Читать книгу Seele auf Eis - Reiner Laux - Страница 7
Prolog
ОглавлениеMenschen haben nicht nur im Gefängnis, aber gerade dort vielerlei Gesichter. Das wahre Gesicht des Gefangenen und der Gefangenschaft entblößt sich jedoch nur selten: Es blitzt beim Hofgang oder auf dem Gefängnisgang auf, offenbart sich letztlich aber vollständig nur in der Einzel-, in den Mehrfach- oder der Massenzelle. Es ist sichtbar nur für die Gefangenen, nicht für die Anstaltsoffiziellen. Die im Knast arbeitenden Menschen (Anstaltsleiter, Abteilungsleiter, Wärter, Sozialarbeiter, Psychologen) sind zwar Teil des Biotops Gefängnis, doch sie stehen am Ufer und schauen auf das Äußere dieses organischen Systems wie auf die Oberfläche eines modrigen Tümpels. Sie sehen die glatte Spiegelung auf dem Tümpel, die leichten Kräuselungen und manchmal auch stürmischen Strudel. Doch es bleibt ihnen naturgemäß verwehrt, das wahrzunehmen, was in den trüben Tiefen dieses Biotops Knast vor sich geht. Wie bei einem Eisberg, von dem auch nur ein Siebtel über der Oberfläche sichtbar ist, wird auch den Anstaltsoffiziellen (und der Öffentlichkeit) nur dann etwas davon bekannt, was in den trüben Tiefen vor sich geht, wenn es zu einem extremen Ausschlag kommt und zum Beispiel ein Foltermord innerhalb der Gefangenenschaft, der sich über Monate unbemerkt hinzieht, von der Gefangenensubkultur nicht vertuscht werden kann.
Es gibt viele, manchmal gute Knastbücher von Anstaltsleitern, Knastlehrern, Knastsozialarbeitern und Knastpsychologen. Ich schreibe jedoch nicht als außenstehender Beobachter, sondern als vormaliger Gefangener direkt aus dem Herzen der Häftlingsfinsternis. Nur ein Häftling weiß, was Knastgefangenschaft wirklich bedeutet, nur er erlebt all die toten Winkel einer Haft, die einem Offiziellen auf der anderen Seite des Schlüssels immer unzugänglich sein werden. Aus eigener Erfahrung schildere ich die totale Auslieferung an den gefräßigen Organismus Knast und was es mit den Menschen macht, die nicht nur ihrer Lebensfreiheit genommen, sondern auch unentrinnbar in dem Spannungsfeld zwischen einer repressiven Anstaltskultur und einer zerstörerischen Gefangenensubkultur gefangen sind.
Ich beschreibe aus der Sicht eines Gefangenen die inneren und äußeren Abläufe einer Gefängnisgefangenschaft, versuche die Abgründe und das schwelende Grauen, aber auch aufglimmende Hoffnungsschimmer und die Freiheitslücken in diesem geschlossenen, albtraumhaft surrealen Biotop Gefängnis fassbar zu machen, welches von dem die Gefängnisfestung umbrandenden freiheitlichen Lebensstrom völlig abgetrennt ist.
Ich schildere erlebte Knastgeschichten, die ich mit Analysen, Einsichten und daraus folgenden Verbesserungsideen zu einem aktuellen Gesamtbild der Wirklichkeit Gefängnis verwebe.
Was hat nun mich selbst an diesen unseligen Ort Gefängnis gebracht? – Praktisch eine Denunziation, grundsätzlich aber ich mich selbst. Ich fühlte mich einst von einer Bank so sehr bedrängt, dass ich mich gezwungen sah sie zu überfallen. Was ich eher spontan, dürftig geplant und ohne das Bankobjekt je von innen gesehen zu haben, tat. Infolge entschied ich, gezielt Banken, und damit in meinem Verständnis die legalen Großbankräuber, anzugreifen, wobei es keine Bedeutung hatte, dass mein älterer Bruder Außenhandelsdirektor einer großen deutschen Bank war. Wohl vorbereitet überfiel ich als sogenannter „Zorro-Gentleman-Bankräuber“ elf Jahre lang eine Reihe von Banken in Deutschland erfolgreich, wobei ich sie gewöhnlich zweimal hintereinander aufsuchte. Ich wurde nie auf sogenannter frischer Tat ertappt. Einen Teil der Beute spendete ich an soziale Organisationen und zahlte sie bei einer anderen Filiale einer überfallenen Bank ein. Mein Credo damals war: Wenn das Gesetz das Unrecht, die Ausplünderung durch die Banken schützt, muss man selbst zum Gesetzlosen werden, um die Dinge wenigstens im privaten Rahmen ein wenig zurechtzurücken.
