Читать книгу Die Aggregate der Freiheit und Der Traum vom Ich und Ich - Reinhard Ost - Страница 5
Automobil Das Aggregat der Freiheit ist ein Automobil.
ОглавлениеZweifellos ist der Autoverkehr im Dickicht großer Metropolen einer der bedeutendsten Stressfaktoren für die Stadtmenschen, die sich tummeln müssen. Im dichten Verkehr wird praktisch jeder zum Mitfahrer im Automobil, auch wenn er nur zu Fuß auf dem Bürgersteig spazieren geht.
Dem einzelnen Fahrzeughalter ist klar, dass er zwar frei, autonom und mobil ist, vielleicht sogar einigermaßen sicher und abgeschirmt von der Öffentlichkeit, aber zu seinem Missfallen ist er auch abhängig von der Straßenverkehrsordnung, von den Mitmenschen, die alle ähnliche Ziele wie er verfolgen. Der tumultartige Verkehr an der Straßenkreuzung, das notwendig rechts-förmige Verkehrsverhalten, das unmögliche Benehmen anderer Verkehrsteilnehmer können Stresspusteln hervorrufen und führen nicht selten zu offener Aggressivität.
Nicht nur als Autofahrer, Fahrradfahrer oder Fußgänger, sondern auch als Bewohner eines Hauses an der Hauptstraße, fühlt man sich wie unter Strom gesetzt, schon wenn man das Fenster öffnet und frische Luft einatmen will oder mit seinen Kindern durch die Haustür auf die Straße tritt. Der Asphalt der Fahrbahn ist nicht weit entfernt. Auf dem Bürgersteig laufen Menschen hektisch im Slalom um ihre Mitbürger herum. Man hält seine Kinder, wenn sie noch ganz klein sind, fest an der Hand, damit sie sich nicht losreißen und möglicherweise unter die Räder kommen. Sodann werden sie von einem Passanten angerempelt, der glaubt, die Vorfahrt zu besitzen. Der Verkehr erscheint als Natur zivilisierten Lebens. In London stehen leider sehr wenige Bäume in den Häuserschluchten der Straßen, in Berlin dagegen relativ viele. Wenn ich einen Hund hätte, würde ich mich zweifellos eher in Berlin niederlassen und Gassi gehen wollen.
Schließlich steigt man mit seinen Kindern ins eigene Automobil, um sie zur Schule oder in den Kindergarten zu fahren, kurz bevor man den Weg zu seiner eigenen Dienststelle antritt. Es ist Anschnallpflicht. Aber bevor man seine Kinder im Auto anschnallt, sollte man sorgsam darauf achten, dass sie von der Bürgersteigseite aus ins Fahrzeug steigen und nicht etwa von der Fahrbahnseite, denn das könnte mitunter lebensgefährlich werden.
Es ist ein Wunder, dass so wenig passiert, denkt man häufiger. Lediglich drei Unfälle hat das Berliner Polizeipräsidium am Donnerstagmorgen veröffentlicht. Zwei Kinder wurden von Autos angefahren, ein Erwachsener achtete nicht auf die Straßenbahn und wurde schwer verletzt. Diese drei Unfälle seien für die Entwicklung typisch, sagt der Polizeipräsident, der gerade die Unfallbilanz der Verkehrsverwaltung aus dem Jahr 2013 vorstellt. Verletzt oder getötet werden vor allem die Schwächsten, sagt er, also die Fußgänger und die Radfahrer. Dabei sei die Zahl der Verkehrstoten in Berlin auf einen neuen historischen Tiefststand gesunken. Im Jahr 2013 starben 37 Menschen auf den Straßen, im Jahr zuvor waren es 42. Unter den neuen Toten waren 14 Fußgänger und neun Radfahrer. 1995 waren es dagegen noch 143 Tote, also das Vierfache. Positiv sei die Entwicklung aber nur bei den Toten, so der Polizeipräsident. Die Zahl der Schwerverletzten stagniere seit vielen Jahren bei etwa 2000. Das vom Senat 2004 verkündete Ziel, die Zahl der Schwerverletzten um 30 Prozent senken zu wollen, sei bislang leider klar verfehlt worden. Die im Jahr 2013 gestarteten Sonderkontrollen, wegen der vielen beim Abbiegen verletzten bzw. getöteten Radfahrer, sollen fortgesetzt werden. Dabei seien innerhalb eines Jahres schon 5100 Autofahrer beim riskanten Abbiegen erwischt worden. Allerdings, bei den Kontrollen für die Radfahrer seien auch 14 000 radelnde Rotlichtsünder angehalten worden.
