach schon, wir müssen reden!« Berger bekräftigte seine halblauten Worte mit einer auffordernden Handgeste. Der Mann von oben kommentierte Bergers Apell mit einer weiteren Einlassung: »Sehn se, hann isch joh gesoht!« Er lachte schallend und schüttelte den Kopf.

Berger ignorierte ihn, und als er sah, dass Flipsi sich schlurfend zur Wohnungstür bewegte, ging er zurück zum Hauseingang.

Mit einem leisen Summton gab die Haustür nach. Berger trat in den Hausflur, ging die drei Stufen hoch und rechts um einen Vorsprung. Flipsi stand mit hängendem Kopf im Türrahmen. Die dicken Tränensäcke und rot unterlaufenen Augen verrieten einen andauernden, ungesunden Lebensstil und eine lange, wahrscheinlich durchzechte Nacht. Nied schob sich eine halblange blonde Haarsträhne vom kaum erkennbaren Seitenscheitel über die bereits ausgedünnte Stirnpartie.

»Na, ist spät geworden?« Berger ging zielsicher auf den verschlafenen Nied zu, der unwillkürlich einen Schritt zurücktrat, um den Polizisten einzulassen.

»Nee, nee. Fühl mich nicht besonders … Muss mir wohl was eingefangen haben.«

Ein kleiner schwarzer Hund, eine Art Pudelmischling, sprang an Bergers Bein hoch, wedelt mit seinem dünnen, struppig-haarigen Schwanz und fiepte aufgeregt.

»Na, mein Kleiner.« Berger bückte sich und streichelte das kontaktfreudige Tier vorsichtig.

»Hierhin, Janis!« Flipsi bückte sich und der Hund lief zu ihm, um sich in einen Korb am Ende des Flurs tragen zu lassen.

Janis. Wahrscheinlich wegen Janis Joplin, dachte Berger.

In der unaufgeräumten Wohnung roch es nach altem Käse, vergammeltem Essen und fehlender Belüftung. Die Luft war stickig und überhitzt. Berger sah nach links, ins Wohnzimmer, den Raum, vor dessen Fenster er eben im Hof gestanden hatte. An den Wänden hingen mehrere Poster, eins von Jimmy Hendrix, mit Tesastreifen angeklebt. Hendrix war nie so sehr mein Fall, dachte Berger, viel zu hektisch. Eher Led Zeppelin oder die Who, die Doors auch und die Beatles natürlich. Aber nicht der Hendrix. In der Ecke trocknete eine verdorrte mannshohe Palme vor sich hin. Der Fußboden war übersäht mit Staub und Unrat. Zum Fenster hin stand ein schmutziggraues Sofa, das einmal weiß gewesen sein musste. Darauf lag eine schmuddelige Wolldecke. Den Sofatisch bedeckte aller möglicher Krimskrams: Schokoladenpapier, Kartoffelchips und dazugehörige, aufgerissene Tüten, mehrere Fernbedienungen, zwei Brillen, Kaffeetasse, Teller mit Brotkrümeln … Unter dem Tisch lagen einige leere und halbvolle PET-Flaschen.

»Nein danke, keinen Kaffee! Du kannst dich auch gleich wieder hinlegen, Flipsi, brauchst mir nur ein, zwei Fragen zu beantworten.« Er öffnete den obersten Knopf seines Mantels, griff in die Innentasche und zog das Foto des Toten vom Rhein heraus, um es Nied vor die Nase zu halten. »Schon mal gesehen, so in den letzten Tagen etwa?«

Nied blickte mit gesenktem Kopf auf das verquollene Gesicht auf dem Foto, zog eine angeekelte Grimasse und schniefte. »Was ist das, ist der …?«

»Tot. Ja! Kanntest du ihn?«

Nied trat von einem Bein auf das andere. Er kannte den Mann auf dem Foto vom Wally, soviel war klar. Nun musste er nur noch sagen, wer der Fremde war und was er hier gewollt hatte.

