Читать книгу Katzenschwund - Reinhard Kessler - Страница 8
Tag 1 Frühstück
ОглавлениеGestern war es wieder spät geworden. Das war dem Wecker aber egal, ekelhaft egal. Auf irgendwelche Alphawellen und REM-Phasen nahm er keine Rücksicht, niemals, hatte er noch nie, wird er auch nie. Das ist das Wesen des Weckers. Das ist sein Job. Der zieht das durch.
“Wenn der Tag schon so anfängt“, beschwerte sich der Kommissar bei seiner Frau, die sich aber grummelnd erstmal herumdrehte, das Signal ignorierte und was von ‘nur 5 Minuten weiterschlafen’ murmelte.
“Man sollte den blöden Wecker ersetzen durch eine Kaffeemaschine mit Zeitschaltuhr. Dann wäre der Krach etwas geringer und wir hätten gleich Kaffee am Bett.“
“Das wäre lässig.“
Er setzte sich auf und zog aus Gründen der Bequemlichkeit schon mal die Socken an bevor er ins Bad ging.
Seine Frau hatte ihm solche neumodischen Sportsocken gekauft, solche, wo nicht mehr jede Socke an jeden Fuss passt, sondern nur die rechte Socke an den rechten Fuss und die linke Socke an den linken Fuss. Deshalb waren diese Socken auch gekennzeichnet und zwar sinnigerweise mit L und R – normalerweise.
Er schaute seine Socken entgeistert an und entdeckte L und L. Das war ein Schicksalsschlag. Er war fassungslos.
“Was hast du mir denn da gekauft? L und L?“
“Die waren verpackt, da konnte ich nicht reingucken.“
Er bemerkte aber, dass die Socken trotz der Beschriftung korrekt passten, genau wie es sein soll, je eine genau rechts und eine genau links.
„Du, die kommen bestimmt aus China. Die können doch kein R sprechen und die Socken heissen deshalb L und L, Lechts und Links.“
“Dann brauche ich sie ja nicht umzutauschen.“
“Und wie ziehe ich mein Hemd an? Linkslum odel lechtslum?”
“Nelv nicht!”
“Was hast du mir denn da gekauft? L und L?“
“Die waren verpackt, da konnte ich nicht reingucken.“
Damit war die Wachphase eingeläutet und alles ging seinen morgenritualhaften Weg. Man traf sich beim Frühstück wieder.
Beim Kaffee blätterte er in der Zeitung. Bei jedem Artikel gab es zynische Bemerkungen, jeden Tag, seit Jahren. Es ging nicht anders. Es gab ja auch jeden Tag etwas in der Zeitung, was sein Verhalten provozierte.
Nur nicht sonntags, da kam keine Zeitung.
Er war eben ein Zyniker. Das sind ja bekanntermassen Menschen, die sich weigern die Welt so zu sehen, wie sie sein soll. Denen fehlt also eigentlich nur die rosarote Brille.
Auch heute.
Und so kommentierte er die Kommentare, und die anderen Artikel, ohne eben diese Brille.
“Ha, diese Touristen-Plage! Stell dir vor, jetzt stehen sie 17 km im Stau vor dem Teutonenbeschleuniger.“
Teutonenbeschleuniger war seine Bezeichnung für den Gotthard-Tunnel. Da werden die Deutschen und Holländer in Richtung Tessin und Italien beschleunigt und kommen am anderen Ende hochbeschleunigt und energiegeladen raus, gerade recht für die Ferien. Und weil sie hochbeschleunigt aus der Röhre kommen, hat es selbstverständlich Radaranlagen dort, für Begrüssungsfotos, wie im Europa-Park auf der Achterbahn.
Erinnerungsbilder der besonderen Art, etwas überteuert, aber gestochen scharf. Schweizer Qualität in der Zeitmessung, praktisch umgesetzt mit deutscher Qualitätsoptik.
Er war diesen Leuten insgeheim dankbar, senkten sie doch auf diese Weise mit ihren Spenden seine Steuerlast.
Er las weiter.
