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1.Freiheitsdrang − Flucht(versuche) und Aufstand
ОглавлениеNach der ersten Nacht im Lissabonner Polizeigefängnis wurde ich von drei Kriminalbeamten in einem alten 70er-Jahre-Benz zum Auslieferungsgericht, dem Lissabonner Tribunal de Relacao, kutschiert.
Während der Fahrt schaute ich aus dem Wagenfenster und sog begierig die Freiheitsbilder meiner geliebten Stadt auf. Verliebte Pärchen hielten sich an der Hand, Kinder lärmten und die alten Männer saßen auf den Bänken unter Palmen und spielten Karten. Tragisch schöne Portugiesinnen schwangen in wippenden Kleidern über die Avenida oder warteten voll stillen Ernstes an den Bushaltestellen. Vertraute Straßenmusiker, Kunsthandwerker und Tierdompteure zogen vorüber. Am Kino Sao Jorge standen die fliegenden Händler und am Restauradores flanierten die Huren auf ihrem reservierten Streifen unter Palmen, während, wie immer, die möglichen Freier und tatsächlichen Voyeure zwischen ihnen herumschlichen. Genau wie am Tag zuvor hingen würzige Rauchschwaden über den glühenden Eisenwägelchen, hinter denen rußhändige Händler heiße Maronen feilboten. Wie schon gestern und tausend Tage zuvor priesen die Losverkäufer das Glück an, ihre Losfahnen in den Himmel reckend wie Gebetsmühlen, und wie seit Urzeiten diskutierten die Schuhputzer mit ihren Kunden in leidenschaftlicher Routine Fußball und Tagespolitik.
Die Menschen pulsierten durch die Straßen wie immer. Doch wo ich gestern noch mit geflossen war im Strom des Lebens, stand ich heute ausgeschlossen, starr, gefangen, am Ufer. Mein Herz pochte heiß und mein Verstand war wach, doch innerlich fühlte ich mich wie gepfählt, und so schaute ich wie ein Gelähmter aus dem Gefängnis meines Körpers in das unerreichbare Leben. Gleichwohl wusste ich, dass es ein seltenes Geschenk war, am Ufer stehend, überhaupt noch auf das Leben schauen zu dürfen. Bald würde ich vollständig im Dunkel verschwinden.
Wir fuhren durch das Einkaufsviertel der Baixa und bogen vor dem Praca do Comercio auf die Seitenstraße, die zum Lissabonner Rathaus führte. Vor dem Rathaus befand sich ein mit Autos vollgestellter Platz, auf dem auch meine Begleiter einen Parkplatz suchten. Im Rücken des Platzes wuchsen die verschachtelten Altstadtviertel des Bairro Alto mit ihren engen Gässchen, Treppchen und kleinen Plätzen die Hügel hinauf: das für eine Flucht vollkommene Labyrinth, das mir zudem völlig vertraut war. Den Rathausvorplatz auf der anderen Seite streifte die geschäftige Rua da Arcantal, die parallel zum Tejo-Fluss verlief, und die wir nur zu überqueren brauchten, um vor dem offenen Tor des Auslieferungsgerichtes zu stehen. Ich prägte mir die Örtlichkeiten ein und berechnete Distanzen und Zeiten. Passenderweise trug ich mit Jeans und Wildlederjacke meine Zivilkleidung.
Wir traten durch das offene Tor in das Gebäude. Direkt neben dem Eingang erhob sich eine breite, sanft geschwungene Treppe hoch hinauf zu den Gerichtssälen. Wir gingen die Treppe hinauf, durch eine doppelflügelige, dunkle Holztür, deren einer Flügel zur Treppe hin geöffnet war, und traten in einen prächtigen, langgezogenen Saal.
Die Beamten nahmen mir die Handschellen ab. In der Mitte des Raumes stand ein riesiger, ovaler Tisch, an dem einst Vasco da Gama seine visionären Ideen ausgebreitet haben mochte. Ich blieb vor der offenen Flügeltür stehen und war zunächst geblendet. Der Raum war erhellt von einem goldenen Sonnenfächer, der schräg durch die Fensterfront in den Saal fiel, ohne dass ich die Engel der Gerechtigkeit ausfindig machen konnte. Als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah ich durch die breite Fensterfront den Tejo in leuchtendem Sonnenblau vor mir liegen. Ich sah die geliebten orangefarbenen Fähren, mit ihren kreischenden Möwenschwärmen darüber, mit denen ich so oft den Fluss überquert hatte, wie immer ihre gewohnten Bahnen ziehen. Die bunten Fischkutter schaukelten friedlich auf den Wellen. Dazwischen schoben sich die überdimensionalen Containerschiffe durchs Bild. Über allem schwebte ein blauer lusitanischer Himmel, durchzogen von weißen Lämmerwölkchen und silbernen Möwenschwärmen.
