Читать книгу Einführung in die Pädagogik bei geistiger Behinderung - Reinhilde Stöppler - Страница 10

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2 Ätiologie der geistigen Behinderung

„Es ist keine Krankheit! Es ist eine Kondition, ein Zustand.

So wie der eine blond ist, habe ich eben das Down-Syndrom.

Es ist viel mehr ein Charakteristikum als eine Krankheit. (…)

Es war die Medizin, die damit begonnen hat, den Begriff im Diskurs als Krankheit zu prägen“ (Pineda 2010).

medizinische Ursachen

Ätiologie bedeutet die Lehre von den Ursachen von Erkrankungen und ihren auslösenden Faktoren, in diesem Kontext also die möglichen Ursachen der geistigen Behinderung aus medizinischer Sicht.

Die neuere biogenetische Forschung hat detaillierte ätiologische Daten ermitteln können (Speck 2016, 58).

Es ist zu berücksichtigen, dass eine Beeinträchtigung abhängig ist von Art, Schwere und Zeitpunkt der schädigenden Einwirkung sowie den Kontextfaktoren (Seidel 2006, 162). Die medizinische Perspektive wird häufig aufgrund der ihr zugewiesenen Defizitorientierung kritisiert, dennoch hat sie großen Nutzen für die pädagogische Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung (Fischer 2008, 21). Einige Erkrankungen können durch frühzeitiges Erkennen und Wissen über phänotypische Besonderheiten in der Entwicklung weitgehend gemildert werden. Untersuchungen der Ätiologie von Behinderungen sind wichtig, um ein mögliches Risiko für andere Familienmitglieder (weitere Kinder, Bruder oder Schwester mit Kinderwunsch) festzustellen. Auch kann eine ätiologische Diagnose Informationen über weitere Erkrankungen (Komorbidität), Verlauf, Folgen und therapeutische Implikationen verschaffen. Aufgrund klinisch-genetischer Untersuchungen können bei ungefähr 40–60 % der Menschen mit geistiger Behinderung die Ursachen festgestellt werden (Haveman / Stöppler 2014, 39).

ätiologische Ursachen

Es gibt verschiedene ätiologische Ein- und Aufteilungen der Behinderungen; im Folgenden soll eine Aufteilung nach

1. chromosomal verursachter geistiger Behinderung,

2. metabolisch verursachter geistiger Behinderung und

3. exogenen Formen

erfolgen. Daneben gibt es eine Reihe von Erkrankungen und Syndromen, die bislang noch ätiologisch unklar sind.

2.1 Chromosomal verursachte geistige Behinderung

Erbkrankheiten

Menschliche Erbkrankheiten basieren auf Veränderungen der Chromosomenzahl oder -struktur, auch phänotypische Auswirkungen sind darauf zurückzuführen. Chromosomal bedingte geistige Behinderungen entstehen durch Abweichungen der Chromosomen in Anzahl (numerische Chromosomenaberrationen) oder Struktur (strukturelle Chromosomenaberrationen). Zum Verständnis ist ein kleiner Exkurs zu den genetischen Grundlagen notwendig.

Die Chromosomen des Menschen

Regelrechter Chromosomensatz: Die Chromosomen des Menschen enthalten die genetischen Informationen und bestehen aus DNS (Desoxyribonukleinsäure) und Proteinen. In jeder Körperzelle des Menschen befinden sich 46 Chromosomen bzw. 23 Chromosomenpaare. Jedes Chromosom ist demnach zweifach vorhanden bzw. besteht aus zwei haploiden Sätzen mit jeweils 23 Chromosomen (ein Chromosomensatz stammt aus der Eizelle der Mutter, ein Chromosomensatz aus dem Spermium des Vaters). Unterschieden werden können 22 Körper- oder autosomale Chromosomenpaare (1–22) sowie ein Geschlechts- oder gonosomales Chromosomenpaar (23) – dieses besteht beim Mann aus einem X-und einem Y-Chromosom, bei der Frau aus zwei X-Chromosomen. Jedes Chromosom ist mit einem DNS-Molekül ausgestattet, auf dem Tausende von Genen aufgereiht sind. Bei Teilung der Zelle wird die DNS verdoppelt bzw. repliziert, bei den sich neu bildenden Tochterzellen wird ein vollständiger Satz von Genen vererbt (Steffers / Credner 2011, 13ff.; Reece et al. 2016, 380ff.).