Wenn man im Auto sitzt, gibt es Hunderte von Möglichkeiten, vom Verkehr abgelenkt zu werden und die Konzentration zu verlieren. Das Handy klingelt plötzlich, während der Vordermann auf der Straße abrupt abbremst. Die Zigarette fällt dem Raucher aus der Hand, und er ist geschwind bemüht, sie unter dem Fahrersitz hervorzuzaubern, um einen Brandfleck zu vermeiden. Die Kinder quengeln auf den Rücksitzen, weil sie vielleicht an ihre nächste Mathematikarbeit in der Schule denken. Der mutige Autofahrer dreht sich nach seinen Kindern um und redet beruhigend auf sie ein. Dann könnte es blitzschnell krachen.
Wenn Herr und Frau Schulze, er ist 60 Jahre alt, und sie sieht immer noch zwei Jahre jünger aus, nebeneinander im Auto sitzen, erzählt Herr Schulze seiner Frau, was er in der letzten ADAC-Zeitschrift am Abend zuvor gelesen hat. Frau Schulze interessiert sich zwar wenig oder gar nicht dafür, aber sie hört zu. Im Auto kann man nicht weghören. Der Allgemeine Automobil-Club Deutschlands (ADAC) sei der mächtigste Verein und der größte Lobbyist im Land, erzählt Herr Schulze. Zweck des ADAC-Clubs sei die Wahrnehmung und Förderung der Interessen des Kraftfahrtwesens, des Motorsports und des Tourismus. Er böte besondere Dienstleistungen an und vertreibe Stadtpläne und Straßenkarten. Außerdem würden inzwischen viele Fahrsicherheitszentren vom ADAC betrieben werden, sagt Herr Schulze. Das sei sehr gut. Die Pannenhilfe bleibe aber für jeden die bekannteste Dienstleistung des Clubs.
Die Ampel steht wieder einmal auf Rot, immer gerade dann, wenn man selbst über die Kreuzung möchte. „Wieso kann man die Ampeln nicht besser koordinieren?“, denkt Herr Schulze. Dann steht wieder ein Lastwagen in zweiter Spur, der seine eigene Geschwindigkeit arg reduziert. In solchen Augenblicken wirken Freiheit und Autonomie im Automobil sehr belastend und einschränkend. Das gilt für jeden Einzelnen und somit auch für alle.
Blah, blah, wird der eine oder die andere sagen. Das ist eben die Zivilisation, der Fortschritt und die Dynamik der modernen Zeit. Die Dorfbewohner in der Brandenburger Prignitz dagegen, fast wie in einem fremden Land, rümpfen möglicherweise irritiert die Nase. Der Verkehr auf ihren Straßen und vor ihren Häusern, hat sich statistisch betrachtet lediglich um zwei Fahrzeuge am Tag erhöht. Aber auch sie denken immer häufiger daran, dass man alles Notwendige tun müsse, um die Sicherheit von Kindern gewährleisten zu können. Die Zahl der Verkehrstoten auf einer Straße in der Prignitz im Verhältnis zu denen in einer großen Stadt ist allerdings verschwindend gering.