Der offene Ausblick durch die Fensterwand des Gerichtssaales war wie ein Blick aus tiefem Dunkel auf eine bewegte leuchtende Kinoleinwand. Er legte sich lindernd auf meine erschöpften Augen und Seele, während mir diese unerreichbaren Bilder der Freiheit im gleichen Moment umso schmerzhafter meine völlige Ausgeliefertheit an ein undurchdringliches Dunkel abhängiger Gefangenschaft bewusst machten.
Auf einer anderen Bilderbahn in meinem Kopf arbeitete es zu gleicher Zeit angestrengt, als ein geschäftig-freundlicher Gerichtsbeamter aus einer Seitentür trat und uns um ein wenig Geduld bat, die Richter seien auf dem Weg. Der ältere der drei Beamten, der mich an einen Cowboy erinnerte, nahm mir die Handschellen ab. Um meine Begleiter in die hintere Ecke zu dem Sofa zu ziehen, wandte ich mich dem großen, dunklen Tisch zu und sprach bewundernd über dessen feinnervige Einlegearbeiten. Wir kamen über Antiquitäten ins Gespräch, wovon sie alle drei wenig Ahnung hatten, und ich begann von der edel stilvollen Einrichtung zu schwärmen. Sie fühlten sich geschmeichelt. Ich sah wie sich ihre unverbindlich distanzierte Freundlichkeit in gelöste, interessierte Offenheit verwandelte, als ich das aufrichtige Hohelied auf die portugiesische Kultur und Mentalität sang, während ich sie langsam, immer wieder verhaltend und auf eine neue antiquarische Entdeckung im Raum deutend, in die der Eingangstür gegenüberliegende Ecke führte, in der das Sofa stand. Hier vor dem Sofa schien die Begutachtung des Raumes abgeschlossen, und so war es nicht verwunderlich, dass sich der Cowboy mit einem genussvollen Seufzer darauf fallen ließ und sich eine Zigarette anzündete. Der Beamte, der gefahren war, folgte ihm. Beide Polizisten saßen nun entspannt rauchend auf dem Sofa, während ich mit dem dritten davorstand.
Ich veränderte die Thematik des Gesprächs und führte es von der portugiesischen Liebes- und Leidenskultur hinüber zur nackten portugiesischen Gefängniskultur und versuchte erneut, etwas über die Bedingungen der Gefangenschaft zu erfahren.
„Gibt es Gewalt und Vergewaltigung im Polizeigefängnis?“
„Keine Ahnung, wird wohl schon vorkommen. Aber wir haben keinen Zutritt zum Gefängnisbereich und uns interessiert auch nicht was dort passiert“, grinste mich der Cowboy aufrichtig an.
„Sie sind doch stark, ein deutscher Kämpfertyp, wie von der Baader-Meinhof-Guerilla“, fügte er hinzu und versuchte damit alle Beklommenheit, mehr anerkennend als ironisch, hinwegzuwischen.
Ein neuer unheimlicher Gedanke blitzte mir durch den Kopf.
„Wirft man mir auch Mitgliedschaft in der ehemaligen RAF vor? Zum zweiten Mal in weniger als 20 Stunden höre ich die Namen Baader-Meinhof.“
„Nein, soweit ich weiß, nicht“, lachte der Cowboy, während seine Zigarette im Mundwinkel wippte, „Sie sind Zorro. Ein Einzelgänger, ein galanter und gewaltloser Bankräuber mit Zorromaske, der über zehn Jahre lang Banken überfallen hat, ohne dass man ihn jemals fassen konnte.“ Er machte eine Pause, in der er mich freundlich grinsend taxierte, „Pardon, Sie sollen es sein.“
Ich lachte nun ebenfalls freundlich und schaute in die wartenden Gesichter, ohne ihnen den Gefallen zu tun, darauf zu antworten.
Wir kamen schnell von den mir vorgeworfenen Fällen in Deutschland ab, da er offensichtlich überhaupt keine Informationen darüber hatte, was zu meiner Verhaftung geführt hatte. Dass es eine Denunziation gewesen war, sollte ich erst Monate später im deutschen Knast erfahren.
„Reiner, wenn Sie wieder nach Portugal kommen – und Sie wollen doch in Portugal leben und nicht in Deutschland – überfallen sie aber keine Banken hier, ja?!“, lachte der Cowboy zum versöhnlichen Abschluss.
Wir gingen dazu über, über das Leben in Portugal zu sprechen, wobei ich die Unterhaltung behutsam auf die politische Ebene und zur Präsidentenwahl hinführte, die in wenigen Wochen stattfinden würde. Wie erwartet mischten sich auch der Fahrer und der Jüngste der Polizisten in das Gespräch, das immer lauter und leidenschaftlicher wurde. Ich begann mich langsam aus dem Wortwechsel herauszuziehen, nahm jedoch als aufmerksamer Zuhörer noch daran teil, während er immer erhitzter wurde und von einem Moment zum anderen vom Englischen ins Portugiesische fiel.