Ein Karyogramm stellt eine geordnete Darstellung der Chromosomen einer Zelle dar und gibt eine gute Übersicht über mögliche numerische oder strukturelle Chromosomenfehler (Teufel 2014, 3).


Abb. 3: unauffälliges Karyogramm a) einer Frau (Originalaufnahme) und b) eines Mannes (Schema) (Sonnleitner / Rojacher 2009, 56)

Zum weiteren Verständnis der chromosomalen Grundlagen ist die Betrachtung von Meiose und Mitose wichtig.

Mitose

Der menschliche Lebenszyklus beginnt mit der befruchteten Eizelle (Zygote), die die beiden haploiden Chromosomensätze der mütterlichen und väterlichen Zelle trägt. Durch unzählige Zellteilungen (Mitose) entwickelt sich ein Mensch mit unermesslich vielen Körperzellen. Aufgrund der Replikation erhält jede Tochterzelle Chromosomen mit genetisch identischer Information.

Meiose

Zur Bildung der Keimzellen erfolgt die Meiose, auch Reifungs- oder Reduktionsteilung genannt. Dabei wird die Anzahl der Chromosomen auf die Hälfte reduziert, um zu vermeiden, dass – wie in der mitotischen Teilung – bei einem diploiden Satz von 46 Chromosomen bei der Befruchtung eine Verdopplung auf 92 stattfindet. In der Meiose findet durch die zufällige Verteilung das Crossing-Over (Austausch) der Chromosomen bzw. der Geninformationen und die damit verbundene Neukombination der Gene statt. Dadurch entsteht eine genetische Vielfalt.

Zusammenfassung Mitose und Meiose

Mitose: In der Mitose erfolgt die Vermehrung der Zellen; es entstehen zwei erbgleiche Tochterzellen.

Meiose: In der Meiose kommt es zur Reduktion des diploiden auf einen haploiden Chromosomensatz, um zu vermeiden, dass sich die Anzahl der Chromosomen bei der Befruchtung verdoppelt. Dazu muss der diploide Chromosomensatz auf einen haploiden halbiert werden, dies geschieht durch eine besondere Form der Zellteilung, der Meiose (Bils / Brixius 2011, 29ff.; Reece et al. 2016, 326ff. ).

Chromosomenaberrationen

Im Kontext von Meiose und Mitose können numerische (die Anzahl betreffende) oder strukturelle (die Struktur betreffende) Fehler bei der Chromosomenverteilung auftreten, die zu vielfältigen Krankheitsbildern führen können. Diese können sowohl in den Autosomen als auch in den Gonosomen auftreten (Steffers / Credner 2011, 13ff.; Sonnleitner / Rojacher 2009, 58ff.).

Numerische Aberrationen – Abweichungen in der Anzahl der Chromosomen: In Mitose und Meiose können Fehler auftreten, sodass sich die gepaarten Chromosomen nicht trennen; es kommt zur sogenannten Nondisjunction, z. B. wenn sich ein Chromosomenpaar nicht trennt und die Chromosomen auf die Tochterzellen fehlverteilt werden. Daraus können Monosomien (Chromosom liegt nur einmal vor) und Trisomien (Chromosom liegt dreifach vor) entstehen. Syndrombezeichnungen weisen häufig auf die vorliegende Fehlverteilung hin; z. B. ist bei der Trisomie 21 das Chromosom 21 dreifach vorhanden.

