Читать книгу Die Aggregate der Freiheit und Der Traum vom Ich und Ich - Reinhard Ost - Страница 8
„Arbeit macht frei“ Das Aggregat der Freiheit ist ein System der Arbeit.
ОглавлениеDie Parole „Arbeit macht frei“ muss man in Deutschland, seit der Nazizeit, in Anführungszeichen setzen. Sie wird mit der missbräuchlichen Verwendung als Toraufschrift am nationalistischen Konzentrationslager Auschwitz assoziiert. Der Schriftzug wurde etwa ein halbes Jahr nach Gründung des Lagers, im Juni 1940, auf deutschen Befehl hin von polnischen Häftlingen angefertigt. Wie es zur Affinität zu diesem Spruch in nationalsozialistischen Kreisen kam, ist weitgehend unbekannt. Zweifellos war es nur reiner Zynismus, mit dem die Nazis ihre Sklaven noch zusätzlich verhöhnten.
Arbeitswut und Arbeitszwang kennen wir auch in der linken Terminologie. Die Formulierung „Arbeit macht frei“ verwendete 1848 Heinrich Beta in seiner Schrift „Geld und Geist“: „Nicht der Glaube macht selig, nicht der Glaube an egoistische Pfaffen- und Adelszwecke, sondern die Arbeit macht selig, denn die Arbeit macht frei. Das ist nicht protestantisch oder katholisch, oder deutsch- oder christkatholisch, nicht liberal oder servil, das ist das allgemein menschliche Gesetz und die Grundbedingung alles Lebens und Strebens, alles Glückes und aller Seligkeit.“
„Arbeit macht frei“ ist auch ein Jahr später in der Zeitschrift „Neues Repertorium für die theologische Literatur und kirchliche Statistik“ zu finden. Dort wird argumentiert: „Das Evangelium und, auf seine ursprüngliche Wahrheit zurückgehend, die Reformation wollen freie Menschen erziehen und nur die Arbeit macht frei, ist daher auch nach den Begriffen der Reformatoren etwas Heiliges.“
„Arbeit macht frei“ ist darüber hinaus der Titel einer Erzählung des deutschnationalen Autors Diefenbach, die im Jahr 1873 veröffentlicht wurde. Im Jahr 1922 druckte der Deutsche Schulverein in Wien Beitragsmarken mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“.
So weit, so gut oder schlecht!
Wir befinden uns mit der Frage nach der Freiheit von Arbeit und der Freiheit durch Arbeit an einem zentralen Punkt neuzeitlicher Geschichtsschreibung und Philosophie. Mit Arbeit kann man alles begründen und alles verklären: die Sklavenarbeit, die Herrschaft der Nazis, die Zukunft der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft, die Notwenigkeit der Weltverbesserung und die Existenzberechtigung jedes einzelnen Menschen. Fast verzweifelt bemüht man sich zu begründen, warum man jeden Tag arbeiten soll, um jenes Quantum zu verdienen, was man glaubt verdienen zu müssen. Der Müßiggänger allerdings, den man nicht vorschnell mit dem Bohemien verwechseln sollte, weigert sich in diese Aggregat der Arbeit einzusteigen. Deshalb wird er geächtet.
Nicht nur das Christentum, mit Protestantismus oder Calvinismus, sondern auch alle anderen Weltreligionen, haben ein spezielles Verständnis vom arbeitenden Menschen entwickelt. So kann es dann natürlich auch bei den Atheisten in der modernen Arbeits- und Dienstleistungsgesellschaft nicht sehr viel anders sein. Die einfache Gleichung heißt: Arbeit ist effiziente Kraft, Energie, Zukunft, Geld, Volksvermögen, Einkommen und der innige Glaube an die Vererbung dieses Aggregats. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ ist wahrscheinlich das wirksamste Volksvorurteil der Menschheitsgeschichte. Es ist die Strafe und Belohnung des gottgewordenen Menschen gegen seine Mitmenschen. Jeden Tag unterziehen wir uns der Mühsal, dieses Urteil zu verifizieren. Ohne Arbeit erzielt man keinen wirklichen Nutzen. Ohne das waghalsige Nutzenkalkül geht heute in der Welt der Investoren gar nichts mehr. Die Phantasiearbeit, die Sozialarbeit, die Beziehungsarbeit, die wissenschaftlichen Arbeit, die Hausarbeit, die Industriearbeit, die Kommunikationsarbeit, die Kritik an der Kinderarbeit, die politische Arbeit: Alles steht unter dem Diktat von regelmäßig werteschöpfender Beschäftigung. Ohne Arbeit gibt es kein Werk, kein Produkt, keine Ware, keinen Verkaufsgegenstand, keinen Fortschritt. Es gibt kein Ich und auch keinen Anderen, keine Idee von Leben und von der Welt, ohne die Arbeit. Erst nach dem Eintritt ins Rentenalter und einem kleinen Kind oder einem Behinderten gestattet man noch gewisse Freiräume, durch die wir dann gelegentlich nicht mehr nur an Arbeit denken.