Während ich dem Disput folgte, begann ich mit fachmännischen Händen die Holzvertäfelung über dem Sofa zu begutachten, zunächst beiläufig, und mich immer wieder in das Gespräch beugend, dann immer intensiver und interessierter, wobei ich mich langsam von meinen Begleitern abwandte. Ich tastete mich über die Holzvertäfelung, behutsam und immer wieder verhaltend, bis zu der geschlossenen Tür, die ungefähr fünf Meter von unserem Sofa entfernt in die Wand eingelassen war. Neben dem Türrahmen hing in Brusthöhe ein Feuerlöscher. Während ich den Türrahmen befühlte, studierte ich den Feuerlöscher und seine portugiesische Bedienungsanleitung. Die Beamten waren in ihr Gespräch vertieft und beachteten mich nicht.
Ich sah, wie leicht der Feuerlöscher aus der Halterung zu ziehen war, wie einfach es war, die Plombe herunterzureißen, auf die Beamten zuzuspringen, den Schlauch auf sie zu richten, und auf den Knopf zu drücken. Wie kinderleicht, ihre Gesichter einzuschäumen und sie außer Gefecht zu setzen. Wie schnell würde es gehen, ihnen ihre Kanonen abzunehmen und durch die offene Tür die Treppe hinunter, in die gleißende Freiheit zu springen, in dem beruhigenden Bewusstsein, niemanden wirklich verletzt zu haben.
Gleich schnaubenden Pferden zerrten die unterschiedlichsten Stimmen in mir. Der in die Ecke gedrängte Wolf, der nur die Moral der Freiheit kannte, doch nicht eine Moral der Wege dorthin, schrie wild:
„Mach es, Reiner, greife sie an und überwinde sie! Sie sind es, die dich in deiner Lebensfreiheit vergewaltigen, ohne dich auch nur zu kennen. Sie sind es, die dich wieder in einen düsteren Käfig verschleppen wollen, in dem ein sinnloser Kreuzweg auf dich wartet – in völliger Unfreiheit, Entrechtung und totaler Ausgeliefertheit an Gewalt und Zerstörung. Überwinde die, die dich gefangen halten und zerstören wollen, und du bist frei.“
Eine andere Stimme, aufgebracht und mit in Abwehr hochgehaltenen Händen, forderte mit scharfem Nachdruck:
„Reiner, du kannst keine Gewalt anwenden! Auch eine Attacke mit einem Feuerlöscher ist Gewalt und sie ist durch keinen Umstand zu rechtfertigen. Es sind Menschen. Drei Menschen. Drei unterschiedliche, ganz eigene Leben, und du hast kein Recht, diese Leben zu verletzen, und damit auch Leid über andere unschuldige Leben zu bringen. Dein Prinzip war es immer, dass das Ziel nicht jedes Mittel rechtfertigt, sondern dass die Mittel und Wege von der Moral des Zieles bestimmt sein müssen.“
„Ach was“, drängte sich eine ruhige, vernünftige Stimme dazwischen, „lass dir die Augen nicht mit Moral und Ethik verkleben. Es geht hier darum, entweder du oder sie, wobei die kurzmomentigen Konsequenzen für sie geradezu lächerlich nichtig sind, für den Fall, dass du sie überwindest, im Verhältnis zu den irrsinnigen Konsequenzen die auf dich warten, wenn du dich ihrer Gewalt nicht entziehst. Für sie bist du nur eine saftige Trophäe, ein interessantes exotisches Tier, das sie gefangen haben, dessen Gefangenschaft an sich und weiterer Werdegang sie aber schon nicht mehr interessiert. Also los, Lissabon ist deine Stadt, und du wirst in deiner Stadt untertauchen wie ein trockengelegter Fisch, der gerade noch rechtzeitig das Meer erreichen konnte. Das Weitere wirst du in Lissabon aus dem Hintergrund klären und vorbereiten. Du kannst nach Brasilien gehen. Du kennst das Land, du hast Verbindungen dort, sprichst die Sprache, und Brasilien liefert nicht aus. Also los – Rock ’n’ Roll.”
Ich hatte mich scheinbar lässig mit dem Rücken und Kopf gegen den Türrahmen gelehnt, während mein Blick durch den Raum und über die drei schwatzenden Polizisten schweifte. Ich wirkte völlig ruhig, doch in mir tobte der Sturm, als plötzlich aus der Tiefe eine mild lächelnde Stimme in mir aufstieg und durch den wütenden philosophischen Grabenkrieg hindurch tönte:
„Mann, Junge! Feuerlöscher, Kanonen, Brasilien. Dort sitzen drei Menschen und du wirst sie niemals verletzen können.“
Ich schöpfte tief Luft, und in diesem Moment legte sich Cheyennes geliebte Stimme mit einem zarten „Ach, Reiner“ auf meine zerquälte Seele, während ich gleichzeitig ihre kleine zierliche Hand auf meinem Arm spürte. Cheyenne war meine portugisiesche Liebste, die ich im Frühling in Lissabon getrofffen hatte. Ich schloss die Augen. Ich konnte diese Menschen sowieso nicht angreifen, ich hatte ohnehin nicht das Recht dazu. Ich war nicht mehr allein, ich trug Verantwortung nicht nur für mich, sondern auch für Cheyenne.
