Читать книгу Westerwälder Tango - Reiner Karl Litz - Страница 7
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Das rechtsmedizinische Institut des Universitätsklinikums Bonn lag in der nördlichen Innenstadt, südlich von Wilhelmsplatz und Beethovenhalle am Stiftsplatz.
Sorokin hatte Berger telefonisch darüber informiert, dass er im Zimmer des Verstorbenen, in der Pension Walter, so gut wie nichts Verwertbares gefunden hatte. Den Perso hatten sich die Pensionsleute natürlich nicht vorlegen lassen. Somit gab es keinerlei Hinweise auf die Herkunft des Mannes. Eine Sporttasche enthielt einige wenige Kleidungsstücke und das Farbfoto einer Kindergruppe, auf dessen Rückseite mit Kugelschreiber das Wort Scherubim geschrieben stand. Im Bad fanden sich lediglich eine Zahnbürste und Zahnpasta. Auf dem Nachttisch neben dem Bett lagen mehrere leere Verpackungen von Schokoriegeln und zwei ebenfalls leere Schachteln ASS-ratiopharm 500. Sie hatten Proben vom Boden genommen, möglicherweise ließen sich darin Spuren von Rauschgift nachweisen. Ansonsten nichts. Wahrscheinlich hatte er ein Mobiltelefon bei sich getragen, aber in der Kleidung des Toten hatten sie keins gefunden. Berger kam das alles mittlerweile gar nicht mehr so merkwürdig vor, denn über eines war er sich inzwischen im Klaren: Es konnte sich hierbei unmöglich um Selbstmord handeln.
Berger parkte den Wagen auf dem Parkplatz des Instituts. Er war fünf Minuten zu früh, was ihn nicht daran hinderte, sich mit ausladend kraftvollen Schritten seinem Ziel zu nähern. Er umkurvte die Ecke des Gebäudes, nahm die Eingangstreppe in zwei Sprüngen und folgte im Haus der Kellertreppe zügig nach unten. Bereits beim Eintritt in das Gebäude konnte man den Geruch von Formaldehyd, Alkohol und Tod wahrnehmen, der sich noch verstärkte, je weiter man nach unten kam. Es war ihm stets unerklärlich gewesen, wie Menschen in diesem Gruselkabinett ihr Arbeitsleben verbringen konnten. An der Glastür mit dem seitlich angebrachten Namensschild
Vorzimmer Prof. Dr. Severin Gutjahr
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ging er stur vorbei.
Vor dem nächsten:
Prof. Dr. Severin Gutjahr
- stellvertretender Direktor -
blieb er stehen und klopfte zweimal. Da niemand antwortete, ging er weiter und fand den Mediziner schließlich in einem durch kreisrunde, bewegliche Deckenlampen hell erleuchteten Sektionssaal vor einem der drei Sektionstische aus Edelstahl. Der elektrische Türöffner brummte noch, als sich die Tür hinter Berger wieder schloss.
»Hallo Professor!« Berger hob die rechte Hand zum Gruß.
Der Pathologe richtete sich auf. Gutjahr war groß, gut über einsneunzig, schlank, neunundfünfzig Jahre alt und somit zwei Jahre älter als Berger. Sein weißes, leicht gewelltes Haar leuchtete unter der hellen Deckenlampe wie Schnee in der Sonne. Es stand wirr ab.
»Mein lieber Herr Berger. Sie können es mal wieder nicht abwarten, was?« Seine sonore Stimme brachte irgendeins der metallenen Seziergeräte zum Sirren. Gutjahr legte ein Edelstahlwerkzeug klappernd auf dem Tisch neben dem Leichnam ab und hob die beiden in Einmalhandschuhe gehüllten Hände, um Berger anzudeuten, dass er ihm zur Begrüßung keine Hand geben könne. »Kommen sie!« Er blickte auf den Gegenstand seiner Untersuchung und deutete mit einer einladenden Handbewegung zum Arbeitstisch und auf den Kopf des Toten.