Die Freiheit im Straßenverkehr verwandelt sich in unendlich viele kleine und große Sicherheitsfragen. Für alle ist sonnenklar: Auf dem deutschen Lande ist es genauso wie in der Einöde US-Amerikas, in Texas oder Kalifornien zum Beispiel. Man benötigt dringend ein Fahrzeug, je mehr Fahrzeuge, je größer und stärker desto besser. Die Entfernungen wären sonst endlos. Jeder würde ohne ein vernünftiges Transportmittel seinen Kaufkraftwegesummenminimalpunkt verfehlen. Die Schweine- und Geflügellasttransporter braucht man dringend, wegen der Versorgung. Die Feuerwehr muss Brände löschen. Die Oma muss in ihrem alten Häuschen am Stadtrand tagtäglich betreut werden. Und überhaupt: die Eisen- und Autobahnen, die Erfindung des Rades, die Lastschiffe, die Ozeanriesen, die Flugzeuge und die Raketen. Was wäre die Welt ohne alle diese nützlichen Fahrzeuge? Flugzeuge können Menschen über Tausende Kilometer hinweg um den ganzen Erdball fliegen. Am Zielflughafen angekommen, steigt man dann flugs wieder in ein Auto, ein Taxi vielleicht. Die Menschen werden, historisch betrachtet, räumlich immer beweglicher, immer mobiler und internationaler. Niemand, aber auch wirklich niemand, kann ernsthaft etwas dagegen sagen. Dieser Fortschritt bedeutet Freiheit, so sagt man. Er ist Bewegung und Mobilität. Kultur ist Freiheit, durch die Freiheit des Reisens, des Entdeckens, des Forschens, der Menschenvernetzung. Krieg führen erscheint als eine ganz besondere Art von Freiheit und Mobilität, für die Gewinner jedenfalls, eventuell, manchmal. Ohne die Seidenstraße jedenfalls und ohne die Reisen Marco Polos würden wir Menschen noch in der Steinzeit leben, sagt mein Freund Rudi immer. Jetzt erst versteht man die wirklichen Gründe für die Macht des ADAC.
Hinter mir im Auto drückt der 22 Jahre alte Achmed aus Tunesien in seinem Opel Corsa kräftig auf die Hupe. Es geht ihm nicht schnell genug voran. Er gibt anscheinend mir, seinem Vordermann, die Schuld dafür.
Freiheit und Mobilität haben eigentümliche Eigenschaften, denn wenn alle Menschen zugleich frei, mobil und autonom sind, wird die Freiheit zum Massenphänomen. Dann wird das Automobil ein Aggregat der Freiheit, wie ich noch ausführlicher erläutern werde.
In allen Poren des gesellschaftlichen Lebens sucht sich die Erfindung des Aggregats ihren Nährboden. Es scheint zwar ein technologisches Produkt zu sein, aber es ist eben auch die Summe persönlicher Bedürfnisse. Es ist die Idee und die Erfindung von universeller Beweglichkeit. Viele nennen das inzwischen auch Demokratie. Der streng islamische Gottesstaat nutzt ein spezielles Aggregat, um an die Macht zu kommen und dort zu bleiben, um sie zu verewigen. Die große Freiheit und die vielen kleinen Freiheiten, die die Menschen in der Gemeinschaft der Selbsthilfegruppen ihrer Religionen zu erkennen vermögen, sollte man nicht geringschätzen. Die Zukunft wird diese Freiheit und Autonomie vielleicht eines Tages hinwegfegen, wie eine lästige Fliege, die einem auf der Nase herumtanzt.
Fest steht: Der Einheimische wird sich immer stärker auf viele Automobile, viele Touristen und andersartige Mitbewohner einstellen müssen. Er wird ihnen etwas anbieten und verkaufen wollen. Abschottung? Das geht nicht mehr. Zurückrudern? Geht gar nicht mehr. Kambodscha, Nordkorea, Nigeria, China, Russland, Europa und Amerika werden kaum Umwege beschreiten. Der Markt und die Handelsabkommen dienen nur einem Zweck. Sie verstetigen die Automobilisierung.
Diese Aggregation der Freiheit braucht Politik, Wirtschaft und Religion. Umgekehrt brauchen diese Entwicklungsbereiche auch die Erfindung des Aggregats. Man kann zweifellos alles sehr unterschiedlich benennen und ausschildern, wie die Ordnungsmaßregeln im Straßenverkehr, die maßregeln aber auch ordnen. Ebenso sind die demokratische Verfassung, die Diktatur des Proletariats, die Ständeherrschaft, der Mormonen-Club im Salt-Lake-City-Tempel, der Automobil-Club von Deutschland und auch der Anarchismus ein bestimmtes Maß vorgebende Regeln.