Strukturelle Aberrationen – Abweichungen in der Struktur der Chromosomen: Es kann zu Chromosomenbrüchen und -verlusten kommen, dabei kann zwischen Deletion, Duplikation, Inversion sowie Translokation unterschieden werden (Tab. 3). Auch hier weisen Syndrombezeichnungen auf die vorliegende strukturelle Aberration hin, z. B. bedeutet ein q, dass der lange Arm des Chromosoms und ein p, dass der kurze Arm des Chromosoms betroffen ist (z. B. 5p-minus-Syndrom, 7q-Syndrom).

Tab. 3: Chromosomenaberrationen

DeletionFehlen eines Chromosomenabschnitts; Verlust von genetischen Informationen
Duplikationzweifaches Vorhandensein eines Chromosomenabschnitts
InversionUmkehrung der Chromosomenabschnitte
TranslokationVerlagerung von Chromosomen bzw. -teilen auf andere Chromosomen balancierte Translokation: genetische Informationen bleiben konstant unbalancierte Translokation: genetische Informationen gehen verloren

autosomal und gonosomal

Chromosomenfehlverteilungen können sowohl in den Autosomen als auch in den Gonosomen auftreten: Autosomale Aberrationen entstehen durch eine Fehlverteilung der Chromosomen 1–22 während der Meiose, gonosomale Aberrationen hingegen durch eine Fehlverteilung der Gonosomen bei der Meiose. Aberrationen in Zahl und Struktur der Gonosomen führen zunächst zu Störungen der Genitalentwicklung, können aber auch das körperliche Wachstum beeinträchtigen. Als häufig auftretende und bekannte Syndrome (Kap. 3.1) sind das Fragile-X-Syndrom, speziell beim weiblichen Geschlecht das Ullrich-Turner-Syndrom (X0-Syndrom), bei dem ein X-Chromosom fehlt, und beim männlichen Geschlecht das Klinefelter-Syndrom (XXY), bei dem ein X-Chromosom zusätzlich zum Gonosomenpaar vorhanden ist, zu nennen (Neuhäuser 2016, 297ff.).

dominant und rezessiv

Bei der Vererbung sind dominante und rezessive Merkmale zu unterscheiden; während dominante Merkmale obligat in jeder Generation auftreten, können rezessive Merkmale mehrere Generationen überspringen.

2.2 Metabolisch verursachte geistige Behinderung

Stoffwechsel

Die im Folgenden besprochenen Syndrome geistiger Behinderung entstehen durch Störungen im Stoffwechsel (Metabolismus); diese können in allen für den Körper und seine Funktionen wichtigen Substanzen und Bausteinen vorkommen (z. B. in Aminosäuren, Proteinen, Kohlenhydraten, Lipiden und anderen Fetten, Purinen etc.). Bedingt werden die Störungen durch Genmutationen, die nicht durch numerische und strukturelle Chromosomenaberrationen zu erkennen sind, sondern ein Gen oder einige zusammenwirkende Gene betreffen. Sie wirken über die Proteine auf den Organismus. Krankheiten können zum einen durch falsch strukturierte Proteine oder Proteinverbindungen (z. B. Mukoviszidose), zum anderen durch verringerte oder falsche Aktivität bestimmter Proteine, z. B. bei Enzymdefekten, entstehen. Dadurch wird der Abbau von Produkten verhindert, die für den Körper giftig sind. Diese sammeln sich im ZNS, in Blut und Gewebe etc. an und können eine Hirnschädigung verursachen. Bei einigen Erkrankungen, die in den ersten Lebenswochen entdeckt und sofort behandelt werden, kann bei strikter Einhaltung einer bestimmten, meist lebenslangen, Diät eine normale Entwicklung erfolgen.

2.2.1 Störungen im Aminosäurestoffwechsel

Aminosäuren sind wichtige Bausteine der Proteine (Eiweiße), die entscheidende Bestandteile fast aller Organe sind. Während der Verdauung werden die Eiweiße in Aminosäuren zerlegt; die frei gewordenen Aminosäuren können zum Aufbau von körpereigenen Eiweißen, z. B. bei Wachstums- und Reparaturvorgängen, dienen.

