Читать книгу Tägliches Befremden - Reingard Dirscherl - Страница 7
ОглавлениеWeitsicht verboten
Sie öffnete die Fensterflügel. Ihr Blick fiel auf die Obstgärten. Die Äste senkten sich tief unter der Last der reifen Orangen. Hinter den Blättern der Feigenbäume und den feurigroten Granatapfelblüten verschwanden die Ziegeldächer der Gartenhäuschen. Über ihnen lag ein stahlblauer, gebogener Streifen. Schwach hob er sich vom dunstigen Horizont ab. Das Meer. Olivia atmete den feuchten Geruch ein, bevor sie sich zu viert auf den Weg machten.
Der Duft der reifen Früchte verhieß jedoch kein Land, wo die Zitronen blühen. Die Wellen dieses Meeres hatten nichts von der lockenden Klarheit des Mittelmeers, aus dem Botticellis Venus entstiegen war. Das Kaspische Meer trug Trauerflor. Es versteckte sich hinter endlosen Mauern, die die Küste von West nach Ost und von Ost nach West säumten. Bloß die bonbonbunten Schindeldächer der Villen lugten hervor. Die postrevolutionäre Bauweise gipfelte – ganz im Gegensatz zur politischen Ideologie – in einem unorthodoxen Mix, in dem sich sämtliche Einflüsse aus dem Ausland zusammenfanden. Fernöstliche Pagodendächer stützten sich auf korinthische Säulen, aus dem Seitentrakt wuchsen Türme im Stil französischer Landschlösschen, und die gewölbte Abdeckung neben der Eingangstüre glich einem aus Disneyland nachempfundenen Pilz.
Der Daewoo mit dem Fahrer, den beiden Kindern und der Besucherin aus der Schweiz suchte nach einem Zugang zum Meer. Doch es hielt sich hinter Mauern versteckt. Die darauf gemalten Graffiti zogen an ihnen vorbei. Wären sie langsamer gefahren, hätte Olivia, die die Schrift noch nicht beherrschte, die Sätze erfahren können. Denn die Wörter entfalteten sich von rechts nach links, als wollten sie die Ausflüglerin ein Stück auf der Reise begleiten. Während die ersten Buchstaben noch neben ihr herliefen, entschwanden die folgenden bereits im Rückspiegel, bevor Olivia ihre Bedeutung erfassen konnte. Sie flogen ihr buchstäblich davon.
Ab und zu stand ein Eisentor offen, und das Auge erhaschte die Sicht auf einen Weg, der zu einem Stückchen Blau führte. Ein anderes Mal zeigte sich hinter Bougainvillea- oder Oleandersträuchern flüchtig der Ausschnitt einer Hausfassade mit vergitterten Fenstern. Die Besitzer waren über das Wochenende der Hektik Teherans entflohen. Oder sie kamen an den zahlreichen Trauertagen, die es nicht zuließen, dass der Alltag einen Rhythmus zum Tanzen fand.
Dann verbarrikadierten sich die Familien in ihren Villen hinter den Mauern. Manchmal beluden sie ihre Autos, um zu einem Picknickplatz im Wald oder an einen Wasserfall zu fahren, wo sie das Gleiche taten wie die anderen auch. Sie breiteten die Decken samt den mitgeführten Kissen aus, stellten die noch warmen Töpfe mit Khoresh9 darauf, legten Früchte und ganze Sträuße von Kräutern daneben und schoben sich die persischen Köstlichkeiten in den Mund.
Auf der löchrigen Straße, die pfeilgerade an den Mauern vorbeiführte, holperten die Busse, ein Auge zum Schutz gegen den bösen Blick in der Mitte über der hinteren Scheibe und darunter, gleich einer Beschwörungsformel: Ya Ali, Ya Mohammed, Ya Hossein10 und wie-die-Imame-alle-heißen. Blaue Viehwagen mit zusammengepferchten, von der Feldarbeit zurückkehrenden Menschen stellten sich den Personenwagen in den Weg, die links und rechts vorbeimanövriert wurden. Ein Lastwagen hatte unter dem Gewicht prall gefüllter Reissäcke, die sich fest aufeinandergeschnürt über die dreifache Höhe des Wagens stapelten, Schlagseite bekommen und drohte, auf die Fahrbahn zu kippen. Beim Überholen des schwergewichtigen Transporters wäre beinahe ein klappriges Motorrad zu Fall gekommen. Es kroch zirpend inmitten der Fahrbahn einher – sechs ungleiche Beinchen zur Seite gestreckt – und glich von hinten einer schwarzen, etwas havarierten Grille, die eine dunkle Rauchspur nach sich zog.
Die Achtsamkeit, die außerhalb des Autos den Umgang bestimmte, verpuffte gleich dem Dieselausstoß der Laster in der Luft. Niemand hielt sich an die Verkehrsregeln. Hinter dem Steuer, den Fuß auf dem Gaspedal, verschmolzen Fahrer und Fahrzeug.
Während sich der Tachometerzeiger bedrohlich 120 näherte, wies das Verkehrszeichen am Straßenrand auf eine Geschwindigkeitsgrenze von 50 km/h hin. Die Zahl glich einem auf den Kopf gestellten Herzen mit einem Punkt. «Hier ist alles umgekehrt», bemerkte Olivia etwas verwirrt.