Bei allem geht es um persönliche Freiheit, um die eigene Einsicht in selbst begründete „Notwendigkeiten“, wie wir schon seit Kant und den Aufklärern wissen. Es geht darum, sich eine möglichst autonome und selbstbestimmte Ordnung zu schaffen und die Eigenregeln entsprechend anzupassen bzw. deren Einhaltung zu beaufsichtigen. Religionen sind auch in diesem Sinne keine Rauschmittel fürs Volk, sondern sie sind das Volk oder der Stamm selbst, die einen bestimmten Glauben an die Aggregation von Freiheit haben. Wie trostlos wirken die vielen ideologischen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen Gläubigen und Andersgläubigen in der Ukraine, in Syrien, im Irak, in Tibet oder sonst wo auf der Erde. Die Welt wird freier und freizügiger werden, hoffte einst der deutsche Philosoph Hegel, als eine historische Gesetzmäßigkeit gewissermaßen, wie er meinte. Die Einzelnen, die Gruppen, die Länder und die Völker sollen immer aggregierter in Sachen Freiheit werden. Freiheit und Freizeit als grenzenlose Beweglichkeit ist längst mehr als eine Utopie. Es gilt, so erscheint es, durch immer mehr Tempo die Entwicklung zu beschleunigen, ob mit oder ohne Krieg und Gewalt.
Am unfreisten sehe ich, ganz persönlich, den Juristen in der Provinz, der sich an einzelnen Verkehrsstrafzetteln seiner Klienten abarbeitet oder den einzelnen Polizisten, der vielen demonstrierenden Studenten auf der anderen Seite der Barrikade gegenübersteht. Diese drohen ihm Prügelstrafe an, weil sie ihn als Macht falscher Freiheitsordnung sehen. Die Völkerrechtler hingegen scheinen wirklich frei und mächtig zu sein. Völkerrechtler können ganze Volksgruppen umher schieben und enge Grenzen ziehen, in denen die Menschen angeblich leben wollen oder sollen. Beim genaueren Hinsehen stimmt das aber mit der Freiheit der Völkerrechtsjuristen nicht ganz. Sie sind nur deshalb frei, vielleicht freier als alle anderen, weil sie sich um die Definitionen von freiheitlichen Ordnungen und Regeln in einem größeren Rahmen kümmern. So sind sie deshalb frei, weil sie genauer und besser wissen, warum und zu welchem Zweck die Ordnungen und Regeln für die Freiheit überhaupt existieren. Sie erklären uns, warum man die Regeln einhalten muss und wissen sogar, wie man sie eventuell im Interesse von Kunden umgehen kann. Sie haben die große Freiheit der einschränkenden Phantasie, die sich an Ländergrenzen festmacht.
Mörder gehören zu den unangenehmsten unter den freien Aggregierten. Sie nehmen sich Rechte heraus, die ihnen niemand gewährt. Sie verhalten sich rechtswidrig. Dafür werden sie weggesperrt.
Die Strafrechtler erscheinen als notwendigste aller Juristen, die selten nur in Zweifel gezogen werden, weil sie sich um die Bestrafung von Mördern kümmern, die das wichtigste Gebot nicht einhalten: Du sollst nicht töten. Durch Strafrecht können Zuwiderhandelnde verurteilt oder sogar hingerichtet werden. Kriminalromane und Actionfilme sind genau deshalb so beliebt unter den Menschen. Sind doch dort meistens die Guten am Ende die Erfolgreichen, die Polizei und die Staatsanwaltschaft, die einen Mörder seiner gerechten Strafe zuführen. Allerdings sterben viele der Mörder in den Krimis sehr häufig schon vor ihrer eigentlichen Bestrafung, weil sie zu schießwütig konstruiert sind und das Böse schlichtweg übertreiben. Man möchte den Zuschauern im Kino schließlich ein ordentliches und quälendes Gerichtsverfahren nicht zumuten. Als allerletzter stirbt meistens der größte Bösewicht.