Phenylketonurie

Phenylketonurie (PKU) ist z. B. eine häufige Stoffwechselstörung, bei der die Aminosäure Phenylalanin nicht ordnungsgemäß abgebaut wird. Das Enzym, das im Normalfall das mit der Nahrung aufgenommene Eiweiß Phenylalanin abbaut, ist nicht funktionsfähig. Dadurch reichert sich Phenylalanin in Blut und Geweben an und kann eine Hirnschädigung verursachen. Bleibt die Erkrankung unerkannt und unbehandelt, führt dies zu einer verzögerten Entwicklung des Gehirns und zur geistigen Behinderung. Wird die PKU jedoch rechtzeitig erkannt und eine spezielle eiweißfreie Diät verabreicht und eingehalten, kommt es zu einer normalen Gehirnentwicklung; d. h. die betroffene Person muss lebenslang konsequent auf Eiweiß enthaltende Nahrung verzichten.

2.2.2 Störungen im Kohlenhydratstoffwechsel

Kohlenhydrate

Kohlenhydrate spielen vor allem als schnell verfügbare Energiequelle eine große Rolle. Sie können der Größe nach in Mono-, Di- und Polysaccharide eingeteilt werden. Bei den Störungen im Kohlenhydratstoffwechsel unterscheidet man Mukopolysaccharidosen, Mukolipidosen und Oligosaccharidosen. Sie verursachen vor allem Funktionsstörungen im Knochenwachstum, in der Skelettentwicklung, können aber auch Gehirn, Leber, Milz etc. betreffen (Neuhäuser 2013, 70ff). Bekannte Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels sind z. B. die Galaktosämie und die Mukopolysaccharidosen.

Galaktosämie

Galaktosämie ist eine erbliche Störung im Stoffwechsel der Galaktose. Aufgrund des Fehlens eines bestimmten Enzyms kann die Galaktose nicht im Stoffwechsel abgebaut werden, sodass im Körper schädliche Substanzen angereichert werden. Eine konsequente und lebenslange galaktosefreie Diät stellt die einzige Behandlungsmethode dar (ACHSE e. V. 2010, 78).

Mukopolysaccharidose

Auch Mukopolysaccharidosen sind erblich bedingt; bei ihnen kommt es in der Regel zu Ablagerungen vor allem im Zentralen Nervensystem (ZNS) und im Skelett, die zu einem progressiven Verlauf der Krankheit und einem frühen Tod führen können (ACHSE e. V. 2010, 81). Bekannt sind sieben Formen von Mukopolysaccharidosen, wobei nicht alle zwangsläufig eine geistige Beeinträchtigung zur Folge haben.

2.2.3 Störungen im Fettstoffwechsel

Lipidosen

Auch Fette (Lipide, Lipoide) sind wichtige Bausteine. Bei Störungen des Fettstoffwechsels kann es zur Speicherung dieser Substanzen kommen, die z. B. zu vorzeitigem Abbau von Funktionen führen. Lipidosen betreffen vor allem Nervenzellen und verursachen Funktionsstörungen der Ganglienzellen, wodurch es zu Demenz und zum Abbau erworbener Fähigkeiten kommen kann (Reece et al. 2016, 186ff.; Steffers / Credner 2011, 225ff.).

Früherkennung durch Neugeborenenscreening

Einige Erkrankungen lassen sich kurz nach der Geburt durch entsprechende Untersuchungen nachweisen, einige werden routinemäßig durchgeführt. Ziel des sogenannten Neugeborenenscreenings ist es, bestimmte Erkrankungen, wie angeborene Stoffwechselerkrankungen und Endokrinopathien, die sich mit hoher Sicherheit diagnostizieren und therapieren lassen, frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Das Neugeborenenscreening wird bundesweit durchgeführt und von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert. Durch die Abnahme von Blut des Neugeborenen (ca. 3. Lebenstag) können von den hier aufgeführten angeborenen Stoffwechselerkrankungen Galaktosämie und Phenylketonurie erfasst werden.