“Hier: das Neuste aus dem Narratorium. Das musst du lesen: sagt doch eine Bundesratte auf eine konkrete Frage eines Journalisten: ‚Ich habe dazu noch keine Meinung, ich muss mich erst noch positionieren‘. Das heisst doch wohl, erst mal gucken, wo die Mehrheit sitzt oder auf die Lobbyisten warten, welchen Verwaltungsratsposten sie mir anbieten. Dann lege ich mir auch eine dazu passende Meinung zu.“
Seine Frau hörte nicht hin und schon gar nicht, wenn er wieder mit Politik anfing. Mit Narratorium und Bundesratten konnte er nur die Regierung und die Bundesräte meinen, obwohl er sonst immer die sieben Zwerge sagte.
Sie hasste Politik genauso wie Werbung. Grosse Versprechungen und dann kommt das böse Erwachen. Und immer kostet es am Schluss Geld.
Sie hatte anderes zu tun. Sie machte eine Keinkaufsliste für den Tag. Weil sie immer so grosse Einkaufslisten anfertigte, hatte er vorgeschlagen, in Zukunft doch eine Keinkaufsliste zu machen, wo man nur die Sachen aufschreibt, die nicht gekauft werden. Eine solche Liste wäre dann ja wohl wesentlich kürzer.
Sie hatten auch aus Gründen der Selbstdisziplin sogar einen Keinkaufstag eingeführt. Einmal pro Woche bewusst kein Geld ausgeben, nix, gar nix, zero money day. Nicht mal tanken. Auch nicht mit Plastikkarte.
Er hielt sich aus der Liste raus und fragte nur unvermittelt: “Weisst du eigentlich, wieso Hamster gegen Katastrophen helfen?“
Sie hatte nicht hingehört und antwortete: “Milch brauchen wir noch. Die darf ich nicht aufschreiben. Was hast du gesagt?“
“Ja, also die Leute glauben, wenn was Schlimmes passiert, dann helfen Hamster.“
“Was soll das denn?“
Er las schlagzeilenmässig vor: “Wegen des drohenden Tornados in Amerika kam es gestern zu Hamsterkäufen“. Und hier: “Hamsterkäufe wegen politischer Spannungen in …“
“Ach, du wieder …“
“Nein, sowas muss man ernst nehmen. Vielleicht unterschätzen wir alle diese putzigen kleinen Nager“, antwortete er mit breitem Grinsen.
“Wir sollten uns vielleicht auch rechtzeitig einen Hamster kaufen. Oder der Zivilschutz sollte das wenigstens tun.“
Der Kommissar war in der Nachbarschaft als zuverlässig, aber auch als manchmal merkwürdig bekannt.
Schon kurz nachdem sie in diese Wohnung in Liestal eingezogen waren, regte sich Misstrauen.
Die Ursache dafür war er selber. Er hatte die Angewohnheit, jedesmal wenn er den grossen 110 Liter Abfallsack** vor die Tür stellte, laut zu sagen: “Giovanni, man stellt sich nicht gegen die Familie …“, und er trug den Abfallsack immer über der Schulter raus.
Das wurde natürlich von der Umgebung wahrgenommen und selbstverständlich weiter verbreitet und heftig diskutiert.
Bei dem ortsüblichen Humor war eine harmlose Erklärung für sowas ausgeschlossen.
Es wurde gemunkelt. Er wurde solange mit Argwohn beäugt bis die Mitbewohner erfuhren, was sein Beruf war. Vielleicht hatte man auch mal seinen Abfallsack durchsucht.
An seiner Sprache bemerkten sie, dass er irgendwie deutsche Wurzeln haben müsse und fragten ihn auch gelegentlich, wie es ihm denn in der Schweiz gefalle.
Je nach fragender Person gab er denn auch schon mal verschiedene Antworten. War die Person eine Frau und höflich, so antwortete er: “Sehr gut, sehr gut.
Hier ist alles ein bisschen menschlicher und gemütlicher. Zum Beispiel, wenn ich hier einen Brief wegschicke und ich habe zuwenig Briefmarken draufgeklebt, dann wird er trotzdem befördert. Ich habe dann zwar einen Tag später einen Zettel von der Post im Briefkasten, dass ich noch sagen wir mal 50 Rappen nachzahlen soll. Aber der Brief wird befördert. In Deutschland kommt der Brief mit bissigem Kommentar einfach wieder zurück.“
Er konnte es natürlich auch nicht unterlassen darauf hinzuweisen, dass man wohl bei Unterfrankierung nachzahlen müsse, allerdings bei Überfrankierung niemals Geld zurück bekäme. Da müsste die Post noch dran arbeiten.
