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5. Medizinische Eingriffe außerhalb des eigentlichen Heilzweckes

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a) Prophylaktische Eingriffe bringen nicht unmittelbar eine Besserung des relativen Gesamtzustands und können daher nicht aus dem Tatbestand der Körperverletzung herausgenommen werden. Das gleiche gilt für diagnostische Eingriffe, sofern sie nicht lediglich die Richtung eines in jedem Fall gebotenen Eingriffs festlegen. Auch die Anforderungen an die Aufklärungspflicht sind hier besonders streng (BGHZ NJW 71, 1887, 1888).

Besonders umstritten ist neuerdings die Vornahme von Aids-Tests. Der Patient kann eine Blutentnahme zur Vornahme eines Tests verweigern. Andererseits kann eine nachträgliche Benutzung einer Blutprobe für einen Aids-Test die Einwilligung in die Entnahme der Blutprobe nicht rückwirkend unwirksam machen[64].

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b) Rein kosmetische Eingriffe können, da sie nicht zur Verbesserung der Gesundheit dienen und angesichts der Relativität der Schönheit, nur unter dem Gesichtspunkt der Einwilligung nach besonders gründlicher Aufklärung (Bockelmann 59; Engisch bei Engisch/Hallermann 35; Sternberg-Lieben S/S § 223 50b; Grünewald LK § 228 27; OLG Düsseldorf NJW 63, 1679 m. Anm. Barnikel 2374) gerechtfertigt werden. Als Heileingriffe anzusehen sind dagegen kosmetische Eingriffe, die pathologische Auswirkungen beseitigen sollen.

Bei vom Patienten gewünschten unsinnigen Eingriffen kann die Einwilligung unwirksam sein[65].

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c) Transplantationen (von Haut, Gewebe, Knochenmark und Organen) und Transfusionen stellen nur gegenüber dem Empfänger eine Gesundheitsverbesserung dar und unterliegen insoweit den o. 1–4 dargelegten Regeln. Gegenüber dem (lebenden) Spender liegt dagegen, von der Möglichkeit der Tötung bei Verkennung des Todeszeitpunkts (s.o. § 1 Rn. 12) oder durch Komplikation einmal abgesehen, jedenfalls eine Körperverletzung vor, und zwar bei Entnahme von Augen sogar nach § 226 StGB. Hierfür gelten jetzt die Spezialvorschriften der §§ 8, 19 Abs. 2 TPG[66]. Zur Organtransplantation vom toten Spender s.o. § 1 Rn. 13.

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d) Die Verabreichung von Betäubungsmitteln und suchtfördernden Arzneimitteln ist eine Körperverletzung, da sie einen pathologischen Zustand und überdies eine Sucht herbeiführt. Eine Einwilligung setzt eine Aufklärung über diese Wirkungen voraus; eine Einwilligungsfähigkeit wird bei Abhängigkeit häufig nicht gegeben sein (OLG Frankfurt a.M. NJW 91, 763). Bei Verschreibung wird dementsprechend eine mittelbare Täterschaft durch ein steuerungsunfähiges Werkzeug gegeben sein.

Dies gilt insbesondere auch für die Verschreibung von Ersatzdrogen. Hinsichtlich der Strafbarkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 6 BtmG räumt BGH 37, 383 den Ärzten einen gewissen Entscheidungsspielraum ein[67].

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e) Häufig sind medizinische Maßnahmen im Leistungssport. Für Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gesundheit und der normalen Leistungsfähigkeit gelten die allgemeinen Regeln. Das häufige „Fitspritzen“ dürfte nicht mehr als Heileingriff anzusehen, wohl aber durch Einwilligung gerechtfertigt sein[68]. Bei der Verabreichung von Dopingmitteln fehlt es häufig an einer zureichenden Aufklärung des Sportlers, sodass die Einwilligung unwirksam ist (s.o. Rn. 26) oder gar nicht vorliegt (eingehend A. Müller aaO 89 ff.). Bei schwerschädigenden Mitteln ist die Einwilligung, da mit der Tat unfaire und strafbare Zwecke verfolgt werden (Erschleichung von Preisen und Förderungen), unwirksam (s.o. Rn. 15)[69]. Seit Dezember 2015 stellen §§ 4 Abs. 1 Nr. 2; 2 Abs. 2 AntidopG die Anwendung von Dopingmitteln bei einer anderen Person zu Zwecken der Leistungssteigerung im Sport unter Strafe. Um die Fairness und Chancengleichheit bei Sportwettbewerben zu schützen (§ 1 AntidopG), lässt auch eine Einwilligung des Gedopten die Strafbarkeit des Täters nicht entfallen. Im Gegenteil ist für Spitzen- und Leistungssportler sogar das Selbstdoping gemäß §§ 4 Abs. 1 Nr. 4; Abs. 7; 3 Abs. 1 S. 1 AntidopG strafbar.