»Na, nun spuck‘s schon aus. «

»Na ja, könnte sein … Aber ich bin mir nicht sicher, eher nein. So sah er jedenfalls nicht aus.« Er hob den Kopf und sah Berger unsicher an. Aus irgendeinem Grund wollte er den Toten nicht kennen.

»Du kannst dir aber doch vorstellen, wie der aussah, als er noch nicht im Rhein war, oder?« Berger wedelte mit dem Foto vor Flipsis Nase.

»Ja, vielleicht war er`s auch.« Er zog die Nase geräuschvoll hoch und rieb mit seinem Zeigefinger darunter. »Vor vier Tagen, abends, so gegen sechs … Ich war beim Wally, da kam er rein. Also der, der das sein könnte. Und der stellte sich an die Theke, neben mich halt. Wir kamen so ins Gespräch und …«

»… und er wollte Stoff und du warst behilflich, stimmt`s?« Berger signalisierte mit mehrmaligem heftigem Kopfnicken, dass er es eilig hatte und steckte das Foto wieder ein.

»Herr Berger, ich …«

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen wegen dem Stoff, mir geht es jetzt ausschließlich um den Knaben hier …«, er klopfte auf seine Brust, wo in der Innentasche das Foto des Toten steckte, »… und darum, dass er nicht an Altersschwäche gestorben ist.«

»Ja, aber, Herr Berger … sie denken doch wohl nicht, dass er wegen Gülle, ich meine wegen dreckigem Äitsch … Da hab ich nix mit zu tun!«

»Ja, mein Gott, womit hast du denn was zu tun? Was wollte er denn von dir? Raus damit!« Ein grimmiger Blick unterstrich Bergers Ungeduld.

»Naja, wir haben etwa `ne halbe Stunde gequatscht. Er hat mir nur gesagt, dass er in der Pension Walter, in der Pfarrstraße wohnt und dass er bald `ne Menge Kohle hätte. Ich hab ihn gefragt, ob er was erbt oder so, aber er hat gemeint, er bekäm`s geschenkt. Dafür hat er aber überhaupt nicht besonders glücklich gewirkt, eher gehetzt.«

»Und dann?«

Nied wand sich.

»Raus mit der Sprache!« Berger war laut geworden.

»Gut, er … Er wollte Äitsch, ja, das ist richtig. Aber, ich hab doch noch nicht mal genug für mich. Da hab ich ihm …« Er schluckte und blickte zu Boden. Berger machte eine auffordernde Geste. »Herr Berger, ich kann doch jetzt hier keine Lampe bauen, ich meine, sie wissen doch …«, Nied blickte ängstlich aus dem Wohnzimmerfenster, über Bergers Schulter hinweg, als fürchte er, beobachtet zu werden.

»Gut, Flipsi, anziehen und mitkommen!« Bergers Stirnfalte hatte sich bedrohlich aufgeschwungen.

»Okay, okay … in Ordnung«, Nied ruderte mit den Armen und bewegte seinen Oberkörper hektisch hin und her. »Aber sagen sie nicht, dass sie`s von mir haben.« Er sah Berger flehentlich an. Der nickte. »Ich hab ihm `ne Nummer von den Russen gegeben.«

»Du meinst von Fomin?«

Nied biss sich auf die Unterlippe. Sein Blick sprang hektisch zwischen Fußboden und Bergers Nasenspitze hin und her. Zögerlich nickte er. Leise und heiser von einer plötzlichen Kehlkopfentzündung befallen hauchte er: »Ja.«

»Sonst nichts? Ein Name? Wie hieß der Mann?«

»Nein … hat er mir nicht gesagt. Er hat dann nur noch mein Bier bezahlt und ist gegangen.« Er griff sich in die Leistengegend und kratzte sich gemächlich. »Nur, wie gesagt, der wirkte nicht wie jemand, der das große Geld geerbt hat oder so.«

Berger blickte seinem Gegenüber eindringlich in die Augen. Nied sagte die Wahrheit, da war sich Berger sicher.