Ich musste Cheyenne schnellstmöglich sprechen, sie beruhigen und gemeinsam mit ihr die Situation klären. Im Falle einer Flucht wäre das unmöglich. Sie wussten bestimmt, wenn sie schon so viel wussten, dass Cheyenne meine einzige wirkliche Nabelschnur, meine einzige abhängige Verbindung zum Leben war. Somit würden sie im Falle meiner Flucht als Erstes über sie herfallen und sie mit Lügen und Drohungen bestürmen. Ich dagegen konnte, auf der Flucht und abgeschirmt, nicht einmal auf eine solche Situation einwirken. Sie würde in der Spannung zerrissen werden, unter Druck gesetzt von der Polizei und zerquält in der Ungewissheit über mich und die Rechtmäßigkeit der Anklagen und zudem den wütenden Angriffen und Vorwürfen ihrer Mutter ausgesetzt.
Außerdem wären Cheyenne und ich im Falle einer Flucht zerstört. Wir würden, ohne Gefahr, niemals mehr zusammen sein können.
Das ganze Gewitter war in nur wenigen Momenten durch mich hindurch getobt. Meine drei Beamten saßen, unverändert schwatzend und rauchend, auf dem grünen Sofa und ahnten nicht, welches Damoklesschwert für einen Moment über ihnen geschwebt hatte. Für einen Moment hatte ich die Macht über sie und meine Freiheit in Händen gehalten, nun hatte ich mich freiwillig in ihre Macht zurückbegeben. Eine tiefe Niedergeschlagenheit ergriff mich. Ich stieß mich seufzend von dem Türpfosten ab, ließ mich nach vorne fallen und schlenderte auf meine drei Begleiter zu.
Eine Stunde später begann das Auslieferungsprozedere, bei dem mir ein Richter mit seinen beiden Beisitzern den internationalen Haftbefehl und das Auslieferungsersuchen des deutschen Staates eröffnete, über das in den nächsten Monaten entschieden werden würde, was nur eine Formsache sei.
Meine drei Begleiter legten mir wieder die Handschellen an. Wir verließen das Gerichtsgebäude und traten auf die sonnendurchflutete Straße, die voller geschäftiger Menschen war. Ich ging aufrecht durch sie hindurch. Wieder schien niemand meinen gefesselten Zustand wahrzunehmen. Eine tiefe Niedergeschlagenheit erfasste mich, als ich wieder neben dem Jüngesten im Wagen saß. Ich wusste, ich hatte die Wahl der Entscheidung gehabt, und doch hatte ich letztlich keine Wahl gehabt. Die Tragikomik lag darin, dass ein Freiheitsmensch wie ich, der niemals für sich allein eine solche Gefangenschaft angenommen hätte, mich für ein so vergängliches und zerbrechliches Geschöpf wie die Liebe freiwillig wieder in diese Gefangenschaft begeben hatte. Ich musste bitter grinsen, war ein wenig stolz, vor allem aber presste mich eine düstere, ausweglose Trostlosigkeit in den Wagensitz.
Die Stunde des Sonnenuntergangs leuchtete in rotblaugoldenen Tönen durch die Straßen Lissabons, während wir in dem verriegelten Benz zurück zum Polizeigefängnis glitten. Hungrig saugte ich das vertraute Licht und Farbenspiel des Lissabonner Abends auf, das ich für lange Zeit nicht mehr sehen sollte.
Plötzlich erklang aus dem Autoradio Sinead O’Connor’s „Nothing Compares To You” und ich sah das Gesicht von Cheyenne vor mir aufleuchten. „Nein, niemals wird es etwas geben wie dich!“, lächelte ich trotzig in die hereinbrechende Nacht, während mich der Benz unaufhaltsam in das ewige Dunkel der Massenzelle zurücktrug.
Natürlich wird im Knast immer wieder mal über Ausbruch und Flucht schwadroniert und auch so manches geplant. Meistens bleibt es aber dabei. Die Pläne behandeln zumeist Fantasien die nie realisiert werden und deren Funktion darin besteht, der Knastmonotonie zu entfliehen und den Leidensdruck zu lindern. Selten finden wirkliche Ausbruchsversuche aus den geschlossenen Anstalten statt. Die häufigsten Fluchtversuche werden bei begleiteten Ausführungen unternommen, bei denen der ungefesselte Gefangene nicht von der Toilette zurückkommt oder in der Fußgängerzone untertaucht. Oder aber ein Häftling kommt von einem unbegleiteten Ausgang oder aus dem Hafturlaub nicht zurück. In den meisten dieser Fälle werden die Flüchtigen bei den angegebenen Besuchsadressen der Entflohenen – der Familie oder bei der Freundin − wieder eingesammelt, oder sie stehen nach kurzer Zeit wieder vor dem Gefängnistor, weil sie nicht wussten wohin und was sie mit einer Freiheit auf der Flucht anfangen sollten.