Berger trat näher an den Tisch heran. Knappe dreißig Zentimeter trennten ihn vom Leichnam. Gutjahr hatte den Toten mit dem typischen Y-Schnitt geöffnet und das Innere von den Schlüsselbeinen über den Bauchraum bis zum Schambein freigelegt. »Gut erhalten, weil noch nicht allzu lange tot. Das macht es üblicherweise leichter.« Gutjahr griff sich den Unterarm des Toten mit beiden Händen und hob diesen fast liebevoll an, so, als wolle er das Gewicht des Körperteils abwägen.
»Nun, Herr Berger, unser junger Freund hier ist nicht ertrunken, das habe ich ihnen ja bereits gesagt. Er ist, meiner Einschätzung nach, zwischen neunzehn und zweiundzwanzig Jahre alt, körperlich leicht überaltert, wahrscheinlich bedingt durch langjährigen Drogenmissbrauch. Im Wesentlichen Heroin. Übrigens … doch nein, dazu komme ich später.« Er ließ den Arm des Toten wieder auf den Seziertisch gleiten.
»Der Tod ist mit Wahrscheinlichkeit vor drei Tagen eingetreten, genauer gesagt, vor fünfundsechzig bis siebzig Stunden.
Wie sie bereits selbst gesehen haben, hat der Korpus einige Schäden. Hier …«, er wies auf die Stelle oberhalb des linken Ohrs, »… und hier«, er hob das rechte Bein mit beiden Händen und rieb über eine aufgerissene Stelle an der Ferse. »Die Verletzungen stammen vom Abtreiben des Körpers im Fluss. Er weist nur minimale Fraßspuren auf, die im Wasser in dem relativ kurzen Zeitraum auch eher selten sind.« Er deutete auf einige kleinere Verletzungen an der Hüfte und um die linke Achselhöhle. »Wahrscheinlich von Schnecken oder Blutegeln, vielleicht auch kleineren Fischen. Keine Livores Mortis, was darauf hindeutet, dass der Körper unmittelbar mit oder nach dem Todeseintritt im Wasser gelegen haben muss. Fäulnis und Verwesung noch nicht im auffälligen Stadium, deshalb war die Leiche auch noch nicht aufgetrieben. Der Rhein hatte eine Wassertemperatur von ein bis zwei Grad. Somit gehen wir davon aus, dass der Leichnam zirka vierzig bis fünfundvierzig Stunden im Wasser war. Der Tote wird unmittelbar nach Eintritt des Todes und bis zur Bergung im Rhein verbracht haben.
Eins noch: Ich war mir unsicher, ob ich sie damit nicht auf eine falsche Fährte setzen würde, daher …«. Er machte eine abwägende Handbewegung. »Nicht, dass es etwas bedeuten müsste, dafür ist es zu vage, aber er weist einige wenige alte, sehr alte Vernarbungen von Analfissuren auf.«
»Ein Hinweis auf Analverkehr, meinen Sie?«
»Könnte … muss aber nicht. Und wie gesagt, sie sind alt und können verschiedenste Ursachen haben. Ja, unter anderem könnte es auch Analverkehr gewesen sein. Was allerdings dagegen spricht, ist, dass es keine Verletzungen neueren Datums sind. Also, wie gesagt, dies nur der Vollständigkeit halber.« Er breitete die Arme aus und betrachte den Toten wie ein von ihm selbst erschaffenes Kunstwerk.
»Nun, soweit hätten sie sicherlich bereits alles geahnt, wenn nicht sogar gewusst, nicht wahr Herr Berger?«, er lachte sein herzhaft kerniges Lachen.
»Nicht alles«, brummte Berger.
»Nun, wie ich bereits erwähnte, starb er unmittelbar, bevor oder nachdem er ins Wasser kam. In der Lunge befand sich kein Wasser. Mir fiel bei der oberflächlichen Begutachtung bereits eine Sache am Hinterkopf auf.« Er drehte den Kopf des Toten auf die Seite. »Hier! Stumpfe Gewalteinwirkung. Ich vermute ein Schlag mit einem nicht allzu großen aber harten Gegenstand.«
»Ein Hammer, oder etwas Ähnliches?«
»Nein, der wäre zu schwer und sicherlich tiefer in den Schädel eingedrungen. Hätte wahrscheinlich eine Fraktur nach sich gezogen. Vielleicht eher so etwas wie … ich weiß nicht. Ein Schlagstock vielleicht. Eher noch kleiner. Ewas Handliches eben.«
Berger überlegte kurz. »Ein Teleskopschlagstock?«
»Ja, Herr Berger. Das könnte sein!« Er lachte wieder herzhaft. »Doch gut, noch etwas: Sehen sie noch einmal hierhin.« Er fuhr mit dem Zeigefinger über den Hinterkopf und Berger erkannte, was Gutjahr meinte.