Sein Gerechtigkeitsempfinden war eben hoch entwickelt.
Daraus entstanden manchmal interessante Gespräche derart, dass man bei zu schnellem Fahren mit dem Auto wohl eine Busse von 100 Franken zahlen darf, er aber noch niemals erlebt hat, dass man bei entsprechender langsamerer Fahrweise mal als Belohnung 100 Franken zurück bekäme.
Er führte das auf eine latent vorhandene landesübliche Geldgier zurück.
War der Fragende aber ein etwas dünkelhafter Schweizer, dann lautete seine Antwort etwa so: “Ach, mir gefällt es gut. Wir haben schon so viel erreicht seit ich als Entwicklungshelfer hergekommen bin. Mich stört halt nur, dass die Kinder hinter dem Auto herrennen und um Süssigkeiten betteln, wenn ich durch ein Dorf fahre.“
Das stimmte zwar nicht, aber die Antwort erfüllte ihren Zweck. Er wurde spätestens ab dann von diesen Menschen nicht mehr belästigt.
Sein Verhältnis zur Schweiz war zusammengefasst insgesamt positiv mit geringen Abstrichen. Er hätte also eigentlich auch Schweizer sein können, war er ja auch irgendwie, so doppelbürgermässig jedenfalls.
In Schulnoten ausgedrückt war sein Befinden so bei 2-, wobei 2- eine deutsche 2- war, in schweizer Schulnoten ausgedrückt wäre das eine -5 (ausgesprochen “bis fünf”). Diese umgekehrte Zählweise bei den Schulnoten nannte er umgekehrte polnische Notation**, was natürlich nicht korrekt war. Aber das kannte er von seinem alten Taschenrechner, also von seinem sehr alten Taschenrechner, also eigentlich noch älter, kurz nach dem Abakus.
Auf jeden Fall führte dieses Benotungssystem dazu, dass seine deutschen Besucher permanent Schüler in ihrem Leistungsvermögen falsch einschätzten.
Da konnte es dann schon mal passieren, dass sie seinem Sohn für schlechte Leistungen kleine Belohnungen zukommen liessen und ihn ausgiebig lobten.
Der hielt natürlich den Mund und brachte die Beute schnell in sein Zimmer in Sicherheit.
Die Tochter mit den sehr guten Noten erhielt dagegen den dringenden Rat, sich mal auf den Hosenboden zu setzen und zu lernen. ‘Es soll ja mal was aus dir werden, Mädchen‘.
Wenn der Besuch dann weg war, sorgte der Vater aber wieder für Gerechtigkeit, er hatte ja wie gesagt ein hohes Gerechtigkeitsempfinden.
Das war aber oft genug nur noch teilweise möglich, denn der Sohn hatte seine Belohnung in weiser Voraussicht meistens schon aufgegessen.
Das zog dann jeweils die Rache der Tochter nach sich und der Familienfriede war extrem gefährdet.
Die Tochter hatte sowieso einen geheimen Groll gegen den jüngeren Bruder. Sie konnte einfach nicht verstehen, wieso ihr Buder vor ihr im Jahr Geburtstag hatte, obwohl er doch nach ihr geboren war. Das empfand sie als hochgradig ungerecht. Sie als Ältere müsste ja wohl gefälligst als erste im Jahr mit den Geschenken an die Reihe kommen.
Das hatte sich erst im schulpflichtigen Alter langsam gelegt, war aber im Unterbewussten latent immer auch im Erwachsenenalter noch als Teil ihrer bitteren Kindheit vorhanden. Solchermassen misshandelte Kinder verzeihen zwar, aber vergessen nie. Dafür sorgt schon die Tatsache, das diese Geschichte bei jedem Familientreffen wieder aufgewärmt wird.
Inzwischen kannten ihn alle Nachbarn und er auch sie. Dass sie beim Grüssen immer den Namen mit erwähnten (‘Grüezzi, Herr Jelato‘), war ihm am Anfang peinlich, da er ihre Namen noch nicht so aus seinem Speicher abrufen konnte. Aber jetzt funktionierte das, die Namen waren im Langzeitgedächtnis abgelegt und wären eventuell sogar in hohem Alter noch präsent. Man wird sehen.