2.3 Exogene Faktoren

äußere Einflüsse

Bei exogenen Faktoren handelt es sich um Störungen und Schädigungen, die durch exogene (von außen wirkende) Faktoren auf das Kind vor, während und nach der Geburt einwirken können. Abhängig vom Zeitpunkt der Schädigung kann zwischen prä-, peri- und postnatalen Formen unterschieden werden.

2.3.1 Pränatale Ursachen

Pränatal bedeutet vorgeburtlich und bezeichnet demnach Schädigungen, die vor der Geburt auftreten. Die pränatale Phase und zu diesem Zeitpunkt auftretende Schädigungen, können, wie in Tabelle 4 ersichtlich, eingeteilt werden.

Tab. 4: Einteilung der pränatalen Phase und der möglichen auftretenden Schädigungen

BezeichnungZeitAuftretende Erkrankungen
BlastemphaseBefruchtung bis 15. Schwangerschaftstag (SST)Blastopathien
Embryonalphase15. SST bis 8. Schwangerschaftswoche (SSW)Embryopathien
Fetalphase9. SSW bis GeburtFetopathien

Entwicklungsstörungen

Schädigungen in der Embryonalphase können – abhängig vom Zeitpunkt des Auftretens – zu sehr schweren Entwicklungsstörungen des Embryos führen. Schädigungen in der Fetalphase, die durch Wachstum und Reifung der Organe gekennzeichnet ist, können zu Reifungs- und Funktionsbeeinträchtigungen führen (Hasselblatt et al. 2015, 74ff.).

teratogene Noxen

Die pränatale Entwicklung kann durch vielfältige schädliche Einflüsse beeinträchtigt werden. Dazu gehören physikalische, chemische, biologische Einflüsse sowie Erkrankungen der Mutter, die zu Störungen in der Entwicklung, Fehlbildungen und zu Behinderungen führen können. Diese Faktoren werden teratogene Noxen (giftige Substanzen / Ereignisse) genannt. Ursachen der pränatalen Schädigungen können Infektionen, Strahlen, Gifte (Medikamente, Alkohol, Drogen) sein.

Pränatale Infektionen

diaplazentare Übertragung

Vorgeburtliche Infektionen können eine geistige Beeinträchtigung als Folge haben. Die meisten Infektionen können diaplazentar, d. h. über die Plazenta auf das ungeborene Kind übertragen werden, einige (Zytomegalie, HIV) auch über die Muttermilch. Tabelle 5 gibt eine Übersicht über die häufigsten pränatalen Infektionen.

Tab. 5: Übersicht pränatale Infektionen (Steffers / Credner 2011, 20f.; Hasselblatt et al. 2015, 102ff.)

ErkrankungErregerFolgen/Symptome
RötelnErstinfektion der Schwangeren mit Rubellavirus (Rötelnvirus)Rötelnembryopathie (Gregg-Syndrom);HerzfehlerKataraktInnenohrschwerhörigkeit
ToxoplasmoseToxoplasma gondii (rohes Fleisch, Katzenkot)Fetopathie;Enzephalitis, Vergrößerung von Leber und Milz, Hydrozephalus
ZytomegalieHerpes-Virus (CMV)Fetopathie;Innenohrschwerhörigkeit, Hydrocephalus, Vergrößerung von Leber und Milz
Lues oder SyphilisBakterium Treponema pallidum spp. pallidum (Infektion durch die Mutter während der Schwangerschaft oder Geburt)Lues connata;Meningitis, Hydrocephalus, Gehörlosigkeit
HIV/AIDSHI-VirusVergrößerung von Leber und Milz, ständig wiederkehrende Infektionskrankheiten
ListerioseListeria monocytogenes (wird übertragen durch Milch, rohes Fleisch, Rohkost)Granulome in allen Organen (gutartige, knötchenförmige Gewebeneubildungen) Pneunomie, Meningitis

Strahlen

Mutationen

Strahlen können zu einer Vermehrung der Spontanmutationen führen. Die Mutationsrate steigt mit der Höhe der Strahlenbelastung an; es kommt zu Störungen der Zellteilungen. Die teratogene Wirkung von Strahlen zeigt sich z. B. bei den Opfern der Atombombenkatastrophen von Hiroshima und Nagasaki (Neuhäuser 2013, 130); aber auch Röntgenbestrahlung kann das Kind im Mutterleib gefährden.