»Ich sehe es: Kratz- oder Abriebspuren.«
»Genau! Unser Freund ist über eine raue, harte Fläche gezogen worden. Entweder war er gerade tot oder es stand kurz bevor.«
»Um was für eine Art von harter Fläche könnte es sich gehandelt haben?«
»Sie wollen mich ins Reich der Spekulationen locken, lieber Herr Berger. Aber sie haben recht, ich habe mir Gedanken gemacht und kann zumindest sagen, dass die Fläche relativ eben, aber rau und hart gewesen sein muss.«
»Genauer geht`s nicht?« Berger schaute Gutjahr auffordernd an.
»Also, jetzt muss ich aber wirklich mutig sein. Belegen kann ich es natürlich nicht. Aber, wenn sie meine ganz persönliche Meinung wissen wollen: Beton, mit einem gewissen Schwerpunkt auf Betonpflaster. Aber, wie gesagt, bitte verhaften sie mich nicht dafür.«
»Was folgern sie daraus?«
»Meine Theorie kann erst ansetzen, wenn ich ihnen die Todesursache genannt habe. Dazu wollte ich ja nun noch kommen!« Gutjahr strahlte Berger an, der in demonstrativer Ratlosigkeit die Arme ausbreitete.
»Herr Berger, unser Freund ist an einer Überdosis Heroin gestorben! Genauer gesagt, an einer Mischung aus Diacetylmorphin und Fentanyl, die ungleich stärker wirkt als einfaches Heroin, das im Wesentlichen nur den Grundstoff Diacetylmorphin enthält. Na, hätten sie es gedacht?« Gutjahr drehte den Kopf des Toten wieder in seine ursprüngliche Lage.
Berger zog die Augenbrauen hoch. »Nein, das konnte wohl niemand ernsthaft ahnen. Das bedeutet, die Mischung macht`s?«
»In dem Fall, ja. Es sieht so aus, als habe unser Freund hier einen Stoff bezogen, dessen durchschlagende toxische Wirkung ihm nicht bewusst war.«
»Vielleicht sollte es so aussehen. Er hat sich das Zeugs ja möglicherweise nicht freiwillig oder selbst in die Adern gejagt.« Berger war zwar nach Gutjahrs Ausführungen etwas unsicher geworden, wollte aber von seiner Mordtheorie nicht abweichen.
»Ja, Herr Berger, könnte auch sein … könnte auch sein.« Gutjahr nickte ein wenig geistesabwesend mit dem Kopf, hob dann die Augenbrauen, als erwache er aus seiner Innenschau und sah Berger an. »Aber nun Herr Berger … zu meiner Theorie.« Er zog sich die Latexhandschuhe aus und warf sie in einen laut klappernden Treteimer unter dem Seziertisch. »Unser Freund hier«, er betrachtete den geöffneten Leichnam von Kopf bis Fuß, »ist mit einem oder mehreren anderen Personen irgendwo in der Nähe des Rheinufers, er spritzt sich selbst die Überdosis oder ein Anderer spritzt sie ihm. Dann fällt er in den Rhein oder wird hineingestoßen.«
»Ja, soweit nachvollziehbar, aber was ist mit dem Schlag auf den Hinterkopf und den Kratz- oder Abriebspuren?«
»Da gebe ich ihnen recht, Herr Berger, das ist noch nicht geklärt, und ich müsste wieder spekulieren, aber wie ich sie kenne, haben sie das selbst schon getan, oder?«
»Ja, stimmt. Ich denke, wenn er im Streit von einem Dritten einen Schlag erhalten hat, würde er sich das Heroin nicht mehr selbst spritzen.«
Gutjahr nickte und sah Berger interessiert zu, wie dieser seine zerfurchte Stirn massierte.