Schrifttum:

Bottke, Doping als Straftat?, FS Kohlmann 2003, 85; Karakaya, Doping und Unterlassen als strafb. Körperverletzung?, 2004; Kohlhaas, Das Doping aus rechtlicher Sicht, in Schroeder/Kauffmann, Sport und Recht, 1972, 48; König, Dopingbekämpfung mit strafbaren Mitteln, JA 07, 573; A. Müller, Doping im Sport als strafbare Gesundheitsbeschädigung (§§ 223 Abs. 1, 230 StGB)?, 1993; Schild, Doping in strafrechtlicher Sicht, in: Schild (Hrsg.), Rechtliche Fragen des Dopings, 1986, 13; Schild, Sportstrafrecht, 2002, 133 ff.

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f) Besondere Probleme bietet die Beseitigung der Fortpflanzungsfähigkeit, soweit sie nicht einen medizinisch indizierten Heileingriff darstellt (insbesondere bei Krebs) und damit den o. 1–4 entwickelten Regeln unterliegt. Dabei wird medizinisch zwischen der Kastration (Entfernung oder dauernde Funktionsstörung der Keimdrüsen) und der Sterilisation (Unfruchtbarmachung durch Unterbrechung der Verbindungsstränge zwischen den Keimdrüsen und den Zeugungs- bzw. Empfängnisorganen) unterschieden.

Schrifttum: Bockelmann, Die derzeitige rechtliche Situation bei der Sterilisation, in: Kepp-Koester (Hrsg.), Empfängnisregelung und Gesellschaft, 1969; Engisch, Die Strafwürdigkeit der Unfruchtbarmachung mit Einwilligung, FS H. Mayer 399; Engisch, Kritische Bemerkungen zu dem Urteil des BGH in Strafsachen über die Straflosigkeit freiwilliger Sterilisierungen v. 27. Okt. 1964 (Sitzungsber. d. Bayer. Akademie d. Wiss., Philos.-histor. Klasse 1965/4); Eser, Freiwillige Sterilisation und Strafrechtsreform, Die Med. Welt 70, 1751; Eser/Hirsch, Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch, 1980; Hanack, Die strafrechtliche Zulässigkeit künstlicher Unfruchtbarmachungen, 1959; Hanack, Die Sterilisation aus sozialer Indikation, JZ 64, 393; Hanack, Künstliche Eingriffe in die Fruchtbarkeit (Göppinger Arzt und Recht 11); Hanack, Die Sterilisation der Frau in strafrechtlicher Sicht, Dtsch. Med. Journal 71, 638; Hardwig, Sterilisation und Sittlichkeit, GA 64, 289; Hoerster, Grundsätzliches zur Strafwürdigkeit der Gefälligkeitssterilisation, JZ 71, 123; Kienzle, Schwangerschaftsunterbrechung, Sterilisation und Kastration nach geltendem Recht; GA 57, 65; Kohlhaas, Nach wie vor Rechtsunsicherheit in der Frage der Sterilisierung, NJW 68, 1169; Kunz, Die rechtliche Problematik der freiwilligen Sterilisation, JZ 82, 788; Reinhardt, Einverständliche Sterilisation, Niedersächs. Ärzteblatt, 1965, Heft 6, 1; Schwalm, Bilanz nach dem Sterilisationsurteil des Bundesgerichtshofs, Med. Klinik 1966, 32, 72; Urbanczyk, Sind freiwillige Sterilisationen strafbar?, NJW 64, 425; Wulfhorst, Wäre eine Strafbarkeit der freiwilligen Sterilisierung verfassungswidrig?, NJW 67, 649.

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aa) Die Kastration gegen die Auswirkungen eines abnormen Geschlechtstriebs ist im Kastrationsgesetz vom 14.8.69[70] geregelt. Sie ist nur bei Männern vorgesehen, da sie bei Frauen den genannten Zweck nicht erfüllen kann[71], und zwar entweder wegen mit dem abnormen Geschlechtstrieb zusammenhängender schwerwiegender Krankheiten, seelischer Störungen oder Leiden (sexualmedizinische Kastration) oder der Gefahr der Begehung bestimmter Sexualstraftaten und Straftaten gegen das Leben (kriminologische Kastration). Voraussetzung ist dabei, dass der Betroffene über 25 Jahre alt ist und nach eingehender Aufklärung einwilligt. Schließlich ist die Einschaltung einer Gutachterstelle erforderlich (andernfalls nach § 7 KastrG Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe).