»Gut, Flipsi. Wär eh rausgekommen, das mit dem Heroin und deinem Tipp. Aber danke für den Hinweis. Hast was gut bei mir. Und jetzt darfst du deinen Schönheitsschlaf fortsetzen!« Er nickte Nied zu, der mit hängenden Schultern stehen blieb, während Berger zufrieden die Wohnung verließ.

-

Carsten Uhlemann betrachtete das Haus auf der anderen Straßenseite. Ein Riesentrümmer von einem Haus. Das letzte in der im Feld auslaufenden Straße. Ein Neubaugebiet, das scheinbar nicht mehr genügend Interessenten gefunden hatte, um zu Ende bebaut zu werden. Die Straße endete tatsächlich kurz hinter der Hausnummer sieben, mehr Häuser als die sieben gab es hier nicht. Uhlemans Unsicherheit, ob der Widerling überhaupt zu Hause war, wuchs. Ein Fahrzeug stand nicht vor dem Haus. Vielleicht in der Garage? Egal! Er war nun hier und er würde seine Aufgabe erledigen, auch, wenn seine Beine vor Zittern fast ihren Dienst versagten. Er überquerte die Straße und huschte mehr als er ging, vorbei am konservativ gepflegten Vorgarten des leicht monströsen Anwesens. Sauber gestutzte Sträucher, einige mehr oder weniger geschmackvoll arrangierte Findlinge und mittendurch ein mit stylischem Altstadtpflaster angelegter geschwungener Weg zur massiven, aus fichtenfarbigem Holz gefertigten Haustür.

Sein Herz überschlug sich fast. Er schluckte, obwohl sein Mund völlig ausgetrocknet war. Wie in Zeitlupe hob sich sein Zeigefinger zum runden Klingelknopf aus Messing. Innen ertönte ein dreiklangiger Gong. Das passt, dachte er! Die rasende Unsicherheit bescherte ihm einen gehörigen Schwindel, so dass er sich an der Hauswand abstützen musste. Sollte er es lassen? Noch könnte er so tun, als sei alles ein Irrtum. Als habe er jemanden gesucht, der hier nicht wohnte! Der Impuls seines rechten Beines, den Fuß zu drehen und nach hinten wegzutreten, war machtvoll. Er atmete tief ein, war in Gedanken bereits auf dem Rückzug, als sich die Haustür schwungvoll öffnete.

»Guten Tag! Kann ich ihnen helfen?«

Ein breitschultriger, großgewachsener und tadellos gekleideter Mann mit schwarzen Stoppelhaaren stand vor ihm und lächelte ihn an. Er wirkte freundlich. Uhlemann roch ein exklusives Rasierwasser, oder was er zumindest dafür hielt. Ein Bodybuilder, dachte Uhlemann unwillkürlich. Aber es war nicht Er. Soviel stand fest. Sein Gegenüber schien Uhlemanns Verunsicherung zu spüren und trat einen Schritt nach vorn. Lächelnd wandte er den Kopf zunächst nach rechts, dann nach links zum Namensschild unter dem Klingelknopf. Er sah Uhlemann an, nickte verständnisvoll und lächelte ein breites Lächeln.

»Na, wahrscheinlich werden sie schon richtig sein!« Meinte der Bodybuildertyp, als könne er Uhlemanns Gedanken lesen.

Ja natürlich, Uhlemann wusste, dass er vor dem richtigen Haus stand! Das war ihm klar. Aber was sollte er nun tun?

Warum letztlich die Worte wie von einem Fremden gesprochen aus seinem Mund kamen, wusste er selbst nicht: »Ich komme wegen … ich …« Er zeigte auf das Namensschild unter der Klingel.

Der Breitschultrige stutze kurz und hob die Augenbrauen. »Ah, ich verstehe!« Unbekümmert fuhr er fort: »Nun, er ist schon früh zur Arbeit gefahren. Sie wollten doch zu ihm, nicht wahr?« Der Bodybuilder wies mit dem Zeigefinger ebenfalls auf das Namensschild und zeigte dabei zwei Reihen strahlend weißer Zähne, die in ihrer Makellosigkeit fast künstlich wirkten.

