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1 Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung

1.1 Begriff „geistige Behinderung“

„Es war voll im Bus und ich musste hinten sitzen, wo die halbstarken Jugendlichen Platz haben, und da saß ein Jugendtyp. […] Da holt er mit dem Arm aus und sagt zu mir „Du Spasti“, und das wollte ich nicht hören. Für ein Handicap ist das eine Beleidigung. Da war ich sauer auf ihn. Der Spruch Spasti hat mir weh getan, den hat er sicher von Hitler gehört“ (Müller-Erichsen 2010, 10).

Beschreibungsversuche

Der Begriff geistige Behinderung steht am Ende einer langen Reihe von Be- und Umschreibungsversuchen für eine äußerst heterogene Gruppe von Menschen. Es gibt keine einheitliche Beschreibung oder Kennzeichnung des als geistig behindert definierten Personenkreises. Das liegt u. a. daran, dass Menschen mit geistiger Behinderung keine einheitliche Gruppe mit festgesetzten und -umschriebenen Eigenschaften bilden. Nicht einmal vorübergehend ist es möglich, sich in die Lage und Situation eines Menschen mit geistiger Behinderung zu versetzen. So ist der Begriff im Grunde genommen sehr unklar. Dagegen ist es leichter, sich für eine kurze Zeitspanne annähernd in die Perspektive eines blinden, gehörlosen oder gehbehinderten Menschen zu versetzen, indem wir versuchen, eine alltägliche Situation mit verbundenen Augen, Ohren oder im Rollstuhl zu erleben und dabei die Barrieren der Lebensumwelt zu erfahren.

Folgende Übersicht zeigt die Vielfalt der Begriffe aus der Vergangenheit bis heute, die überwiegend negativ konnotiert sind.

Begriffe zur geistigen Behinderung

Adjektiva: debil, schwachsinnig, geistesschwach, blödsinnig, kognitiv anders, geistigbehindert, geistig behindert, geistig eingeschränkt, idiotisch, dumm, imbezill, praktisch bildbar

Substantiva: Behinderte, Menschen mit geistiger Behinderung, Menschen mit Lernschwierigkeiten, SchülerInnen mit Lernbeeinträchtigungen, Menschen mit mentalen Einschränkungen, Menschen mit geistigem Handicap, Krüppel, Mongo

Angloamerikanische Termini: Mental Handicap, Mental Retardation, Learning Difficulties, Intellectual Disabilities, Special Needs

Begriffsvielfalt

Der deutsche Begriff geistige Behinderung wurde 1958 von der Elternvereinigung Lebenshilfe in Deutschland eingeführt. Allerdings wurde der Begriff schon vom Hilfsschulrektor Breitbarth im Jahre 1926 auf dem „XI. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands zu München“ verwendet (Speck 2016, 45). Die bis dato vorherrschenden negativen Bezeichnungen wie „schwachsinnig“ oder „imbezil“ sollten durch einen nicht abwertenden Begriff ersetzt werden. Oftmals wird gegenwärtig der Terminus „Menschen mit geistiger Behinderung“ favorisiert, der von der „Internationalen Liga von Vereinigungen für Menschen mit geistiger Behinderung“ (ILSMH) empfohlen wurde (Mühl 2000, 45). Diese Bezeichnung soll den Zweck erfüllen, dass der Mensch nicht in erster Linie und ganzheitlich als geistig behindert etikettiert wird, sondern den Menschen in seiner Rolle als SchülerIn, Kind, SportlerIn etc. in den Vordergrund stellt. Der Anhang mit geistiger Behinderung und die damit verbundene Betonung des primären Menschseins schwächt die Substantivierung des lange gängigen Begriffs Geistigbehinderte ab, vermag jedoch eine Diskriminierung und Stigmatisierung nicht zu verhindern. Versuche, positivere Beschreibungen zur Vermeidung von Diskriminierungen zu finden, z. B. die Begriffe „anders denkend“ etc., haben den Nachteil, dass sie unspezifisch und nicht eindeutig sind.