Chemische Noxen

Zu den chemischen teratogenen (äußeren) Faktoren, die diaplazentar die Entwicklung des ungeborenen Kindes beeinträchtigen und zu Wachstums-, Funktionsstörungen sowie zu Fehlbildungen führen können, zählen Alkohol, Drogen, Nikotin und Medikamente.

Alkohol

Aufgrund seiner Fettlöslichkeit geht Alkohol leicht diaplazentar auf das Kind über, das pränatal noch nicht über ausreichende Enzyme zum Abbau verfügt, sodass das Kind den gleichen Blutalkoholspiegel wie die Mutter hat. Abhängig von der Menge des Alkohols kann eine Alkoholembryopathie entstehen (Kap. 3.1).

Drogen

Zu den chemischen Noxen mit teratogener Wirkung gehören außerdem Drogen (z. B. Kokain, Heroin, LSD). Die klinische Beobachtung belegt bereits Entzugserscheinungen von betreffenden Neugeborenen (Neuhäuser 2013, 127f.).

Medikamente

Des Weiteren gibt es einige Medikamente, deren Einnahme bei schwangeren Frauen zur Beeinträchtigungen der Entwicklung des Ungeborenen führt. Das bekannteste Beispiel stellt das Medikament „Thalidomid“ dar, im Volksmund unter dem Markennamen „Contergan“ bekannt, das 1961 zu Beeinträchtigungen und Fehlbildungen der Extremitäten (nicht zu geistiger Behinderung!) führte. Weitere Medikamente mit teratogener Wirkung sind Zytostatika (Substanzen, die das Zellwachstum hemmen, z. B. bei einer Chemotherapie) sowie bestimmte Sexualhormone. Eine ausführliche Übersicht gibt Neuhäuser (2003, 198).

2.3.2 Perinatale Ursachen

Geburtskomplikationen

Zu den perinatalen Risikofaktoren, die eine geistige Beeinträchtigung hervorrufen können, zählen Geburtskomplikationen, die zu mangelnder Sauerstoffversorgung des Kindes führen. Diese werden hypoxisch-ischämische Enzephalopathien genannt. Auch eine Frühgeburt ( Geburt vor Beendigung der 37. SSW p. m.) kann zu Entwicklungsstörungen führen (Psychrembel 2010, 697).

2.3.3 Postnatale Ursachen

Auch nach der Geburt kann es aufgrund von Erkrankungen und Unfällen zu geistigen Behinderungen kommen.

Entzündungen des ZNS

Zu den Erkrankungen gehören Entzündungen des Zentralen Nervensystems: bei der Meningitis kann es zur Entzündung der Hirnhäute, bei der Meningoenzephalitis zur Entzündung des Hirngewebes, bei der Enzephalitis zur Entzündung des Gehirns kommen. Diese Entzündungen können – je nach Schwere und Verlauf – eine geistige Behinderung nach sich ziehen.

Unfälle

Verkehrsunfälle und häusliche Unfälle des Kindes können zu einem schweren Schädel-Hirn-Trauma führen; in bestimmten Fällen können durchaus Entwicklungsverzögerungen und geistige Beeinträchtigungen resultieren. Sauerstoffmangelzustände, z. B. nach einem Ertrinkungsunfall, oder auch Verbrennungskrankheiten können zu Hirnschädigungen führen (Neuhäuser 2013, 134ff.).

Auf der Basis dieses Kapitels können Sie nun die Übersicht der häufigen Syndrome in Kapitel 3.1 besser verstehen und einordnen.