Uhlemann wurde die Situation unheimlich. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Was konnte er machen, damit das hier nicht aus dem Ruder lief? Zunächst einmal wäre es jedenfalls klug, seine Aggressionen nicht zu zeigen. »Äh, ja … ich möchte sie nicht stören. Ich komme ja auch unangemeldet. Ich werde später nochmal vorbeischauen.« Uhlemann presste die Lippen zusammen, wippte unsicher von der Ferse auf die Zehen und wollte sich umdrehen.

»Ach Unsinn, wo sie schon mal da sind. Kommen sie wenigstens auf einen Kaffee rein, es ist unangenehm kalt draußen.« Der Muskelmann sah Uhlemann einladend an und rieb sich demonstrativ fröstelnd die kraftstrotzenden, nur notdürftig von den knappen Kurzärmeln eines exklusiven Poloshirts bedeckten Oberarme. Dann trat er zur Seite, senkte den Kopf fast unterwürfig und wies Uhlemann mit ausgestrecktem Arm den Weg in die Diele. »Bitte sehr!«

Das Haus war geschmackvoll eingerichtet. Für einen Spießer. Marmorböden, riesige Leuchter von den Decken und hohe Fluter auf den Böden, handgeknüpfte Teppiche, Bilder im Goldrand, makellos gepflegte Palmengewächse in großen Kübeln … Und es roch sauber. Der Bodybuilder führte Uhlemann in das riesige Wohnzimmer und nahm ihm den Parka ab, bevor er ihn bat, auf dem Sofa Platz zu nehmen. In einer Ecke des Raumes, nahe der Fensterfront, stand ein glänzender schwarzer Flügel. Aus dem Panoramafenster hinter dem Sofa hatte man einen beeindruckenden Blick auf die sanft abfallende, bewaldete Hügellandschaft des vorderen Westerwalds. Uhlemann setzte sich.

Der Bodybuilder hatte sich als Hanspeter Schmieder vorgestellt. Er trug Uhlemanns Parka zur Garderobe im Flur und verschwand dann in der Küche. Uhlemann hörte Geschirr klappern. Kurz darauf erschien Schmieder mit zwei gefüllten Tassen Kaffee, Milch, Zucker, Honig und Plätzchen - alles auf einem barocken Servierbrett.

»So, bitte sehr! Wärmen sie sich erst mal auf. Dann können sie immer noch entscheiden, ob sie noch mal wiederkommen oder warten wollen, gegen Mittag wird er nämlich noch mal reinkommen.«

Für einen Mann seiner Statur hatte Schmieder eine erstaunlich dünne, fistelige Stimme, die in einem unangenehmen Kontrast zu seinem sympathischen Lächeln stand. Uhlemann griff nach der Tasse und trank den Kaffee schwarz. Ein starker Kaffee. Fast zu stark. Uhlemann nahm trotzdem einige große Schlucke. Der Kaffee wärmte und außerdem musste er so nicht viel reden. Schmieder trank kleine Schlucke im Stehen, die Tasse mit abgespreiztem kleinem Finger in der Hand. Als er die Tasse auf dem Tisch abgestellt hatte, wies er zum Panoramafenster.

»Kommen sie … Sehen sie sich unsere schöne Heimat an. Da fliegen die meisten Deutschen so weit weg, obwohl es hier so wundervoll ist!« Er ging um den Tisch herum zum Fenster und blieb mit verträumtem Blick davor stehen. Er verschränkte dabei die Arme vor der Brust.

Uhlemann erhob sich, obwohl ihm das vertrauensvolle Getue des Mannes nicht behagte, drehte sich um und sah ebenfalls nach draußen. Er nickte und gab einen unartikulierten Laut von sich, der mit etwas Wohlwollen als Zustimmung zu deuten wäre.