Nachdem ich, durch die Liebe geläutert, mit meinem letzten Banküberfall in Köln meine Bankräuberkarriere nach 11 Jahren und 13 Banküberfällen an den Nagel gehängt hatte, wurde ich sieben Tage danach in Lissabon/Portugal verhaftet. Ich lebte seit einigen Jahren in der dortigen Bohème und reiste nur zu den Banküberfällen kurzzeitig nach Deutschland.
Wie sich herausstellen sollte, war ich schon 1 1/2 Jahre vor meiner Verhaftung von einem Geliebten meiner besten deutschen Freundin denunziert worden − für fünf Jahre Straferlass und 20.000 DM Kopfgeld von einer der überfallenen Banken. Seitdem liefen Ermittlungen gegen mich. Im Amtshilfeersuchen über Interpol war schon 1 1/2 Jahre vor der Festnahme mein Lissabonner Pensionszimmer − von mir unbemerkt − illegal durchsucht und jede Einzelheit, wie mein Adressbuch, akribisch abfotografiert worden. Es war eine portugiesische Sondereinheit auf mich angesetzt und ich war die letzten 1 1/2 Jahre in Portugal beschattet worden. Das Ziel war es, mich bei einem Banküberfall „auf frischer Tat“ zu ertappen, da man weder Spuren noch sonstige Indizien hatte, die eine Festnahme gerechtfertigt hätten. Instinktiv entwischte ich − in Portugal, in Brasilien, in Deutschland − immer wieder ihrer Zielüberwachung und überfiel weiterhin Banken in Deutschland. Nach meinem letzten Banküberfall, den sie im Nachhinein richtigerweise mir zuschrieben, hatten sie sich entschlossen, mich festzunehmen, auch auf die Gefahr hin, kein ausreichendes Beweisgerüst aufbauen zu können.
Nachdem ich in Lissabon im Dezember 1995 auf Ersuchen Interpols verhaftet worden war und 4 1/3 Monate im Lissabonner Polizeigefängnis in Auslieferungshaft verbracht hatte, wurde ich ausgeliefert und in Deutschland in das Gießener Gefängnis verbracht.
Nach einem mehrmonatigen Indizienprozess wurde ich im Frühling 1997 in Gießen von den vier mir zur Last gelegten Banküberfällen freigesprochen. Da der Kölner Haftbefehl, wie von meinem Gießener Anwalt großspurig versichert, nicht aufgehoben wurde, wurde ich in das Kölner Gefängnis überstellt.
Am Ende des mehrmonatigen Kölner Prozesses, in dem wir nicht nur wieder die vorgetragenen Gutachten des Gießener Prozesses, sondern auch ein neues zerpflückt hatten, forderte der Staatsanwalt fünf Jahre Gefängnis für zwei der sechs mir zur Last gelegten Kölner Banküberfälle in minderschwerem Fall. Wir forderten den Freispruch. Der Richter sprach eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren für alle sechs mir zur Last gelegten Banküberfälle im schweren Fall aus. Die Monate Lissabonner Auslieferungshaft wurden doppelt angerechnet.
Die Verurteilung gründete sich nicht auf irgendwelche Gutachten oder konkrete Zeugenaussagen, sondern ausschließlich auf die Denunziation des Informanten Gaumeier, der für seine Aussage nachweislich fünf Jahre Straferlass und 20.000 DM Kopfgeld von einer der überfallenen Banken erhalten hatte. Hatte das Gießener Gericht in seiner Freispruchbegründung festgestellt, dass Gaumeier (der Informant) „nur Fantasiewissen, aber kein originäres Täterwissen“ besessen habe („nichts, das er nicht in den Zeitungen oder durch andere hätte erfahren können“), so behauptete der Kölner Richter nun, „dass Gaumeier seine Beschuldigungen in vielen Vernehmungen konstant wiederholt und dabei Angaben gemacht habe, die er zum einen nur vom Täter wissen konnte und die zudem durch sonstige Beweismittel bestätigt werden“.