Natürlich kommt es auch immer wieder zu spektakulären Gefängnisausbrüchen und es gibt sogenannte „Ausbrecherkönige”, willensstarke, kreative Häftlinge, denen wiederholt die Flucht gelingt. Unter den Ausbruchsmethoden ist das Durchsägen der Gitter (mit einem hereingeschmuggelten Sägeblatt) mit nachfolgendem Überwinden der Mauer (mittels verknoteten Betttuchtauen) der Klassiker. Des Weiteren ist die Flucht über Belüftungs-, Heizungs- und Kanalisationssysteme beliebt. Wenn sinnvoll und möglich wird auch schon mal ein Tunnel gegraben. Weniger aufwendig ist die Flucht versteckt in den Fahrzeugen externer Dienstleister (Müll-, Transportunternehmen), mal mit, mal ohne das Wissen der Fahrer. Am bequemsten lässt sich der Gefangenschaft mithilfe von einzelnen Beamten entfliehen (die entweder bestochen sind oder aber der Liebe zu einem Gefangenen wegen alles riskieren). Am brutalsten und am wenigsten erfolgreich ist der Ausbruchsversuch über eine Geiselnahme von Anstaltsbeamten. Aus isolierten Häftlingsanstalten wie Gefängnisinseln oder Strafkolonien, von denen es früher bedeutend zahlreichere gab, kommen bei Fluchtversuchen kleine Boote oder selbstgebastelte Flöße zum Einsatz.
Grundsätzlich ist die Flucht aus einem Gefängnis in Deutschland straffrei, da jedem Menschen ein natürlicher Freiheitsdrang zugestanden wird. In der Praxis hat die Flucht für einen wieder eingefangenen Häftling zur Folge, dass seine Haftbedingungen verschärft werden (Verlegung in ein Gefängnis mit höheren Sicherheitsstandards, verstärkte Kontrollen, Ausschluss von Freizeitgruppen, verminderte Aussichten auf vorzeitige Entlassung). Verfolgt werden natürlich jene Straftaten, die im Zusammenhang mit einer Flucht möglicherweise begangen werden – wie Freiheitsberaubung (im Fall einer Geiselnahme), Körperverletzung (bei einem Angriff auf einen Beamten), Bestechung (eines Beamten), Sachbeschädigung (Zersägen der Gitter, Aufbruch der Wände oder Untertunnelung), Diebstahl (der Gefängniskleidung). Ein kollektiver gewalttätiger Ausbruch wird als „Gefangenenmeuterei” geahndet und sanktioniert. Zudem wird Fluchthilfe strafrechtlich verfolgt.
Das einzige reale Fluchtvorhaben, das ich in der Gießener JVA erlebte, war der dilettantische Versuch zweier Deutschrussen, die während ihrer Tätigkeit als Hofreiniger zwei verknotete Bettlaken aus ihrer mobilen Abfalltonne zogen. Sie warfen die vermeintlichen Freiheitstaue über die NatodrahtRollen, die die mehrere Meter hohe Gefängnismauer krönte, und hangelten sich die Mauer hinauf, über deren Kante sie sich aber leider mitsamt der Bettlaken in den Drahtrollen verhedderten und von herbeigeeilten JVA-Beamten befreit werden mussten.
In Köln träumte ein deutsch-kolumbianischer Kokaingroßdealer, der 15 Jahre abzusitzen hatte, jahrelang von einem von außen inszenierten Befreiungsversuch, bei dem ihn in seiner Fantasievorstellung ein Mafia-Hubschrauber in die Freiheit entführen würde. Um für potentielle Befreier erkenntlich zu sein, hing immer ein kanariengelbes T-Shirt in seinen Gittern. Der Hubschrauber kam nie.
Zwei Gefangene, die im Kölner Knast in der Einzelzelle unter mir gelegen hatten, ein Albaner und sein türkischer Zellenkollege, warteten nicht auf Hilfe von außen. Sie durchsägten die Gitter ihrer Zelle mit einem hereingeschmuggelten Sägeblatt − im Knastjargon „Engelshaar“ genannt − und überwanden Zaun und beide Mauern. Sie wurden nicht gefasst. Anders als deutsche Gefangene hatten sie wahrscheinlich draußen ein funktionierendes Netzwerk (Großfamilie, Bekannte), die sie in ihre Herkunftsländer schleusten, in denen sie dem Zugriff der deutschen Behörden entzogen waren.
In Köln saß auch eine Zeit lang Hans-Jürgen Rösner, der Kopf der beiden „Gladbecker Geiselmörder“, in meinem Hafthaus ein. Rösner verhalf durch seinen 1988 gescheiterten Banküberfall mit folgender Geiselnahme und Mord nicht nur sich selbst, sondern auch der zuständigen Polizei und vielen Pressevertretern zu beschämender Bekanntheit. Die Verfolgung der Beiden war von massiven Polizeipannen begleitet. Und immer dabei: die Pressehyänen, die sensationslüstern durch wohlwollende Interviews mit den Geiselnehmern diese in ihrem Tun noch bestärkten, während zur selben Zeit die beiden weiblichen Geiseln mit an den Kopf gehaltener Pistole Todesängste ausstanden.