»Ja, wirklich wundervoll, nicht wahr? Da … Dort hinten fließt der Holzbach. Sehen sie?« Er wies mit der Hand auf irgendeine Stelle in der vor ihnen liegenden Landschaft. Uhlemann erkannte keinen Bach. »Aber bitte, trinken sie ihren Kaffee, damit ihnen wieder warm wird. Ich bringe ihnen gerne noch einen.«

Uhlemann trank die Tasse leer. Schmieder nahm sie ihm sofort aus der Hand und verschwand damit in der Küche. »Sie bekommen sofort Nachschub«, tönte er von dort im Falsett.

Als er zurückkehrte, stellte er die Tasse vor Uhlemann auf den Sofatisch, nahm seine eigene in die Hand und setzte sich in den Sessel auf der anderen Seite. Uhlemann setzte sich ebenfalls wieder hin.

»Woher kennen sie sich?« Schmieder schlürfte ein Schlückchen aus der Kaffeetasse und sah Uhlemann auffordernd an. Der trank vorsichtig vom frischen, heißen Kaffee und verbrannte sich trotzdem die Zungenspitze. Den beißenden Schmerz ignorierend bemerkte er die enorme Körperbehaarung des Mannes. Nicht nur auf den Handrücken wuchsen dicke, schwarze Haare, auch auf den Armen zeigte sich der fellartige Bewuchs, der lustig auf den wulstigen Muskelbündeln wippten. Wahrscheinlich war er am ganzen Körper behaart wie ein Affe.

»Wir kennen uns von früher … ist schon lange her.« Uhlemann war betont einsilbig und hoffte, dass der Affe das Signal verstand. Er hatte natürlich keine Lust, mit ihm über den Grund seines Erscheinens zu sprechen. Was er zu sagen hatte, ging nur das Arschloch etwas an, nicht den Muskelmann. Schmieder schlürfte unentwegt an seinem Kaffee. Fast wirkte er ein wenig nervös. So kam es Uhlemann zumindest vor.

»Darf ich ihnen etwas zu essen anbieten. Sie haben vielleicht heute noch nicht gefrühstückt?«, fragte Schmieder, der jedenfalls in punkto Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft nicht zu überbieten war.

»Nein, ich …« Uhlemann wurde urplötzlich heiß. Der Kaffee. So stark war er ihn nicht gewöhnt. »Danke, ich möchte nichts.« Uhlemann wurde wieder schwindelig, wie eben, nach der langen Zugfahrt nach Altenkirchen. Dieses Mal aber heftiger. Verdammt, er sollte vielleicht um ein Glas Wasser bitten. Doch als er die Frage formulieren wollte, kamen die Worte nicht über seine Lippen. Dafür senkte sich ein, trotz seiner Bedrohlichkeit samtweicher und an die Endlichkeit aller Dinge gemahnender, schwarzer Vorhang über ihn.

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Berger telefonierte aus dem Wagen. »Niko, der Tote hat in der Pension Walter, in der Pfarrstraße, gewohnt. Schau dich … Ja, natürlich als er noch lebte. Sehr witzig, und danke für den Hinweis. Also, setz dich in Bewegung! Schau dich da mal um. Frag die Pensionsleute aus, ich glaub das sind jetzt Syrer, oder so was. Und die SpuSi soll zeigen, was sie drauf hat … Und sichere die Sachen von dem Burschen. Ich fahr jetzt mal auf einen Besuch zu Andrej Fomin. Ja … danke, ich passe auf mich auf … Nein, den Fassbender nehm` ich ganz bestimmt nicht mit. Ich bin schon volljährig und passe alleine auf mich auf! Over and out.«

