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Unterwegs zu den Versuchstieren

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Die Adresse des Opfers hatten sie schnell ermittelt.

Das war auch kein Kunststück mit dem Ausweis des Toten. Es war ein Mehrfamilienhaus in Münchenstein.

Name und Beruf der Ehefrau waren ebenfalls kein Problem. Sie hiess Lisa und arbeitete als Tierpflegerin in einer Pharma-Firma in Basel, wo Versuchstiere gehalten wurden.

Von Münchenstein bis zu den Talweihern ist es ganz schön weit ohne Auto. Jedenfalls war am Fundort des Toten kein Auto entdeckt worden. Der gefundene Rucksack mit Karte und Proviant deutete ja auch klar auf einen Wanderer hin.

‘Wie war er dort hin gekommen? Die ganze Strecke zu Fuss? Wohl eher nicht‘, fragte sich der Kommissar.

Die Frau des Toten, die Lisa, die könnte da sicher weiterhelfen.

Also wollten sie zuerst mal zur Frau des Toten fahren, sowohl um sie zu benachrichtigen, als auch um sie zu befragen. Eine unangenehme Aufgabe.

Auf der Fahrt kam ihr Gespräch auf die Ehe im Allgemeinen und seine im Speziellen.

„Seit über fünf Jahren waren die beiden verheiratet, laut Datum im Ehering“, meinte er. „Das ist ganz schön lange, heutzutage, wo sie so schnell wieder auseinanderlaufen.“

Der Assistent: „Du bist doch schon viel länger verheiratet.“

„Das kann man nicht vergleichen. Ich bin schliesslich ein Saurier, ich gehöre einer aussterbenden Gattung an.“

Es fiel ihm noch etwas ein.

“Ich war mal mit meiner Frau Möbel kaufen. Da sind wir mit dem Verkäufer auch durch die Schlafzimmerabteilung gegangen. Dort standen Billig-Betten und Schränke und ich habe gesagt: ‘das hält doch nicht lange‘. Weisst du, was der geantwortet hat? Er hat gesagt: ‘‚Oooch, für die kurze Zeit, die die heute verheiratet sind, reicht das.“

Der Kommisar dachte weiter nach, dann fragte er:

“Kennst du eigentlich die Bedeutung der Vorsilbe ‘ver‘? Das drückt aus, dass etwas verkehrt ist, man hat sich verwählt oder verfahren, man hat was verloren und so weiter. Immer ist dann was falsch.“

“Was soll das jetzt?“

“Überleg mal: man ist verheiratet.“

“Ist es so schlimm?“

“Nee, aber das bedeutet doch was. Bei dir müsste es vielleicht eher heissen ‘ich bin zerheiratet‘.“

“Du neigst zu Übertreibungen. Ich kenne deine Frau, so schlimm wird’s schon nicht sein, Ihr habt euch ja auch mal irgendwann gern gehabt.“

“Du weisst doch was Liebe ist?“

“Ja, stell dir vor. Ich habe auch ein Privatleben.“

“Dann weisst du ja: Liebe ist eine vorübergehende hormonale Störung, die den Verstand ausser Funktion setzt. In dieser Zeit gewöhnen sich die Partner aneinander und lernen ihre Fehler gegenseitig zu tolerieren.

Wenn das dann passiert ist, ist sie nicht mehr nötig.“

“Das hat was. Im Tierreich tolerieren sich in dieser kurzen Phase Tiere, die sich sonst sofort gegenseitig auffressen würden. Liebe ist also ein Überbleibsel unserer tierischen Vergangenheit.“

“Man sollte als Mann auch nicht sagen: ‘ich habe geheiratet‘, sondern ‘ich wurde geheiratet‘, das ist Passiv, die Leidensform.“

“Mir fällt noch eine perfide Frage ein.“

“Was denn?“

“Schlägst du deine Frau immer noch?“

“Was soll das?“

“Ganz einfach: sagst du nein, gibst du indirekt zu, deine Frau früher geschlagen zu haben. Sagst du ja, bist du sowieso erledigt.“

“Raffiniert.“

Die Wohnung in Münchenstein war leicht zu finden.

Die Klingel funktionierte nicht. Die Gegensprechanlage auch nicht. Bei Nachbarn klingeln wollten sie aus Pietät nicht.

Also nahm der Kommissar sein Handy und wählte die ebenfalls ermittelte Nummer.

Der Anrufbeantworter meldete sich. Das übliche bla, bla, bla … aber dann zum Schluss: ‘Sie können eine Nachricht hinterlassen. Ich rufe Sie sobald als möglich zurück. Pfeifen Sie nach dem letzten Sprechton …‘

“Voll der Schenkelklopfer“, sagte er zum Assistenten,

“dann müssen wir eben zu ihrer Arbeitsstelle.“

“Nach Basel, zur Pharma-Bude?“

“Genau, nach Basel, auf in die Stadt!“

Sie machten sich auf den Weg nach Basel.