Er und seine Frau waren ruhige Mitbewohner, besonders seit die Kinder aus dem Haus waren. Dass ab und zu ein Polizeiauto vor der Tür stand, war für alle gewöhnungsbedürftig.
Am Anfang fragten sie sich, was wohl Schlimmes passiert wäre und der Abfallsack Giovanni kam ihnen wieder in den Sinn.
Später dachten sie vor allem an den Langhaarigen im dritten Stock. Dem trauten sie einiges zu. Jemand meinte, dass wäre bestimmt der neue Wirt vom Fixerstübchen. Und seine Freundin hatte eine Tätowierung, man stelle sich vor!
Da sie in der Zeitung von verschwundenen Katzen im Oberbaselbiet gelesen hatten und sie natürlich keine Vorurteile hatten, nannten sie ihn heimlich Katzenesser**. Aber auch Menschenhandel oder mindestens Drogenschmuggel oder Ähnliches schien ihnen sehr wahrscheinlich.
Sie hatten auch scharfsinnigerweise bemerkt, dass dort im dritten Stock nur geduscht wurde, wenn jemand gerade im vierten Stock auch duschte.
Als sie den Langhaarigen mal ganz vorsichtig darauf ansprachen, meinte dieser, dass er dadurch Strom spart. Schliesslich sei dann die Warmwasserleitung aus dem Keller bis zu ihm in den dritten Stock schon mit warmem Wasser gefüllt und er könne so helfen, Energie und Geld zu sparen. Ausserdem sei der sparsame Umgang mit Energie ein edles Ziel und würde gefördert.
Sie waren überrascht, dass ein potenzieller Drogenschmuggler zu solchen Gedanken fähig war.
Er war aber noch zu ganz anderen Dingen fähig.
So erzählte er seinen verdutzten Nachbarn nach und nach weitere Merkwürdigkeiten. Wenn er beispielsweise unerwünschte Werbung mit leerem, aber frankiertem Rückantwortkuvert erhielt, so füllte er dieses Kuvert randvoll mit Altpapier und schickte es zurück an den Absender. Später ergänzte er dann mal, dass er das auch mit unfrankierten Kuverts macht. Dann zahlt halt der Empfänger Strafporto – und zwar ordentlich.
Das war seine persönliche Rache wegen der Belästigung durch unbestellte Werbung. Er stellte sich die Szene vor, wie der Brief mit dem Altpapier von einer fassungslosen Sekretärin in irgendeinem Büro geöffnet würde und welchen Gesprächsstoff das dann lieferte. Da müsste also auch dem letzten Mohikaner klar werden, dass der angestrebte Werbeeffekt definitiv nicht erreicht worden ist und der Adressat der Werbung sich womöglich belästigt gefühlt hat.
Der Langhaarige war so gesehen ein auf Ausgleich bedachter, gerechter Mann. Für ihn war das eine Frage der Ehre: beschenkte man ihn mit Müll, so revanchierte er sich mit einem grösseren Gegengeschenk. Er hatte diesem Ritual auch einen Namen gegeben: Müll-Potlach. Da bei diesem indianischen Brauch der Ruf des Schenkenden mit der Grösse des Geschenkes wächst, bildete er sich wohl ein, bald einmal als spiritueller Häuptling anerkannt zu werden.
Die Nachbarn hatten dann aber mit der Zeit doch gemerkt, dass nur der Kommissar gelegentlich mit dem Polizeiauto abgeholt wurde, nicht aber der Langhaarige. Ein Kollege hatte den gleichen Weg zur Dienststelle und wenn der Einsatzplan es zuliess, fuhr man eben zusammen.
An seine wechselnden Arbeitszeiten hatte man sich inzwischen auch gewöhnt. Heute musste er um neun Uhr los und hatte am Nachmittag bereits einen neuen Fall.
Sie mussten ins Biberland zu den Talweihern, irgendwo in der Pampas, im Wald im Oberbaselbiet, wo auch immer das ist.
Es gab einen Leichenfund mit ungeklärtem Hintergrund. Mord, Selbstmord, Unfall, natürliche Todesursache? Das musste geklärt werden und sie waren gefordert. Sie, das waren er und sein Assistent.