OSOBENNOST Im- und Export, ein Großhandel für russische Lebensmittel, Balalaikas, Tonträger mit russischer Volksmusik und weiß-der-Henker-was. Auf jeden Fall ging eine Menge Zeug von Russland nach hier und anderes Zeug von hier wieder nach Russland zurück. Jeder wusste, dass der Eigentümer Andrej Fomin sein Geld nicht mit Weißkohl in Salzlake machte, sondern seine Hände im Drogen-, Prostituierten- und Waffengeschäft hatte. Nachweisen konnten sie ihm das freilich nicht. Allerdings steigerte das Fomins Sympathiewerte bei den Kollegen der Polizeiinspektion Neuwied nicht gerade. Eine vor zwei Jahren durchgeführte Razzia in seinen Räumen hatte keinerlei Ergebnisse gebracht. Sogar die Putzfrau war ordnungsgemäß angemeldet gewesen. Fomin hatte ziemlich Wallung gemacht und eine offizielle Beschwerde beim Koblenzer Polizeipräsidenten eingereicht. Fremdenfeindlichkeit soll Fomin der Polizei vorgeworfen haben. Das Wort soll in einem offiziellen Schriftstück gestanden haben, was natürlich unverzüglich zu Hysterie und Unsachlichkeit in der Behörde geführt und letztlich gar die Politik auf den Plan gerufen hatte. Wenn überhaupt, war jedes weitere Vorgehen gegen den Unternehmer deshalb mit Bedacht und äußerst gründlich zu planen. Fomin war ein ausgebuffter Hund, der seine Kontakte und Netzwerke geschickt zwischen Neuwied und St. Petersburg gesponnen hatte. Und Berger wusste: Immer da, wo die Politik sich einmischte, war auch immer irgendetwas im Argen.

Das Unternehmen Fomins, befand sich in zwei Lagerhallen im Neuwieder Industriegebiet, vier Grundstücke von den Redaktionsräumen der Rheinland-Post entfernt. Hoffentlich läuft mir der Timmermans nicht vor die Füße, der hätte mir gerade noch gefehlt, dachte Berger. Er hielt den Wagen an der Straße vor der größeren Halle und blickte in den rechten Außenspiegel, um auf das Gelände der Rheinland-Post sehen zu können. Alles war ruhig und niemand vor dem Gebäude zu sehen. Er stieg aus, durchschritt das offene Schiebetor an der Straße und ging weiter zum Eingang der größeren Halle. Ein schwarzer Mercedes C 220 CDI T und ein weißer Fiat Transporter standen vor der Rampe. Berger nahm die sechs Stufen in drei kräftigen Sprüngen. Prompt meldete sich sein Kreuzbein. Das Rolltor war unten, aber daneben waren ein Fenster und eine Stahltür. Er betätigte den Türgriff. Abgeschlossen! Er schaute durch das Fenster. Im hinteren Teil der Halle führte eine Stahltreppe nach oben zu den Büroräumen, die die Hälfte des Magazins überspannten. Dort war auch spärliches Licht zu erkennen. Er blickte nochmals auf die Tür. Links daneben befand sich die Klingel. Er legte die Hand darauf und klingelte Sturm. Nach einer halben Minute hörte er drinnen Geräusche. Jemand war die Stahltreppe runtergerannt und kam nun durch die Halle gelaufen. Berger ließ den Klingelknopf los und trat zwei Schritte zurück. Die Tür flog auf. Ein großer, schlanker, kahlgeschorener Typ mit eingefallenen Wangen, dunklen Augenrändern und schwarzer Bomberjacke starrte ihn mit stechendem Blick vorwurfsvoll an. »Was giebs. Is dir nich gut, Mann?«, fauchte er mit stark russischem Akzent.

»Freundlicher Empfang! Aber, wo sie schon mal danach fragen: Mir geht`s vergleichsweise gut.« Berger schaute den Mann mit einem aufgesetzt breiten Grinsen an, zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn dem Subjekt vor die Nase. »Ist der Chef im Haus? Ich muss mit ihm reden!«

»Is nich da!«, blaffte der Türsteher ihn wie aus der Pistole geschossen an. Der Dienstausweis schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken.