Für seine Taten sitzt er mittlerweile fast dreißig Jahre im Knast, ohne Aussicht auf Freilassung: lebenslänglich plus Sicherheitsverwahrung. Viele Mitgefangene sahen Rösner als ganz große Nummer an und begegneten ihm mit einer Art schaurigem Respekt. Für mich war er ein feiger Mörder, der sich hinter wehrlosen Geiseln versteckt hatte, nachdem er sich als zu dämlich erwiesen hatte, zu zweit eine kleine Bankfiliale auszurauben. Rösner, mittlerweile stark verfettet, war in meinem Hafthaus als Hausarbeiter angestellt. Er verteilte Seife und Klopapier und stand beim Sommerfest in rotkarierter Schürze mit einer großen Zangengabel in der Hand („Darf’s noch ein Würstchen sein?“) auf dem Gefängnishof hinter dem Kohlegrill. Er war quasi „auf Bewährung“ innerhalb der verschiedenen Gefängnisformen aus einer Hochsicherheitsanstalt in unser Hafthaus der Sicherheitsstufe 1 verlegt worden. Da er in der Freistunde aber jedem, der es hören wollte, etwas von Flucht und hereingeschmuggelten Kanonen erzählte, wurde er bald in eine stärker gesicherte Haftanstalt zurückgeschickt.
Im Remscheider Knast gelang einem jungen türkischen Kampfsportmeister die Flucht. Er hatte wie auch viele andere Gefangene gesehen, dass ein Baugerüst innerhalb des Knastkomplexes so nah an der Gefängnismauer aufgebaut worden war, dass ein durchtrainierter, entschlossener Gefangener sie mit einem Sprung erreichen konnte. Bei einem Gang von seinem Arbeitsplatz zu einem inszenierten Arzttermin in einem anderen Hafthaus entsprang er seinem beamteten Begleiter, hechtete das Gerüst hoch und schwang sich auf die Mauer, auf deren anderer Seite ihn seine Komplizen erwarteten. Auch er wurde nicht gefasst und ist wahrscheinlich in seiner Geburtsstadt Istanbul untergetaucht.
So sehr Fluchtpläne jeden Gefangenen immer mal wieder umtreiben − sei es als Gedankenspielerei zur inneren Selbstbefreiung wie zur Linderung des Leidensdrucks, sei es als reales Vorhaben − so schwirren in zugespitzten Situationen auch immer mal wieder Gerüchte über Rebellion und Aufstand durch die Zellen und Gefängnisgänge.
In der Lissabonner Massenzelle konnte ich eine Gefangenenrebellion erleben, die über Absichtserklärungen hinausging. Die erlebte Rebellion trug, im Gegensatz zu den blutigen Gefangenenaufständen in beispielsweise lateinamerikanischen Knästen, wo es regelmäßig zu Toten und Verletzten kommt, eher Züge einer komischen Seifenoper.
Eines Märzabends, während der Nachrichten, breitete sich plötzlich helle Unruhe in der Zelle aus. Es wurde bekanntgegeben, dass für die Gefangenen der MF25, der früheren portugiesischen Stadtguerilla, die sich immer mehr zu einer Terrorgruppe entwickelt hatte, im Parlament eine Amnestie diskutiert wurde, insofern sie nicht in Bluttaten verwickelt gewesen waren. Gefangene der großen Gefängnisse hatten darauf die Forderung gestellt, dass, im Zuge der Gleichbehandlung, alle Gefangenen in Portugal, die nicht mit Bluttaten in Verbindung standen, amnestiert werden sollten. Zur Unterstreichung ihrer Forderungen hatten sie mit Arbeitsverweigerung und Hungerstreik gedroht.
Die MF25 war einst vom legendären militärischen Kopf des portugiesischen Umsturzes der Hauptleute vom 25. April, dem charismatischen Redner und Führer der Nelkenrevolution, Otelo de Carvalho, gegründet worden. Zu einer Zeit, als die Restauration begonnen hatte, die Errungenschaften der Revolution wieder zurückzuschrauben. Otelo wurde infolge zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt und die damalige politische Führung hatte in neuerer Zeit zugegeben, dass nicht er als Person, sondern als Symbol für antirestaurative Unruhe und Aufruhr verurteilt worden war. Ob und inwieweit er an terroristischen Anschlägen als planerischer Kopf beteiligt gewesen war, ist nie bewiesen worden. Er lebte nach der Haft mit seiner Familie zurückgezogen vor Lissabon in einem kleinen Anwesen, gab seltene Interviews und schrieb Bücher.