2.4 Pränataldiagnostik

„Richtlinien zur Mutterschaft“

Aus medizinischer Sicht stehen schwangeren Frauen und Familien verschiedene Untersuchungen zur Vorsorge und zur Wahrung der Gesundheit eines Kindes zur Verfügung. Dazu wurden „Richtlinien zur Mutterschaft“ durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (2011) formuliert, die für behandelnde MedizinerInnen einen Katalog ärztlicher Untersuchungs- und Beratungsschwerpunkte enthalten und z. B. die Überwachung von Risikoschwangerschaften sowie die Untersuchung auf Infektionskrankheiten (Röteln, Hepatitis B, evtl. HIV, etc.) vor und nach der Geburt oder Fehlgeburt umfassen.

Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG)

Das Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) regelt z. B. vor dem Hintergrund der Diagnose Trisomie 21 eine umfassende Beratung und Aufklärung der werdenden Eltern. Schwerpunkte der Beratung stellen Informationen u. a. auch zum Leben von Kindern und erwachsenen Menschen mit geistiger und / oder körperlicher Behinderung dar. In Tabelle 6 werden die zentralen Methoden der pränatalen Diagnostik skizziert.

Tab. 6: Pränatale Diagnostik (Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. 2008; BzgA – Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2011a, 2011b, 2011c)

BezeichnungZeitpunktVerfahrenMöglichkeitenRisiken
Praenatestmöglich ab vollendeter 9. SSWEntnahme einer Blutprobe der Mutter zur Isolierung fetaler DNA-Fragmente (Bißwanger-Heim 2012, A697).molekulargenetischer Bluttest zur Feststellung einer fetalen Trisomie 21 (Klinkhammer / Richter-Kuhlmann 2013, A166)keine
Ultraschalluntersuchung (Sonografie)9.-32. SSWÜber einen Schallkopf werden Wellen ausgesendet, wobei vaginale Ultraschallverfahren (vor 12. SSW) und Ultraschallverfahren über die Bauchdecke (ab 20. SSW) unterschieden werden. Zwischen 9. und 32. Schwangerschaftswoche sind drei Ultraschalluntersuchungen vorgesehen. Feststellung der Schwangerschaftswoche Erkennen von Mehrlingen Kontrolle der Herztätigkeit des Kindes Feststellung von Fehlbildungenkeine
Ersttrimesterscreening12.-14. SSWÜber Ultraschall werden u. a. die Nackentransparenz sowie das Nasenbein gemessen, frühe Fehlbildungsdiagnostik möglich (erweitertes Ersttrimesterscreening). Durch das Alter der werdenden Mutter sowie der genauen Schwangerschaftsdauer können durch statistische Werte Risiken ermittelt werden. Risikoerkennung von z. B. Trisomie 21 oder Herzfehlern Aussagen über Schwangerschaftsverlauf bzw. die Entwicklung des Kindes möglichkeine
Bluttest11.-14. SSWIm Blut der Frau werden die Werte von zwei Eiweißstoffen gemessen. Durch die Hinzunahme der Ergebnisse des Ultraschalls kann ein Risikowert anhand von Statistiken errechnet werden.Aussagen über Schwangerschaftsverlauf bzw. die Entwicklung des Kindes möglichkeine
Zweittrimesterscreening15.-18. SSWErweiterter (Organ-) Ultraschall. Außerdem zusätzlich Bluttests (Messung von Alphaproteinen) oder eigenständig zur Bestimmung von Hormonund weiterer Eiweiß-werte.Aussagen über Schwangerschaftsverlauf bzw. die Entwicklung des Kindes möglichkeine
Chorionzottenbiopsie11.-14. SSWDurch einen Einstich in die Bauchdecke wird Chorionzottengewebe (Mutterkuchengewebe) der werdenden Mutter entnommen.Feststellung von chromosomalen Aberrationen metabolischen Aberrationen genetischen ErkrankungenDas Risiko einer Fehlgeburt liegt zwischen 0,5 und 2 %.
Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese)14.-20. SSWDurch einen Einstich in die Fruchtblase werden Fruchtwasser sowie Zellen des ungeborenen Kindes entnommen. Feststellung von Anomalien nach Auffälligkeiten bei der Ultraschalluntersuchung Bestimmung des Chromosomensatzes des Kindes und Untersuchung auf Erbkrankheiten und chromosomale AberrationenDas Risiko einer Fehlgeburt liegt zwischen 0,5 und 1 %.
Nabelschnurpunktion (Kordozentese)ab 18. SSWMithilfe einer Ultraschallkontrolle wird mit dem Einstich durch die Bauchdecke der werdenden Mutter Blut des Kindes aus der Nabelschnur entnommen und untersucht. Abklärung eines Infektionsverdachtes beim Kind Überprüfung der Werte einer unklaren Fruchtwasseruntersuchung Feststellung des Chromosomensatzes des Kindes sowie die Möglichkeit, Infektionen oder eventuelle Blutarmut zu diagnostizieren.Das Risiko einer Fehlgeburt liegt zwischen 1 und 3 %.