People First

Die Organisation „Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e. V.“, eine Selbstvertretungsgruppe, die aus Menschen mit geistiger Behinderung und Lernbehinderungen besteht, lehnt den Begriff geistig behindert ab und bezeichnet sich selbst als „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ (Netzwerk People First Deutschland e. V. 2004, 5; Knust-Potter 1996, 519f.). Sie haben das Anliegen, zuerst als Person gesehen zu werden: „Zuerst sind wir Menschen“, so lautet der Leitspruch (Kniel / Windisch 2005).

Den Vorstellungen und Bedürfnissen betroffener Personen entsprechend wurde in Großbritannien der Begriff Mental Retardation aus o. a. Stigmatisierungsgründen durch Learning Difficulties ersetzt.

Notwendigkeit einer Bezeichnung

Die nationale und internationale Begriffsvielfalt zeigt die Schwierigkeit auf, sich auf eine allgemeingültige Bezeichnung festzulegen, die zudem keine stigmatisierenden oder diskriminierenden Aspekte beinhaltet. Auch durch euphemistische Termini kann keine Verbesserung der gesellschaftlichen Situation und Akzeptanz von Menschen mit Behinderung realisiert werden (Kniel / Windisch 2005, 49f.). Es bedarf jedoch eines Begriffs, um die fokussierte Personengruppe zu thematisieren. Die Bemühungen, Menschen mit Behinderung nicht mit einem einzelnen Begriff zu definieren, führt zu Verunsicherungen und Problemen auf administrativer Ebene, z. B. bei schulpolitischen Entscheidungen sowie beim internationalen Vergleich (Speck 2016, 54ff.).

Es gibt keine zufriedenstellenden Alternativen, die einen Begriffswandel ermöglichen (Speck 2016, 48ff.); geistige Behinderung kann nur als komplexes Phänomen verstanden werden. Speck (2016, 53) weist auch darauf hin, dass es nicht „die geistige Behinderung“ und dass es „kein einheitliches Bild von ihr“ gibt. Der Begriff der geistigen Behinderung ist nach wie vor nicht zufriedenstellend durch einen Alternativbegriff ersetzt worden, sodass er weiterhin vorrangig Verwendung findet. Auch im Kontext dieses Buches soll trotz vorhandener Kritikpunkte der Begriff geistige Behinderung geführt werden, da er zum momentanen Zeitpunkt der in Gesellschaft und Wissenschaft anerkannteste Begriff ist und eine Abgrenzung zu anderen Behinderungsformen ermöglicht. Ein anderer Terminus würde nicht zwangsläufig eine Stigmatisierung vermeiden. Gleichwohl soll die Heterogenität dieses Personenkreises stets beachtet werden.


Geistige Behinderung ist ein Sammelbegriff für ein Phänomen mit oft lebenslangen, aber verschiedenen Äußerungsformen einer unterdurchschnittlichen Verarbeitung kognitiver Prozesse und Problemen mit der sozialen Adaption (Haveman / Stöppler 2010).

Heterogenität

Diese Personengruppe kann bei der Bewältigung von kognitiven Aufgaben geringe, mäßige, große oder sehr große Probleme haben. So gibt es Personen, die in ihrem Entwicklungsstand an der Grenze zur Lernbehinderung stehen und demnach im lebenspraktischen Bereich weitestgehend selbstständig sind. Darüber hinaus werden zu dem Personenkreis mit geistiger Behinderung Menschen mit schwersten bzw. Mehrfachbehinderungen gezählt, die zusätzlich zu ihrer geistigen Behinderung weitere schwerere Beeinträchtigungen im Bereich der Motorik oder der Sinnesfunktionen haben (Mühl 2000, 54).