Dabei wäre es ganz nützlich und weltbewegend, wenn viele Menschen gar nicht arbeiten würden oder arbeiten dürften. Man denke speziell an die Arbeit von Soldaten oder Prostituierten.
Die Freiheit von der Arbeit wird uns als Urlaub oder freie Zeit außerhalb der Arbeit schmackhaft gemacht. Am Abend bin ich frei, glücklich und zufrieden, weil ich tagsüber gearbeitet habe. Es gibt nur wenige, die über diese Freiheit hinaus denken und sie einzuordnen vermögen, wie der Philosoph Hegel.
Freiheit ist Freizeit. Arbeit ist notwendige Knechtschaft. Die Gesellschaft ist demokratisch und offen, aber arbeitsam gänzlich verschlossen.
Die Erfindung des Aggregats der Freiheit durch Arbeit ist ein Meisterstück. Sie ist das Werk, an dem alle umstandslos beteiligt werden, ob sie nun wollen oder nicht. Um das Aggregat in Bewegung zu setzen, muss es jeden Tag neu gestartet und gepflegt werden. Es wird praktisch immer wieder neu erfunden.
Am tollsten treiben es in diesem Zusammenhang die Soldaten. Sie lungern nicht in ihren Kasernen herum, sondern sie lernen zu marschieren und ihre Betten zu bauen. Sie trainieren ihre Körper und werden athletisch zugerichtet. Sie lernen Befehle entgegenzunehmen und umstandslos zu befolgen, bis sie dann ihre ersten Realitätsübungen an den Waffen machen. Wenn sie dann mit ihrer Arbeit ernst machen und in den Kriegseinsatz müssen, dann sind sie Täter und Opfer ihrer Arbeit zugleich. Sie sind ein kriegerisches Ich und Ich. Sie sterben oder, wenn sie nach der großen Schlacht überleben, werden sie psychologisch betreut und wieder in die Gesellschaft eingegliedert.
Das Aggregat der Soldatenarbeit ist ein besonderes Volksvermögen. Es steht für existenzielle Sicherheit, weil Soldaten in der Lage sind, missliebige Existenzen zu vernichten. Der Kommandeur erläutert an jedem Tag das Mill-Limit, dass man sich nämlich schützen darf und dadurch im Recht sei. Jedem Soldaten wird allgegenwärtig gemacht, dass immer der Andere ein Feind und Gegner sei. Der andere ist schuldig, ich selbst bin es nicht, weil ich in einem moralischen Dilemma gefangen bin. Das Aggregat der Freiheit ist durch Kriege und Soldatenarbeit ein echtes Dilemma. Es fährt automatisch und wie von allein durch die Schützengräben des ersten Weltkriegs oder durch die Glasfaserkabel der Neuzeit. Man wird wie eine Drohne unsichtbar gesteuert. Alles ist immer noch freie Arbeit, die Arbeit ordentlicher Ingenieure, die Täter und Opfern von Diktatur und Demokratie sind.
Das Aggregat der Freiheit ist das Werk einer strenger Arbeitsorganisation: notwendige Produkterzeugung, Produktionsfaktor, Krieg, schöpferisches Handeln, umgesetzte Energiemenge, bezahlte Erwerbstätigkeit, unbezahlte Reproduktionsarbeit, psychische Tätigkeit, Lebensunterhalt, Leistungskontrolle, Entgelt und Resultat wissenschaftlicher Forschung. Die Organisationsstrukturen des Systems der Arbeit sind dementsprechend hochkomplex. Sag mir, was du arbeitest, und ich sage dir, wer du bist. Das Aggregat der Arbeit ist eine Identifikationskategorie. Ohne Identifikation mit unserer Arbeit fühlen wir uns hilflos, alleine gelassen und einsam. Arbeitslosigkeit wird auch aus diesem Grund geächtet. Nur der werktätige Mensch wirkt mächtig und die Organisation der Arbeit wichtig.
Dieses Aggregat der Freiheit ist ein Menschheitsprojekt. Es rollt tagtäglich wie ein voll besetzter Bus über unsere Straßen im dichten Stadtverkehr. Der Antrieb ist so gebaut, als wäre es unser eigener Antrieb. Die Hersteller der Aggregate wollen eine straffe Kontrolle der Mitarbeiter. Andere vertrauen mehr der eigenen Kraft, sich selbst zu erfinden und zu kontrollieren. Der einzelne Schöpfer ist stets wie Gott, der in kurzen Abständen die ganze Welt erschaffen kann. Für den einen ist der Aggregatzustand der Spiegel seiner selbst. Der andere sieht sich als Teil des Volksvermögens einer Gesamtreproduktion und kann, sogar dieser entfremdet, sehr gut überleben.