»Das ist schade. Dann muss ich ihn für morgen früh in die Polizeiinspektion bitten.« Er zog mit ironisch mitleidsvollem Blick eine Visitenkarte aus der Manteltasche und gab sie dem Mann. »Halb zehn, pünktlich!«

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Bevor er nach Bonn fahren musste, war noch kurz Zeit, um Monika zu treffen. Sie hatte eine Halbtagsstelle als Psychologin in einer neurologischen Rehaklinik im Wiedtal und wäre mittlerweile sicherlich zu Hause. Für einen Kaffee und um eine Kleinigkeit zu essen sollte es reichen. Aber vor allem wollte er seinen guten Willen demonstrieren und sich sehen lassen. Als er gegen acht Uhr gestern Abend nach Hause gekommen war, hatte sie, ein Glas Bordeaux neben sich auf dem Tisch und ein Buch in Händen, unter ihrer dunkelblauen norwegischen Wolldecke auf dem Sofa gelegen. »Essen ist im Kühlschrank!«, hatte sie nur gerufen, als er in der Wohnzimmertür stand. Ohne von ihrem Buch aufzublicken. »Entschuldigung!«, hatte er gesagt und sich weitere Erklärungen gespart.

Die vielen Jahre ihrer Ehe hatte sie sich nicht an den Nachteilen seines Jobs gestoßen. Sie hatte sogar regelrechtes Interesse an seiner Arbeit, den Ermittlungen und überraschenden Wendungen in der Fallarbeit gezeigt. Aber seit einem Jahr schien sie irgendwie alles zu stören. Nicht, dass sie mit ihm darüber diskutierte oder sich lautstark beschwerte. Nein. Er spürte es einfach. Es war nicht wie früher, als sie sich freute, wenn er nach Hause kam. Egal wie spät es wurde. Seine unregelmäßigen Dienstzeiten und die nächtlichen Dienstanrufe machten ihr nun augenscheinlich mehr aus. Mehr, als sie zu akzeptieren bereit war. Die Kollegen seines Alters sprachen zwar über ähnliche Konflikte in ihren Ehen, schwadronierten dann aber stets gescheit von den »Wechseljahren« und behaupteten »das geht vorüber«. Berger gab sich mit solchen Erklärungen nicht zufrieden. Irgendetwas anderes musste bei Monika dahinter stecken. Er hatte sogar schon an einen anderen Mann gedacht. Das wäre ihm früher niemals in den Sinn gekommen, und er konnte es sich auch jetzt nicht wirklich vorstellen. Sie kannten sich seit vierzig Jahren, hatten so manche Krise durchgestanden, hatten eine Tochter, Lana, großgezogen, die gut geraten war und heute als Ärztin in Frankfurt arbeite. Aber die früheren Krisen waren in der Regel lautstark und mit Leidenschaft ausgefochten worden. Es fehlte bei ihr jetzt einfach dieser Funke, der sie früher wenigstens mal hatte laut werden lassen. Hatte sie vielleicht das Interesse an ihrer Beziehung verloren? Wollte sie ihre Ehe womöglich beenden? Und falls diese Katastrophe tatsächlich eintreten sollte: Was konnte er dagegen tun?

Er bog um die letzte Kurve, rechts in die Stichstraße. Das zweite Haus auf der linken Seite. Sie hatten es vor einundzwanzig Jahren gekauft, es gehegt und gepflegt. Er hatte den kompletten Garten selbst angelegt. Die Bäume, die er damals gepflanzt hatte, müssten heute wegen ihrer Höhe eigentlich gefällt werden. Er parkte den Wagen vor der Garage, erstieg die Natursteintreppe zur Haustür und schloss auf. Ihre Jacke hing an der Garderobe. Sie war zu Hause. Er roch ihr auffälliges Parfum, das sie seit gut einem halben Jahr benutzte. Er mochte es, hatte es ihr aber noch nie gesagt. Seit einem halben Jahr! Sollte sie doch einen anderen haben?