Zusammenfassung

Deutlich werden zwei Kritikpunkte: Zum einen erfolgt mit dem Begriff geistig behindert eine negative Zuschreibung, die zu Stigmatisierungen durch die Gesellschaft führen können; zum anderen erfasst er nicht die Vielfalt und Heterogenität des Personenkreises. Mit diesem Begriff wird ein Mensch schnell etikettiert, was zu lebenslangen Einschränkungen in Selbstbestimmung, Selbstständigkeit etc. führen kann. Es gibt also tatsächlich nicht die geistige Behinderung, und somit keine einheitliche Definition, wie folgendes Kapitel zeigt.

1.2 Klassifikationssysteme

Die Auffassungen über geistige Behinderung unterscheiden sich erheblich und bieten ein sehr weites Spektrum an Definitionen, Theorien und Ansätzen, die eine einheitliche Begrifflichkeit nicht gerade erleichtern. Nach Fornefeld (2013) ist es unmöglich, geistige Behinderung durch eine allgemeingültige Definition zu beschreiben, da das Phänomen der Behinderung von Individualität geprägt ist (Fornefeld 2013, 59).

Die verschiedenen Begriffe und Definitionen zur Beschreibung der Menschen mit geistiger Behinderung spiegeln auch die sich mit der Zeit verändernde Sichtweise wider, nämlich „von einem defektorientierten funktionalistischen hin zu einem individualistisch subjektorientierten Förderverständnis und damit zu einem grundlegend veränderten Menschenverständnis“ (Stöppler / Wachsmuth 2010, 15).

breites Spektrum

In dem breiten Spektrum der Definitionen und Beschreibungen der geistigen Behinderung gibt es unterschiedliche Sichtweisen: Einige Definitionen betonen mehr die Schwächen des jeweiligen Menschen, indem sie benennen, welche Fähigkeiten der Mensch mit geistiger Behinderung nicht hat; andere heben dagegen die vorhandenen Ressourcen hervor, wieder andere die besonderen Bedürfnisse. Tabelle 1 zeigt eine Übersicht verschiedener Sichtweisen und deren Merkmale.

Tab. 1: Sichtweisen und deren Merkmale

SichtweiseFokus auf
Defizitorientierte Sichtweiseausschließlich Beeinträchtigungen, Defizite, Normabweichungen etc.
Ressourcenorientierte SichtweiseKompetenzen, Fähigkeiten etc.
Bedürfnisorientierte SichtweiseBerücksichtigung von Bedarfen, Wünschen etc.
Teilhabeorientierte SichtweiseMöglichkeiten des gemeinsamen Miteinanders von Menschen mit und ohne Behinderung

Im Folgenden werden zwei internationale und aktuelle Beschreibungen von geistiger Behinderung vorgestellt, die sich an zeitgemäßen Paradigmen (Kap.4.) orientieren und zu einem neuen Verständnis von geistiger Behinderung geführt haben. Dabei werden die individuellen Kompetenzen einer Person als Ausgangspunkt gesetzt.

1.2.1 AAMR

Die „American Association on Mental Retardation“ (AAMR) stellt 1992 das adaptive Verhalten im Kontext von Alltagssituationen zur Beschreibung der Unterstützungs- und Bildungserfordernisse in den Vordergrund und zielt darauf ab, geistige Behinderung über Kompetenzen und Ressourcen sowie den individuellen Hilfebedarf zu definieren. Zur Erstellung des Kompetenzprofils werden die Kategorien Kommunikation, Selbstversorgung, Wohnen, Sozialverhalten, Benutzung der Infrastruktur, Gesundheit und Sicherheit, Schulbildung, Arbeit und Freizeit herangezogen. Liegt in mindestens zwei der genannten Kategorien adaptiven Verhaltens dauerhafter Unterstützungsbedarf vor, wird von einer geistigen Behinderung ausgegangen (Eggert 2003, 498f.).