Unterwegs hörten Sie Musik im Auto, genauer gesagt Oldies, nicht dieses moderne Zeugs, wo man bei vorbeifahrenden Autos immer ‚ups – ups – ups – ups‘ hört und den Eindruck hat, das Auto würde pulsieren und bei jedem ‚ups‘ breiter werden und dann wieder schmaler. Das waren ja eigentlich nur fahrende Lautsprecher.

Sowas empfanden sie nur als akustische Umweltverschmutzung. Sie hörten Oldies, das waren musikgewordene Erinnerungen und im Kopf tauchten zu jedem Song auch gleich die dazugehörigen Situationen aus einer lange vergangenen Jugend auf. Ach, ja …

Dann aber hörten sie einen kurzen Pfeifton, ihre Oldies wurden unterbrochen und es kam eine dringende Verkehrsmeldung. Das hörte sich ernst an.

Es war eine ganz, ganz dringende Glatteiswarnung für ihre Strecke: Blitzeis! Es hätten sich schon mehrere Unfälle ereignet. Streudienste seien noch nicht vor Ort. Die Polizei mahnte zu angepasster Geschwindigkeit, ausreichendem Abstand und generell zu äusserster Vorsicht. Von notwendiger Winterausrüstung war die Rede. Und als Extra-Empfehlung der Tipp, doch 10 Minuten früher von zuhause loszufahren wegen der extremen Verkehrslage, oder noch besser: heute gar nicht fahren.

Mit einem weiteren kurzen Pfeifton war die Meldung beendet und ihre Oldies wurden wieder gespielt.

Der Assistent sass wie versteinert in seinem Sitz, wie vom Blitz getroffen, nein, wie von zwei Blitzen getroffen, man konnte sehen, dass es in ihm denkt, leider noch ohne aussprechbares Resultat. Aber es arbeitete in ihm … Jelato bemerkte das und war schon schadenfroh.

Der Assistent fragte: “Was war das denn?“

Scheinheilige Gegenfrage: “Was?“

“Ja, diese Verkehrsmeldung, verdammt. Glatteiswarnung, Blitzeis, Winterausrüstung. Das ist doch irre! Was soll das? Wir sind mitten im Sommer, die Sonne scheint, wir haben 27 Grad, und zwar plus!“

Jetzt kam sein Auftritt. Bühne frei, Vorhang: der Kommissar zeigte mit gespielter Lässigkeit nach vorne auf das Armaturenbrett.

Der Assistent schaute und erstarrte schon wieder.

Dann benutzte er ein Schimpfwort aus dem Bereich der Fäkalsprache. Da war er aber voll reingelaufen.

Verdammt, das hätte er merken können, nein, merken müssen. Da hat ihn der Alte aber böse gelinkt.

Dieses alte Auto hatte noch ein Kassettenabspielgerät, ein Tape-Deck, und was sie gehört hatten, war eine Kassette. Im Winter vom Radio aufgenommen, eine ganze Oldiesendung, eine Stunde lang inclusive dazwischen gequatschter Verkehrsnachrichten. Was andere verärgert löschten, liess Jelato absichtlich drauf.

“Ich habe auch eine Kassette für den Winter“, meinte der Kommissar spöttisch. „Da sind Oldies drauf und die Wassertemperaturen vom Freibad und dass die Kinder irgendwo hitzefrei haben.“

“Das ist ja krank.“

“Es dient der Auflockerung – und es ist eine Art Intelligenztest.“

“Wie kommt man nur auf solche Ideen? Ist das heilbar? Wird das irgendwann besser?“

“Nein, haha.“

Sie waren fast am Ziel.

Die Firma war am grossen Logo von weitem zu erkennen. Einfach der Strasse am Rhein entlang, nicht zu verfehlen.

An der Porte brachten sie ihr Anliegen vor.

„Wenn Sie bitte hier warten würden“, sagte der Portier und telefonierte. Nach dem kurzen Telefonat stellte er ihnen Besucherausweise aus. Er erklärte ihnen den Weg und wiess darauf hin, dass sie die Ausweise nachher wieder abgeben sollten.

Sie gelangten zum betreffenden Gebäude.

Vor dem Gebäude sahen sie an einer Ecke Leute stehen. Er dachte an eine Stehung, man müsste ja wirklich nicht immer eine Sitzung abhalten. Oder war das eine sogenannte Ansammlung, eine Keimzelle für einen Volksaufstand, eine Verschwörung, ein konspiratives Treffen?

Das war es aber nicht. Es stieg Rauch auf. Habemus papam. Von wegen, nix da, habemus Zigarette!