Kritik

Aufgrund des Risikos einer Fehlgeburt werden die verschiedenen Untersuchungen der pränatalen Diagnostik z. T. kritisiert und stehen durch ihren möglichen selektierenden Charakter häufig im Fokus der medizinisch-ethischen Diskussion.

„Während sich bei der bisher üblichen vorgeburtlichen Diagnostik auch Befunde mit therapeutischen Konsequenzen ergeben können, erfolgt das Frühscreening ausschließlich mit der Begründung, Ungeborene mit Chromosomenabweichungen herauszufiltern, damit Frauen sich gegebenenfalls für einen Abbruch entscheiden können. Das Angebot des Frühscreenings bestärkt Menschen in der Überzeugung, dass die Geburt eines behinderten Kindes vermeidbar ist und vermieden werden sollte und stellt damit eine kulturelle Abwertung aller Menschen dar, die von Geburt an oder später mit einer Behinderung leben müssen“ (Wegener 2007, 45).

Auch wenn sich komplizierte Eingriffe, die mögliche Folgen und Risiken nach sich ziehen, durch einen nicht-invasiven Test wie z. B. der 2012 neu vorgestellte Bluttest zur Diagnostik von Chromosomenfehlverteilungen unterbinden lassen, bleibt die bereits angesprochene Kritik durch Wegener die gleiche. Der ehemalige Bundes-Behindertenbeauftragte Hüppe reagiert mit ähnlichen Argumenten auf den Bluttest. Eine „Rasterfahndung“ nach Menschen mit Trisomie 21 werde erzeugt, da keine therapeutischen Zwecke verfolgt werden. Durch die unkomplizierte und risikolose Blutentnahme sinke zudem die Hemmschwelle, an einer solchen Untersuchung teilzunehmen (Richter-Kuhlmann 2012, 1).


Neuhäuser, G., Steinhausen, H.-C., Häßler, F., Sarimski, K. (Hrsg.) (2013): Geistige Behinderung: Grundlagen, Erscheinungsformen und klinische Probleme, Behandlung, Rehabilitation und rechtliche Aspekte. 4. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart

Reece, J. B., Urry, L. A., Cain, M. L., Wassermann, S. A., Minorsky, P. V., Jackson, R. B. (2016): Campbell Biologie. 10. Aufl. Pearson, Hallbergmoos


Übungsaufgaben zu Kapitel 2

Aufgabe 1

Welche Bedeutung hat die Ätiologie im Kontext der Geistigbehindertenpädagogik?

Aufgabe 2

Wie kommt es zu numerischen und strukturellen Chromosomenaberrationen?

Aufgabe 3

Nennen Sie jeweils Beispiele für Schädigungen, die prä-, peri- und postnatal auftreten können.

Einführung in die Pädagogik bei geistiger Behinderung

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