Die Aggregation von Arbeit ist eine fortdauernde Gewerkschaftstätigkeit. Sie ist auch die Tüchtigkeit von Forschern und die Inspiration von Künstlern. Immer sind die tüchtigen Forscher und inspirierten Künstler wie Gewerkschafter. Immer setzten sie sich mit allem gründlich auseinander. Man solidarisiert sich, ob nun als Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder als freischaffend. Die Unterschiede sind fast marginal, wenn der arbeitsaggregierte Mensch ein Produkt von Solidarität und Gemeinsinn ist, denn nur gesellschaftlich und gemeinschaftlich kann man wirklich autonom und mobil sein, wie das Geld. Wir alle sitzen also sinnbildlich gemeinsam in einem Boot und fahren in einer Mitfahrgemeinschaft zuweilen sogar in ganz unterschiedliche Richtungen. Wenn ein autonomer Mensch einem anderen vor den Kopf stößt, dann ist das nicht nur der Tarifkonflikt oder der Arbeitskampf, sondern auch die Wertegemeinschaft und die Demokratie. Der aggregierte Arbeitsmensch ist zwar ein gesellschaftlicher Egoist, manchmal auch ein Anarchist, aber immer ist es seine konkrete Arbeit, die den einen reich und den anderen ärmer macht. Durch konkrete Arbeit wird ein Fahrzeug hergestellt, für das die meisten Menschen nur einen Leasingvertrag abgeschlossen haben. Andere leiten die Leasingfirma. Existenzgründung ist beides. Für viele ist die Arbeit das große Glück, für andere ist sie ein Unglück, wenn sie nicht genügend anbieten können oder ausgebeutet werden.
Meine Gedanken beginnen immer frecher zu werden. Ich halte lieber einen Moment inne und schweige still. … Kann man denn überhaupt so despektierlich und allgemein vom Heiligtum der Arbeit sprechen? Es geht doch schließlich um die heftigsten Interessenkonflikte, die innersten Erregungen und alle sozialen Beziehungen, wenn millionenfach um Recht und Wohlstand gestritten wird. Man kann sehr assoziativ und bildhaft über die Arbeit reden, denke ich und fahre fort:
Das Aggregat der Arbeit ist ein immerwährender Interessenkonflikt, in immer neuen Facetten und sozialen Ansprüchen. Arbeit macht frei, im Sinne des universellen Anspruchsdenkens. Ich muss mein Leben auf den anspruchsvollen beruflichen Arbeitsprozess hin abstimmen und andere ihn anspruchsvoll regulieren. Der Arbeitsprozess ist ein Macht- und Herrschaftsgefüge. Mein persönliches Aggregat im Kopf ist auch die Wahrnehmung dieses Gefüges, tagtäglich und unverdrossen. Es ist ein fließendes Gefühl von Unglück und Sehnsucht, von Niederlage und Sieg, immer und immer wieder. In der Fort- und Weiterbildung wird man uns das erklären können. Das Eine ist nicht ohne das Andere zu haben.
Was ist nun mit der Sklavenarbeit auf den Baumwollfeldern der Südstaaten oder mit den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten?
Milliarden von Stunden der Sklavenarbeit haben die „erste Welt“ hervorgebracht. Der einzelne Sklave war weder frei noch autonom. Er wurde zur Mobilität gezwungen. Er war Teil der Gesamtkonstruktion des antiken und kolonialen Aggregats von Freiheit, unfrei und unselbständig und wurde dem Machtdenken sowie der entfremdeten Wertschöpfung geopfert.
Der Prozess der Aggregation der Arbeit in der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ist auch eine Philosophie der Produktivität. Der moderne Mensch ist selbständiger und selbstbewusster als Produktivkraft auf den Märkten und in den technischen Abläufen geworden. Er ist der Kontrolleur seiner selbst geworden. Sklaverei ist diesbezüglich leider noch lange nicht überwunden. Fünf entscheidende Punkte zur Beschreibung dieses Systems sollten wir festhalten:
Orientierung am Prinzip zweckrationalen Handelns,
Entwicklung von Märkten,
Erwerbsarbeit als zentrales Organisationsprinzip von Leben,
Übergang zu marktvermittelter Form sozialer Ungleichheit,
Erosion der traditionellen Formen des Zusammenhalts.
Das moderne Arbeitsaggregat ist weitgehend ein technisches Produkt. Durch Ingenieure und EDV-Experten wird es täglich weiterentwickelt und von Robotern zusammengebaut. Das Handwerk erscheint ebenso wie ein technologisches Produkt auf den Märkten. Menschen entwickeln, montieren und verkaufen sich selbst und ihre Produkte auf Märkten. Für alles muss unentwegt geworben werden. Der Mensch im unmittelbaren Produktions- und Dienstleistungsprozess ist ein Kontrolleur und Vollstrecker technischer Abläufe geworden.
Wenn die Arbeit aber nur noch Technologie ist, dann erzeugt sie sich selbst, viel stärker als früher. Sie entwickelt sich eigenständig und gelegentlich sogar willenlos fort. So macht Arbeit dann auf eine eigentümliche Weise frei. Sie ist freigegeben zur automatischen Selbstkontrolle, frei für immer neue technische Erfindungen zwecks Fortentwicklung des Systems. Das hat nichts mit dem zynischen Schriftzug „Arbeit macht frei“ am Stahltor des Konzentrationslagers Auschwitz zu tun. Oder etwa doch?