»Hallo Moni!« Berger ging auf seine Frau zu, die sich auf der Küchenanrichte einen Tee zubereitete, drückte sie von hinten an den Schultern und küsste ihr blondes, schulterlanges Haar. Es kam ihm selbst komisch vor. Warum tat er das jetzt? War es seine Unsicherheit, ihre Loyalität betreffend?

Monika Berger drehte den Kopf und sah ihn mit großen Augen an. Auch ihr war der seltene Anflug von Zärtlichkeit nicht entgangen. »Hallo Ron!« Sie sagte stets Ron, nicht Ronny, wie seine Kollegen.

»Ich hab einige Minuten Zeit, muss gleich zur Pathologie nach Bonn!«

»Möchtest du einen Kaffee?« Sie bewegte das Tee-Ei in ihrer dampfenden Tasse leicht auf und ab.

»Och … was trinkst du denn da?« Er schaute auf ihre Tasse und zwang sich, möglichst interessiert zu wirken.

»Grünen Tee!« Sie lächelte ihn an, leicht abwesend, wie es Berger erschien. Oder, weil sie davon ausging, er tränke derart Gesundes nicht.

»Na, dann probier` ich den auch mal.« Berger gab sich ganz mutig und griff nach einer großen Steinguttasse aus dem Hochschrank über der Anrichte.

»Ist noch heißes Wasser drin«, sagte Monika Berger und wies auf den Wasserkocher auf dem Herd. »Nimm das Tee-Ei, meiner ist fertig!« Sie schüttete den Inhalt in den Küchenabfallbehälter, spülte das Sieb aus und gab es ihm. Er füllte es mit den grünen Blättchen, legte es in seine Tasse und goss das noch heiße Wasser darauf.

Sie setzten sich an den kleinen Küchentisch, den sie sich anstelle des großen angeschafft hatten, als Lana, ihre Tochter, vor acht Jahren ausgezogen war.

»Wir haben eine Wasserleiche«, versuchte Berger sie für den Fall zu interessieren. »Ich wollte es dir gestern Abend noch sagen, aber du warst so schnell im Bett.«

»Ja, ich war todmüde.« Sie nippte an ihrem Tee und blickte aus dem Küchenfenster.

Warum bloß sah sie ihn nicht an?

»Die Wasserleiche … das bedeutet, dass wir in nächster Zeit möglicherweise noch unregelmäßiger arbeiten müssen als sonst.« Er zog das Teeei aus der Tasse und legte das tropfende Teil auf eine Untertasse. »Ich hoffe, es wird nicht zu lange dauern, bis wir den Fall aufgeklärt haben.«

»Da habt ihr ja nur bedingt Einfluss drauf, oder?« Sie hatte die heiße Tasse zwischen ihre Hände genommen, hielt sie vor ihren Mund und blickte ihn mit einem unterkühlten Lächeln an.

Berger unterließ es, weiter auf die Ermittlungsarbeit einzugehen. Monika hatte die Unwägbarkeiten der Polizeiarbeit in den vielen Jahren gut genug kennengelernt, um über all die Probleme und Orientierungswechsel Bescheid zu wissen, die in einem solchen Fall auftreten konnten.

Er wusste selbst nicht so recht, was ihn trieb, aber es hatte wohl irgendetwas mit Mühe geben zu tun: »Ich bin gegen vier Uhr bei Gutjahr in Bonn. Länger als eine Stunde brauch ich bei dem nicht. Das heißt: Ich bin spätestens gegen viertel vor sechs zu Hause.« Heute würde er sich daran halten!

Sie nickte unmerklich und blies in ihren Tee.

»Willst du was kochen?« Er wartete einen Augenblick. Als Monika nicht spontan antwortete, setze er hinzu: »Oder soll ich uns was mitbringen?«

»Ja, das wäre doch nett!«, antwortete Monika überraschend aber auch überzeugend schnell.

»Auf was hättest du denn Lust?«

»Ich … ja, vielleicht auf etwas Chinesisches!«

»In Ordnung, bring ich mit! Dann kann`s aber auch sechs werden, oder viertel nach!«

Westerwälder Tango

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