In der Zelle entbrannte die Diskussion, ob man an einem möglichen Hungerstreik teilnehmen sollte. Alle waren sich einig und die 90 % meiner trunkenen Leidensgenossen, deren Fälle nicht mit Gewalt in Berührung standen, sahen sich schon in nächster Zukunft die Schwelle zur Freiheit überschreiten. Meine Mitgefangenen erklärten unisono, ich bräuchte nicht beim Streik mitzumachen, da ich mit meinem Fall in Deutschland ja nichts mit der Amnestie zu tun hätte. Ich bedeutete ihnen, dass ich mich um ihre Betreuung − Versorgung mit Teegetränken, kleine Sportübungen – kümmern würde.
Die Tage vergingen mit täglichen Nachrichten über eine mögliche Amnestie und hitzigen Spekulationen über einen kommenden Hungerstreik. Die Diskussionen entwickelten sich über das gesamte Gefängnis und wurden während des Hofgangs auch mit den Insassen der anderen Zellen geführt, die noch überwiegend unschlüssig waren. Die Entscheidung in unserer Zelle war gefallen. Sollte ein Hungerstreik, ausgehend von den großen Lissabonner Gefängnissen, beginnen, würde unsere Zelle daran teilnehmen.
Neben mir wollte auch ein junger Junkie nicht am Streik teilnehmen; weniger aus Furcht vor Gewichtsverlust, sondern weil er sich fürchtete, seine Mutter nicht bei den Besuchen sehen zu können, die die Anstalt mit Sicherheit für die Teilnehmer des Aufstands streichen würde.
Dienstagvormittag erschien die Gefängnisdirektorin in der Zelle, um mit uns über einen möglichen Streik und seine Auswirkungen zu sprechen; besser, um einen Vortrag darüber zu halten. In verschlossenem langen Mantel und damenhafter Zurückhaltung stand sie vor uns, die Gefangenen in Hufeisenform um sich geschart, und versuchte uns in gönnerhafter Abgeklärtheit und Weitsicht einen möglichen Hungerstreik auszureden. Sie erklärte sich in einer geschickt ausgewogenen Mischung aus inständigen Bitten, gutmütterlichen Ratschlägen, unverhohlenen Drohungen und in Aussicht gestellten Sanktionen. Mutter Senhora Directora Teresa forderte uns eindringlich auf, zu unserem eigenen Wohl von einem Hungerstreik abzusehen. Sie machte sich große Sorgen, dass wir voreilige Entscheidungen treffen könnten, die wir später bereuen müssten. Sie führte weiter aus, dass ein Hungerstreik natürlich automatisch dazu führen müsste, dass die Besuche gestrichen würden, ebenso wie Telefonate und die Annahme von Paketen. Außerdem könnte sie Nachteile in den kommenden Prozessverfahren nicht ausschließen, da eine Teilnahme an dem Hungerstreik natürlich Eingang in die Akten finden würde.
Ihre Stimme wurde wieder mütterlich besorgt und sie wiederholte ihre wohlwollende Bitte, im eigenen Interesse von einem Hungerstreik abzusehen. Um Wankelmut zu fördern, führte sie abschließend an, dass alle anderen Zellen nicht an einem ohnehin unwahrscheinlichen Hungerstreik teilnehmen würden. Natürlich war sie darüber informiert, dass in unserer Zelle die Entscheidung für den Streik gefallen war.
Als Senhora Directora gegangen war, erlebte ich eine Veränderung unter den Gefangenen. War Ihre Exzellenz bisher für fast alle Gefangenen eine unantastbare und fast heilige Autorität gewesen, änderte sich das nun. Der heuchlerische Auftritt war von den meisten Gefangenen auch als solcher erkannt worden. Der Auftritt der Direktorin hatte die Gefangenen in ihrer Entscheidung für den Streik noch bestärkt. In der Zelle breitete sich ein euphorisches Gefühl der Solidarität aus. Man fühlte sich als ein verschworener Haufen, als einsame Helden, Schulter an Schulter, in einem aufrechten Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit, umgeben von einem Meer aus Feindseligkeit und Feiglingen.
In stolzgeschwellter Ausgelassenheit schnatterten die Gefangenen wild durcheinander. Sie waren auf einmal wer und wie zum Nabel der Welt geworden, die sich wieder zu drehen schien. Überall in der Zelle wurde gelacht und gescherzt. Es gab keine Unterschiede mehr, jeder sprach mit jedem und alle versicherten einander Treue, Durchhalten und Kampf bis zum Letzten, während Primitivo von einem zum anderen lief, allen lachend auf die Schulter schlug und jedem erklärte, dass man denen endlich mal zeigen würde was eine Harke ist.
Wir folgten gespannt den Fernsehneuigkeiten. Der Streik in den großen Lissabonner Gefängnissen begann und breitete sich schnell über das ganze Land aus. In den Nachrichten wurden Außenaufnahmen vom großen Stadtgefängnis in Caxias gezeigt, auf denen weiße Laken mit Streikparolen vor den Fensteröffnungen flatterten. Dahinter versuchten wild gestikulierende Gefangene mit Zurufen ihre Angehörigen zu erreichen, die nach Streichung aller Besuche aufgebracht vor den Gefängnismauern ausharrten. Unsere Zelle hatte sich am Tag des Streikbeginns geschworen, noch einmal tüchtig zu essen und alle Vorräte aufzubrauchen und sich am folgenden Tag dem Streik anzuschließen.