Ein vornehmes Aggregat der Freiheit ist der moderne Wissenschaftsbetrieb. Er gestattet sich im Grunde vieles. Es gibt, so sagt man, nur noch wenige Wissenschaftler in aussterbenden Fächern an der Universität, die zweifellos in der Lage wären, die Grenzen und Auswüchse der Freiheit gut zu erkennen und abzuschätzen. Aber niemand hört den Philosophen mehr richtig zu. Man scheint sie im Produktionsprozess der Aggregation von Freiheit nicht mehr zu benötigen. Freie Wissenschaftler sprechen gelegentlich noch Warnungen aus oder kündigen Weltkatastrophen an. Vieles klingt verzweifelt. Verzweifelt wehren sich auch einige Präsidenten an deutschen Universitäten gegen die allgemeinen und freien Kontrollprozeduren durch akademische Police-Guards, denn diese zwingt man ihnen politisch auf. Alexander und Wilhelm von Humboldt sind schon lange tot. Und wenn die beiden Brüder nicht gestorben sind, dann werden sie tagtäglich neu ermordet und beerdigt.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler suchen ihre persönlichen und gemeinschaftlichen Freiheiten in neuen Systemformaten des Betriebs. Welches Projekt bekomme ich von diesem oder jenem Förderer bewilligt? Wie hoch ist mein Drittmittelvolumen? Dem Steuerzahlerprojekt im allgemeinen Bildungsinteresse wurden leider längst die Mittel gekürzt und die Flügel gestutzt. Die Buchverleger stehen nicht außen vor. Auch bei ihnen geht nichts mehr ohne Begutachtung und Vorabbewertung. Der firmeneigene Lektor, falls es ihn überhaupt noch gibt, bügelt Ungewohntes und Ungewöhnliches glatt. Die unerwartete Schrift passt eigentlich nie richtig ins Verlagsprogramm. „Morgen fahren ich wieder zur Versteigerung der Lizenz- und Übersetzungsrechte nach New York“, sagt die Verlagsvertreterin. Dort wird sie dann die Rechte an den neuen erfolgreichen Veröffentlichungen ersteigern. Kundschaft ist schließlich König. Erfolg kann man kaufen, wenn man die Rechte zur Wiederveröffentlichung besitzt. Der Kunde will das, was auch die anderen Kunden schon vorher mochten, eben das, was schon schmackhaft gemacht wurde. Die Werbestrategen in den Verlagen haben viele Funktionen des Inhalts von Autorenwerken übernommen. Nur ganz prominente Autoren haben noch gewisse Spielräume, Peter Scholl-Latour zum Beispiel, aber auch der ist inzwischen leider schon tot.
Das Gegenteil des Aggregats scheinen Originalität und Werktreue zu sein. Aber selbst damit wird in staatlichen Museen oder privaten Archiven viel Unfug getrieben. Wie viel Raubkunst aus dem Irak verträgt eigentlich ein deutsches Museum? Wie konnte Cornelius Gurlitt so viele Kunstwerke vor der Öffentlichkeit verstecken? Kann man Brechts „Baal“ im Berliner Ensemble noch aufführen, wenn man ihn ungenau zitiert? Falls das passieren würde, müssten die Eigentümer, Nachfahren und Rechteverwerter eben klagen. Provenienz Forscher müssen bestellt werden. Vielleicht gelingt es ja doch noch, die ungeliebte Inszenierung zu verhindern.
Patente- und Rechteverwerter sind die Zauberlehrlinge der modernen Aggregation der Freiheit. Sie sind wie Verkehrspolizisten, die Strafzettel verteilen. Nur aus einem Grund existieren und zaubern sie. Nur für einen einzigen Zweck werden sie benötigt. Aus einem einzigen historisch-bedeutsamen Grund braucht man sie, nämlich, weil das Geld des Einen in die Tasche des Anderen überführt werden soll, weil auch die Freiheit der Kunst im Verkehr ein Spiegel pekuniärer Verwertungsabsichten geworden ist.