Das war die Raucherecke, wie früher auf dem Schulhof, wo sie von fortschrittlichen Leuten eingeführt worden ist und von noch fortschrittlicheren Leuten Jahre später wieder abgeschafft wurde.

Die standen da und zogen sich gerade ihre Lungenbrötchen rein.

“Siehst du, das ist wahrer Fortschritt. Die Raucher werden in Zukunft nicht mehr an Lungenkrebs sterben.“

“Wieso?“

“Sie erfrieren im Winter im Freien.“

“Fortschritt hat viele Gesichter.“

Sie betraten das Gebäude.

Im Eingangsbereich hing ein grosses Bild an der Wand. In weisse Tücher gekleidete dunkle Gestalten in der Nacht, die erinnerten fast ein wenig an Ku Klux Klan. So um die 100 solcher Leute schlichen in einer langen Reihe an den Wändern der Häuser in einer Stadt entlang.

Darunter der Spruch:

Horig, horig, horig isch die Katz,

und wenn die Katz nit horig isch,

no fängt sie keine Mäuse! Horig, horig.

Der Assistent meinte: “Irgendwie mysteriös, und das Bild scheint mir unpassend in einer Versuchstierhaltung.“

Der Kommissar mit seinen deutschen Wurzeln erklärte dem Assistenten, was es damit auf sich hat.

“Das ist die alemannische Fasnacht auf der anderen Seite des Rheins, das kennst du halt nicht. Das sind die Hüüler von Bad Säckingen, ist ungefähr 40 km von hier weg, und was die machen, das heisst Ecken auslaufen.“

“Was soll der Katzenspruch?“

“Das ist ein ungelöstes Rätsel der Menschheit. In der Region hier haben sie es eben mit den Katzen. Sie verehren dort auch eine Dichterkatze, den Kater Hiddigeigei. Da musst du halt mal den „Trompeter von Säckingen“ lesen. Die haben nicht nur eine Scheffelstrasse, der hat es nämlich geschrieben, der Scheffel, die haben einen Hiddigeigei-Brunnen, ein Hiddigegei Hotel, eine Hiddigeigei Skulptur, eine Hiddigeigei …“

“Hör schon auf, ich werde ja selber noch ganz Hiddigeigei.“

“Jaja, aber in dem Gedicht gibt es eine Stelle, die würde viel besser hierher passen.”

Er zitierte:

“Ach, das Leben birgt viel Hader

Und schlägt viel unnütze Wunden,

Mancher tapfre schwarze Kater

Hat umsonst den Tod gefunden”

Soviel Bildung hätte der Assistent dem Kommissar gar nicht zugetraut. Der Alte überraschte ihn immer wieder, heute schon zum zweitenmal.

“Das würde wirklich besser zu den Versuchstieren passen, dürfte aber sicher nicht aufgehängt werden.“

“Pass nur auf. Man erklärt uns sicher gleich, dass hier jede Katze gerne Versuchstier wäre, und dass es wahrscheinlich lange Wartelisten für die Katzen draussen gibt.”

“Ich glaube, sie verkaufen unter anderem Rattengift in ihrer Geschäftssparte namens Tiergesundheit. Da muss man auch erstmal drauf kommen.”

Sie wurden bereits vom Vorgesetzten der Frau erwartet.

Das Büro war eingerichtet wie eben geschäftliche Büros eingerichtet sind.

Jelato analysierte es blitzschnell.

Handy vorhanden, Notebook auf dem Tisch, kein überragendes Kunstwerk an der Wand, kein Teppich, etwa 15 Quadratmeter Bürofläche, keine eigene Sekretärin. Also mittleres Management.

Er war nicht hierarchisch orientiert, im Gegenteil, das werden wir noch sehen, aber er wollte immer möglichst schnell wissen, wer ihm gegenüber sitzt.

Dann das übliche Bild einer dümmlich grinsenden Geschäftsleitung mit einem Stück Papier vor sich, wahrscheinlich so ein ISO-Zertifikat aus der früher grassierenden ISO-Zertifizierungswelle, oder Supplier of the year oder ähnlicher Käse.

‘Das soll die Quelle der Innovation hier sein? Die sehen ja aus wie ein Anti-Beatles-Komitee aus den 60er Jahren, alle im dunklen Anzug, wie bei einer Beerdigung und dann dieses lächerliche Stück Papier‘, dachte er.

Ein merkwürdiges Objekt auf dem Schreibtisch, nicht ganz klar, was das sein soll, mit einer Gravur. Er vermutete sowas wie Employee of the month, also die englische Form von Held der Arbeit, für 150-prozentige Planübererfüllung.

Sie erklärten zum zweitenmal, weshalb sie hier waren.

Der Vorgesetzte, der sich nun sehr wichtig vorkam, lies die Frau rufen.

“Die Lisa soll doch mal kommen, es ist dringend!“

Katzenschwund

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