»Es wäre aber doch denkbar«, fuhr Berger nach einer kurzen Gedankenpause fort, »jemand wollte es wie den finalen Schuss eines Junkies aussehen lassen, hat ihm Eins über die Rübe gezogen, dann die Überdosis verpasst und ihn anschließend an den Füßen ins Wasser geschleift. Sicherheitsdenken, wissen sie. Der Täter wollte nicht, dass der Tote dort gefunden wird, wo er getötet wurde. Falls man ihn doch nahe dem Tatort finden würde, also nicht weit abgetrieben, würde es immer noch nach Selbstmord aussehen. Doppelt genäht hält besser!«
Gutjahr klatschte anerkennend in die Hände. »Perfekt, Herr Berger, so weit war ich noch gar nicht! Aber, ich sehe, wir verstehen uns!«
-
Auf der Heimfahrt telefonierte Berger mit Kleinschmidt und informierte ihn über die Untersuchungsergebnisse und seine Überzeugung, dass es sich um ein Tötungsdelikt handele.
Die Erstermittlungen fanden grundsätzlich in den Kriminalinspektionen vor Ort statt. Stellte es sich allerdings heraus, dass es sich, wie in diesem Fall, um ein Kapitalverbrechen handelte, war die Kriminaldirektion Koblenz, und wie hier, die K11 der ZKI, der Zentralen Kriminalinspektion Koblenz, zuständig. Üblicherweise würde Berger am nächsten Morgen nach Koblenz fahren, um den Fall an die dortigen Kollegen zu übergeben und ihnen die bisherigen Erkenntnisse zu erläutern. Danach wäre er aus dem Fall raus. Allerdings bat ihn Kleinschmidt, Mitglied der hierfür eben erst gegründeten SOKO »Rheingold« zu werden. Er wolle nicht auf Bergers Ortskenntnisse verzichten, erklärte er. Berger zögerte. Monika kam ihm in den Sinn. Aber, im Grunde genommen wusste er sofort, dass er nicht nein sagen konnte. Bereits am Rheinufer hatte er Blut geleckt, der Fall hatte ihn gepackt. War es nicht eine geradezu klassische Aufforderung an ihn und seinen Einsatz gewesen, dass der Tote vor dem Deich, dem bekannten Neuwieder Wahrzeichen, am Angelhaken gehangen hatte? Noch dazu fast unmittelbar unter der Deichkrone, der einzigen und mittlerweile leerstehenden und vergammelnden Gaststätte auf dem Deich? Ausgesprochen sinnbildlich, dachte Berger: Die Deichkrone als Symbol der runtergekommenen Stadt und der Tote im Rhein als Symbol unserer runtergekommenen Gesellschaft.
Berger sagte Kleinschmidt zu.
Während sie das Gespräch mit ein paar Floskeln beendeten, spekulierte Berger bereits über den Tatort. Wenn das Opfer unmittelbar nach der Tat ins Wasser gezogen worden und mittlerweile zirka fünfundsechzig bis siebzig Stunden tot war, wie Gutjahr meinte, hatte der Leichnam annähernd achtundvierzig Stunden im Rhein verbracht. Theoretisch, und dabei die Fließgeschwindigkeit des Rheins beachtend, könnte der Tatort dabei weit südlich vor Neuwied liegen, aber das glaubte er nicht. Erstens hatte das Opfer in der Pension Walter in Neuwied gewohnt und zweitens hatte Berger das unbestimmte Gefühl, dass die Tötung in Neuwied, wahrscheinlich zwischen dem Zementwerk Dyckerhoff und dem Stadtteil Engers, stattgefunden haben musste. Der Leichnam hätte demnach zeitweise irgendwo zwischen dem Tatort und der Fundstelle an Strömungshindernissen im Rhein, Gestrüpp oder Ähnlichem, festgehangen. Sie würden das Ufer absuchen müssen. Berger wusste genau wo.