Am kommenden Morgen blieb die Frühstückskiste mit den Brötchen gefüllt, nur das heroinsüchtige Muttersöhnchen und ich bedienten uns. Wir saßen taktvoll verschämt mit dem Rücken zur Zelle gewandt, während sich die Mitgefangenen mit der Kaffeebrühe begnügten. Zum Mittag gab es eine seltene Schnitzelplatte, deren 26 Portionen auf Anweisung der Guardas von den Kalfaktoren zu einem prachtvollen heißen Buffet über die Tische drapiert wurden, garniert von Heerscharen sonnengoldener Orangen.
Die Streikfront bekam einen ersten Riss. Frederico konnte nicht widerstehen und erklärte den Streik für sich für beendet. Unter dem Feixen der vor der Zelle lauernden Guardas und mit den wütend verächtlichen Anwürfen seiner Kameraden im Rücken setzte er sich vor die Spüle und fiel wild schmatzend über drei Teller her.
Ich kochte für die Mitgefangenen Tee und versorgte sie auf ihren Betten. Zudem hatte ich ein leichtes Gymnastikprogramm entwickelt, das Hunnen-Enrique und Bronx-Jao dreimal täglich durchsetzen wollten. Die Mittagsplatte beließ man erwartungsgemäß bis zum Abendessen in der Zelle. Sie bestand aus den beliebten Sardinhas Grelhadas, den gegrillten Sardinen, die man ebenso demonstrativ verführerisch über die Tische duften ließ. Die Streikfront bröckelte weiter. Nando erklärte den Streik jetzt auch für beendet. Er machte sich mit Frederico, den er am Mittag noch empört angegriffen hatte, mit Felipe, Beto und noch drei anderen Junkies über die gegrillten Sardinen her, wobei sie das Überangebot freudig annahmen und jeder von ihnen mehrere Portionen verschlang.
Die Streikfront brach langsam völlig zusammen. Am nächsten Morgen kippten Gil, Roberto, Primitivo und noch fünf andere. Am Nachmittag befanden sich von 26 Gefangenen, mit Ronnie, Bronx-Jao und Buba-Fernando noch drei Gefangene im Hungerstreik. Am frühen Abend gaben auch diese in gegenseitigem Einvernehmen den Streik auf und ein fröhlich befreites Gelage konnte beginnen. Der Gefängniskiosk war nun auch für unsere Zelle wieder geöffnet, die ihn fast gänzlich aufkaufte. Zum Abendessen, dem portugiesischen Gulasch Guisado, wurde alles auf den Tisch gepackt und bis tief in die Nacht hinein geschlemmt. Streik?! Den sollten die anderen in den großen Gefängnissen zu Ende führen. Sie standen hier als Einzelkämpfer ohnehin auf verlorenem, sinnlosem Posten. Wozu Energien für nichts verschwenden?!
Der Hungerstreik in den großen Gefängnissen Portugals ging weiter. Fast jeden Tag wurden Bilder vom Caxias Gefängnis gezeigt. Der Streik radikalisierte sich. Wir sahen im Fernsehen die Zellenwaben in den Gefängnisfronten brennen, da Gefangene begonnen hatten ihre Zellen zu demolieren und in Brand zu stecken. Ihre Mütter und Frauen schrien dazu und klagten in die Kameras, dass sie über hinausgeschmuggelte Kassiber Informationen hätten, dass Gefangene gezielt vom Wachpersonal zusammengeschlagen würden und die Krankenstation bereits überfüllt sei.
Wenige Tage später wurde der Streik gänzlich niedergeschlagen. Unter dem Wehklagen der Angehörigen, die durch Absperrungen auf Distanz gehalten waren, wurden die Köpfe und aktivsten Teilnehmer des Streiks, in Rückenhandschellen, aus dem Gefängnis geführt. Sie waren, jeder einzeln, in einem solch brachialen Polizeigriff genommen, dass sie nur gebückt, das Gesicht nicht erkennbar in Richtung Boden gedrückt, blind und geführt vor sich hin stolpern konnten, während die angehörigen Mütter und Frauen in die Kameras schrien, dass nur verhindert werden sollte, dass man ihre zerschlagenen Gesichter im Fernsehen sähe.
Die Gefangenen wurden in Gefängnistransporter verfrachtet und in die entferntesten Gefängnisse nach Nordportugal verbracht, wo sie von ihren Angehörigen und allen lebensnotwendigen Zuwendungen abgeschnitten waren. Die Gefangenen und ihre Angehörigen kamen natürlich auch hier fast ausschließlich aus den unteren Schichten und kaum einer konnte sich eine 400 Kilometer lange und teure Fahrt in den Norden leisten – schon gar nicht zweimal die Woche.
Wie drückte es am Abend ein Parlamentsvertreter im TV so schlüssig und wohlvertraut aus: „Der demokratische Rechtsstaat hat gezeigt, dass er nicht erpressbar ist.“