Sie bogen in einen schmalen Sandweg ein und hielten vor der aufgeschütteten Düne, die angelegt worden war, um das Wasser daran zu hindern, sich ins Land zu fressen. Das Ufer maß nur ein paar wenige Meter, und auf den Steinen sammelte sich Strandgut: Flaschen, Plastiksäcke und die angespülte Kopie eines Markenturnschuhs Made in China. Links eine Mauer, rechts ein bis dicht ans Wasser reichendes rostiges Gittertor. Sie machten kehrt.
Plaje Chanewade stand über der Einfahrt zum Familienstrand. Ein Badestrand für die Familie? Endlich. Den Rand des Sträßchens, das ans Meer führte, säumten aneinandergereihte Verkaufsbuden mit gelben, rosa und lila Sonnenbrillen. Aus den Lautsprechern erhaschte Olivia die bedeutungsvollen Worte eines Sommerhits: Deleman tange, ich habe Sehnsucht, wörtlich: Mein Herz ist eng. Merkwürdig, dachte sie, während sich in ihrer Muttersprache das Herz bei Sehnsucht sehnte und dehnte und weit wie ein Meer wurde, zog es sich im Persischen zusammen!
Vor ihr lag das Meer, Dariya, weit, aber nicht breit. Es unterspülte eine Pfahlbauhütte, die mit Schilf bedeckt und auf mehrere Pfosten gestellt, herausragte. In der Hütte hingen einige Männer auf breiten Kissen herum, schlürften Tee und lüfteten ihre Füße. Ya Ali, ya Hossein, … ya Dari! Olivia kehrte das Meer einfach um, indem sie die beiden Silben des Wortes vertauschte, und reihte es ein unter all die männlichen Propheten. Dieser Akt weitete einen Moment lang ihr Herz. Er grenzte fast schon an Götzendienst.
Rechts erstreckte sich eingezäunt der Männerstrand, links, von grün-weiß-rot gestreiften Plastikplanen abgeschirmt, derjenige für Frauen. Da trennten sich ihre Wege. Er nahm den Jungen an der Hand, sie das Mädchen.
Nachdem sie die Verschalung passiert hatten, hinter der eine zugeknöpfte Frau in Schwarz mit dicken Brillengläsern sie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Durbin (Fotoapparat) verboten war, erblickte sie das abgegrenzte Quadrat. Ein verschmutztes Stück Sand – der Strand, und ein ebenso viereckiges, durch ein Seil gesichertes Stück Wasser. In ihm plantschten weißhäutige Frauen mit ihren Kindern. Sie zappelten in der trüben Flüssigkeit wie gefangene Fische im Kutter.
Im Sand ruhten ein paar Alte, den geblümten Tschador des Nordens locker um sich gehüllt, und stützten den Kopf auf den angewinkelten Arm. Eine Ummauerung, wo sich ein Mädchen im Dunkeln die Haare wusch, diente als Dusche.
Olivia zog Mantel und Hose aus, befreite sich vom Kopftuch und begab sich ins Wasser. «Durbin verboten», hatte die Wächterin gezischt und auf die Kamera gezeigt. Das Wort bekam seine ursprüngliche Bedeutung zurück, die Weitsicht heißt. Was sollte Olivia hier, wo es bloß Schranken gab, mit Weitsicht schon anfangen? Dort wo das Tau gespannt war, an dessen Überqueren die Badenden mit einem schrillen Pfiff des weiblichen Wachpersonals gehindert wurden, reichte ihr das Wasser bis knapp über die Hüften. Kein Platz zum Schwimmen, kein Platz für nichts, ein Unort dachte sie. Doch die anderen Frauen und Kinder lachten und freuten sich beim Spiel im seichten Tümpel.
Hinter der willkürlichen Grenze breitete sich ein Meer aus. Ya Dariya! Olivia wollte es umarmen. Sie wollte sich vor ihm niederwerfen, doch es, oder besser sie, denn das Meer konnte nur weiblich sein, kümmerte sich nicht darum, ob ein menschliches Wesen Dariya anbetete. Die Besucherin drehte sich um und kehrte an den unwirtlichen Strand zurück, wo sie sich ankleidete.
Das abgestandene Wasser, in das sie die Beine getaucht hatte, hatte den Geruch von verendenden Muscheln angenommen. Hinter der schwarzen Sonnenbrille fanden ihre Augen Trost. Oder war es eher so, dass die Sonnenbrille die anderen vor ihren ätzenden Blicken bewahrte? Es war egal. Das Mädchen stapfte durch den Sand hinter ihr her und schwieg.
Im Haus drehte Olivia den Kaltwasserhahn auf und stellte sich unter die Dusche. Das Wasser war lauwarm. Während der Strahl über sie rieselte, glaubte sie die Erklärung dafür gefunden zu haben, warum die Menschen in diesem Land keine Gelegenheit verpassten, sich bei gesellschaftlichen Anlässen etwas in den Mund zu stopfen. Sie verschluckte ihren Zorn und wickelte das zitronengelbe Badetuch um den nassen Körper. Mit tropfenden Haaren stand sie in der Küche, von wo aus sie in der Ferne das Kaspische Meer sehen konnte. Reflexartig griff sie sich eine Aprikose und biss in das reife Fruchtfleisch. Der aromatische Saft weitete die Mundhöhle. Gierig verschlang sie eine violett glänzende Dattel nach der anderen. Denn nur im Essen, das glaubte sie herausgefunden zu haben, konnte ihr Körper es sich erlauben, die Fassung zu verlieren und sich lustvoll und für alle sichtbar auszudehnen.