Die sich widersprechenden Feststellungen der beiden Gerichte in Gießen und Köln bezüglich der Aussage des Informanten beziehen sich absurderweise auf dieselben Fälle, nämlich auf die Banküberfälle in Gießen, da Gaumeiers Aussagen, die Kölner Banküberfälle betreffend, nicht einmal Zeitungswissen enthielten. Und so wurde ich für die Kölner Banküberfälle verurteilt, weil der Kölner Richter davon überzeugt war, dass ich die Gießener Überfälle begangen hatte – für die ich vom Gießener Gericht freigesprochen worden war.
Wir gingen in die Revision. Die Nebenrevision meines Kölner Anwalts bezüglich des Strafmaßes war angenommen worden. Im Gegensatz zur Hauptrevision, die auf die Aufhebung des Urteils, einen erneuten Prozess und folgenden möglichen Freispruch abzielte, beschränkte sich die Nebenrevision auf das Strafmaß: Eine gerade Gesetz gewordene Neuregelung unterschied bei einer bewaffneten Bedrohung zwischen einer geladenen und einer ungeladenen Waffe, wogegen diese Unterscheidung zuvor keine Bedeutung für die Länge des Strafmaßes hatte. Da ich immer eine ungeladene Schreckschusspistole verwandt hatte, würde das Strafmaß neu verhandelt werden müssen.
Die Hauptrevision meines Gießener Anwalts hatte jener sechs Tage zu spät eingereicht, sodass sie nicht berücksichtigt worden war. „Die in der Revisionsbegründungsschrift vom 6. Juli 1998 erhobenen Verfahrensrügen sind nicht in der Frist des § 345, Abs. 1 (Strafprozessordnung), angebracht worden und daher unerheblich“, so der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof.
Im Revisionsprozess bezüglich des Strafmaßes wurde ich zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.
Nun, jeder scheitert so gut er kann, doch wie man auch aus dem totalen Scheitern etwas Gutes entstehen lassen kann, ist vielleicht der Hoffnungsschimmer in diesem oft schwarzhumorig düsteren Buch (Die selbstkritische Auseinandersetzung mit meiner Bankräuber-Vergangenheit vollziehe ich ausführlich im Kapitel „Schuld und Sühne“).
Heute führe ich meinen Kampf gegen die Banken auf legale Weise fort und arbeite ehrenamtlich beim Dachverband der Kritischen Aktionäre mit. Das ist ein Zusammenschluss von 29 Einzelorganisationen, die sich gegen Rüstungsproduktion, Umweltzerstörung und für die Einhaltung von Arbeits- und Menschenrechten insbesondere bei großen börsennotierten Unternehmen einsetzen. Sie tun dies mit Kampagnen, die sich gegen menschenverachtende und kriminelle Machenschaften nicht zuletzt der Banken richten: Durch Konzernstudien, Öffentlichkeitsarbeit und Präsenz bei den KonzernHauptversammlungen, bei denen sie Gegenanträge, z. B. zur Nichtentlastung von Vorstand und Aufsichtsrat, einbringen und die Kritik an den Konzernen bündeln. Mit der Stimmrechtsübertragung vieler Einzelaktionäre kann der Dachverband nicht nur die Redezeiten für kritisch aufklärerische Beiträge nutzen, sondern auch Konzerngeschädigte (wie z. B. Näherinnen aus El Salvador) unter seiner Obhut auf dieser öffentlichen Bühne zu Wort kommen lassen. − Ich sitze dann auch schon mal in zerschlissener Jeansjacke als kritischer Aktionär bei der Hauptversammlung der Deutschen Bank zwischen all den nadelstreifengewandeten Großaktionärsvertretern in der Frankfurter Festhalle und unterstütze aufklärende Redebeiträge (und gebe vor der Halle ebensolche TV-Interviews). Und verfolge voller Freude, als ehemaliger Outlaw und Bankräuber, von Angesicht zu Angesicht mit den in meinen Augen legalen Großbankräubern (Bankern) oben auf der Bühne die moralische Demontage der Banker-Vorstandsriege.
Was meinen heutigen Bezug zum Gefängnis betrifft, gehe ich regelmäßig mit Günter Wallraff und einer kleinen Gruppe in den Kölner Knast, um dort mit Gefangenen Tischtennis zu spielen, − als Beitrag, die immer dünner werdenden Kontakte der Gefangenen nach draußen aufrechtzuerhalten.