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bb) Die Sterilisation wurde nach dem zweiten Weltkrieg z.T. nach dem ErbgesundheitsG vom 14.7.33, z.T. nach § 226a StGB a.F. beurteilt[72]. Dieser Streitstand wurde durch BGH 20, 81 (Dohrnurteil) weitgehend überholt. Nach dieser Entscheidung soll es seit der Aufhebung des § 226b durch KRG Nr. 11 keine deutsche Strafvorschrift mehr geben, die freiwillige Sterilisierung mit Strafe bedroht. Zwar ist die Argumentation des BGH nach den anerkannten Grundsätzen der Rechtsquellenlehre unhaltbar und hat daher insoweit zu Recht völlig einmütige Kritik erfahren[73], aber dem Ergebnis des BGH sind zahlreiche Autoren beigetreten[74]. Dabei ist man sich allgemein darüber im Klaren, dass der „einfache und bequeme“ Weg von BGH 20, 81 nicht gangbar ist, sondern die Lösung von §§ 223 ff. ausgehen muss und an einer Stellungnahme zu § 228 nicht vorbeiführt. Gerade hier hat sich aber ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Die Diskussion hat sich von einer rein strafrechtlichen Argumentation fast ganz auf die verfassungsrechtliche Ebene verlagert. Denn § 228 ist für sich allein zur Lösung nicht ausreichend (insoweit zutr. BGH 20, 85); das Merkmal der „Sittenwidrigkeit“ ist im Strafrecht weitgehend unbrauchbar und verfassungsrechtlich bedenklich (s.o. Rn. 15). Damit ist eine gesetzgeberische Lösung der verworrenen Rechtslage seit Langem überfällig (so schon Kohlhaas NJW 68, 1169) und die „Zurückstellung“ der im RegE des 5. StrRG vorgesehenen Regelung unverzeihlich. Solange die gesetzgeberische Lösung nicht erfolgt ist, ist die Beachtlichkeit der Einwilligung nach § 228 in weitem Umfang anzuerkennen. Sie ist – analog § 2 Abs. 1 Nr. 3 KastrG – in jedem Fall gegeben bei einem Alter der bzw. des Einwilligenden über 25 Jahren, bei eugenischer Indikation und Vorhandensein mehrerer Kinder noch früher[75]. Für geistig Behinderte gilt § 1905 BGB[76]; bei Minderjährigen ist eine Sterilisation völlig ausgeschlossen (§ 1631c BGB) – eine schwere Belastung für die Unterhaltspflichtigen. Bedenkliche Ablehnung des Vorsatzes bei irrtümlich angenommener mutmaßlicher Einwilligung bei BGH 35, 249 (Kritik o. bei Rn. 28).

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g) Die Geschlechtsumwandlung ist als Heileingriff anzusehen, wenn sie zur Beseitigung schwerer seelischer und körperlicher Beeinträchtigungen unerlässlich ist. In diesem Rahmen muss sie, um ihren Zweck zu erreichen, möglichst frühzeitig und ohne Rücksicht auf die Volljährigkeit zulässig sein. Im Übrigen wird sie von der Rechtsprechung als sittenwidrig angesehen[77].

h) Die Beschneidung kann bei Knaben gemäß § 1631d BGB nicht nur aus medizinischen Gründen, sondern mit Rücksicht auf Art. 4 GG auch aus religiösen Gründen gerechtfertigt sein,[78] bei Mädchen ist sie gemäß § 226a stets strafbar, da eine etwaige Einwilligung der Eltern nach § 228 unwirksam wäre.

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i) Die Prozessordnungen gestatten ärztliche Eingriffe zur Feststellung verfahrenserheblicher Tatsachen (§§ 81a, 81c, 81g, 81h StPO, § 372a ZPO). Diese Eingriffsbefugnisse wirken als Rechtfertigungsgründe. Sie finden ihre Grenze in „Nachteilen für die Gesundheit“, also Beeinträchtigungen, die erheblich über die Untersuchungsdauer hinaus fortwirken. Von Verfassungs wegen muss außerdem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden; die zulässige Eingriffsintensität richtet sich deshalb nach Schwere und Stärke des Tatverdachts[79]. Unzulässig ist die Angiographie (str.), ausnahmsweise zulässig sind Liquorentnahme (BVerfGE 16, 194, 201 f.; str.) und Hirnkammerluftfüllung[80]; nach BVerfG StV 00, 1 bestehen gegen die Verabreichung von Brech- und Abführmitteln zur Erlangung von verschluckten Gegenständen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (abl. Naucke u. Rixen NStZ 00, 381). Hypnose und Narkoanalyse zur Herbeiführung von Aussagen verstoßen gegen § 136a StPO und § 343 StGB (Tlbd. 2, § 76 III). Das Abschneiden von Haaren und Bart zur Identifizierung kann auf § 81b StPO gestützt werden[81]. Bei Nichtbeschuldigten gilt außerdem der Grundsatz der Zumutbarkeit (§ 81c Abs. 4 StPO, § 372a ZPO).

Strafrecht Besonderer Teil. Teilband 1

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