Geld und Vermögen haben eine eigene Verkehrsordnung. Geld ist ein aggregierter und verdinglichter Zustand von Freiheit. Vermögen und Eigentümerrechte sind die Götter pekuniärer Verständigung. Sie können sogar zu Kriegszwecken verwendet werden. Dieser Religion des Erwerbs und der Verteilung von Geld, mit Millionen von Jüngern, die sich tagtäglicher zu ihr bekennen, sollten wir einen neuen Namen geben. Wir müssen ihre Freund- und Feindbilder kennen lernen und den Betrügern dabei in die Karten schauen. Wir müssen viele Teufel erkennen. Wenn wir dieser verdinglichten Religion einen Namen geben, so soll er ebenfalls, wie ich finde, das Aggregat der Freiheit lauten.
Der aufmerksame Leser wird schon längst die entscheidenden Anmerkungen machen. Zu allen Zeiten waren Menschen autonom und mobil, der Fußgänger und der Autofahrer, auf allen Stolperwegen der Zivilisation. Es gab Bauern, die noch mit eigenem Pflug ihre Äcker bearbeiteten. Es gab die freiesten Geister, die in Deutschland Schiller und Goethe heißen. Es gab den klugen Albert Einstein, der gegen Mehrheitsmeinungen forschte. Es gab schon immer den einsamen Arbeitslosen, der verzweifelt nach seiner Familie sucht, und die Soldaten, die nach der Heimkehr aus dem Krieg ihre Kameraden vermissen. Die autonome und freie Persönlichkeit ist kein Phänomen der Neuzeit oder gar der Industrialisierung. Das ist zweifellos an dieser Stelle die wichtigste Einlassung über die Freiheit an dieser Stelle.
Die Erfindung der Aggregate der Freiheit kennzeichnet einen Prozess. Es ist ein Prozess der allgemeinen Geräteausstattung. Zugleich ist es auch ein Prozess-System, oder besser, ein Programm, welches man nicht mehr unmittelbar abstellen kann. Es geht um den Prozess der Zivilisation, in dem man Freiheit als Notwendigkeit von Entscheidungen, Verboten, Regeln und Kontrollen sieht. Es geht um diejenige Freiheit und Demokratie, die nur noch wenige gerne vermissen.
Was bedeutet es eigentlich, frei zu sein? Gibt es die absolute Freiheit des Willens? Gibt es noch Freiheit ohne einen Prozess und ohne Programm? Der Philosoph Peter Bieri hat in seinem Buch „Handwerk der Freiheit“ die unterschiedlichsten Antworten auf die Frage nach der Willensfreiheit gefunden. Er hat die Freiheit gewissermaßen so lange in Widersprüche verwickelt, bis sich am Ende einige wenige Prinzipien echter Freiheit erkennen ließen. „Das Buch entdeckt die Freiheit, die wir haben - ob wir wollen oder nicht -, wieder neu. Es ist klar bis zur Schönheit und spannend wie ein Roman“, hatte Rüdiger Safranski zu Bieris Buch seinerzeit geschrieben.
Bei der Erfindung des Aggregats der Freiheit geht es immer gleichzeitig auch um das Gegenteil von Freiheit, die Prinzipien der Unfreiheit, die sich hinter echten Freiheiten, Willensbekundungen und Freiheitsdeklarationen verbergen. Die Erfindung der modernen Freiheit ist gleichzeitig auch ihr genaues Gegenteil, jeden Tag und überall auf der Welt.
Der deutsche Literaturkritiker Rüdiger Safranski ist, je älter er wurde, ebenfalls ein aggregierter Typ geworden. Er hat sich das Geschäft des herrschenden und wissenschaftsnahen Literaturbetriebs vorzüglich angeeignet. Schönheit hat klar und spannend wie ein Roman zu sein. Freiheit ist ein Gesellschaftsprogramm im Sinne Nietzsches. Ich bin frei, und die anderen sind es eben nicht, wie die Autofahrer, die schnell vorankommen wollen und dann einen furchtbaren Unfall verursachen.