UN-BRK, Artikel 1

Zeitgemäße Ansätze zum Verständnis des Begriffs geistige Behinderung sollten unter Berücksichtigung der Wünsche und Fähigkeiten des Menschen das größtmögliche Maß gesellschaftlicher Teilhabe ermöglichen, wobei auch die Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgen muss (Küchler 2007, 31). Ausgangspunkt sollte immer die Person mit ihren individuellen Kompetenzen sein. Behinderung wird heute nicht mehr einseitig subjektbezogen und als Folge von Schädigungen und Störungen von Fähigkeiten beschrieben, sondern nimmt auch die sozialen Einflussfaktoren und die Abhängigkeit von unterschiedlichen Umweltbarrieren in den Blick. Dieser Aspekt wird u. a. auch in Art. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention aufgegriffen, denn hier wird Behinderung definiert über „langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen“, die in Wechselwirkung mit unterschiedlichen Barrieren die umfassende Teilhabe an der Gesellschaft verhindern können.

1.2.2 ICF

WHO

Die World Health Organization (WHO) fokussiert mit der Erstellung der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) auch die Partizipationschancen eines Menschen. Die Vorgängerin, die „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps“ (ICIDH) wurde von der WHO (1980) überarbeitet; in der Nachfolge wurde 2001 die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF), im Deutschen „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ verabschiedet.

bio-psychosoziales Modell

Mit der ICF wurde das bio-psycho-soziale Modell der ICIDH erweitert und der Lebenswirklichkeit betroffener Menschen besser angepasst. Das Ziel der ICF liegt darin, in standardisierter Form Komponenten von Gesundheit und damit verbundene Faktoren von Wohlbefinden zu definieren (DIMDI 2005, 9). Die WHO fokussiert somit explizit die Ressourcen einer Person in bestimmten Situationen (Seidel 2003). Die Relativität und Relation der Abweichungen werden durch die neuen Elemente Functioning und Health in den Vordergrund gerückt. Ausgegangen wird von einem bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung, das verschiedene Faktoren beinhaltet und in Relation setzt:

1. Körperfunktionen (physiologische und psychologische Funktionen von Körpersystemen, z. B. Sprache oder Wahrnehmung)

2. Körperstrukturen (anatomischer Teil des Körpers, z. B. Organe oder Gliedmaßen)

3. Aktivitäten und Partizipation (Handlung durch einen Menschen)

4. Umweltfaktoren (Teilhabe an Umwelt und Unterstützungssysteme; DIMDI 2005, 16).

Die Wechselwirkung bzw. komplexe Beziehung wird im folgenden Schaubild verdeutlicht.


Abb. 1: WHO-ICF (DIMDI 2005, 23)

Wechselwirkung

Behinderung wird hier als Oberbegriff verstanden, wenn auf einer dieser sich gegenseitig beeinflussenden Ebenen Beeinträchtigungen feststellbar sind. Diese sind wiederum abhängig von personenbezogenen Faktoren wie z. B. Alter, Geschlecht oder Bewältigungsstrategien und Umweltfaktoren (u. a. Netzwerkintegration oder Hilfsmittel; Wansing 2006, 79). Bezeichnet werden kann Behinderung demnach „als problematische oder fehlgeschlagene Wechselbeziehung zwischen den individuellen bio-psycho-sozialen Aspekten vor dem Hintergrund relevanter Kontextfaktoren“ (Schäfers 2009, 25).

Nicht mehr die Abweichung gemessen in Intelligenzquotienten (IQ), sondern Teilhabechancen sind entscheidende Kriterien. Eine erschwerte Partizipation von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben stellt die „eigentliche“ Behinderung dar (DIMDI 2005, 24f.). Persönliche Merkmale, z. B. eine Seh- oder Hörbeeinträchtigung, bilden einen der vielen möglichen Bedingungsfaktoren für eine Behinderung; weitere Faktoren können z. B. in einer behindernden Umwelt liegen. Ob eine mögliche Seh- oder Hörbeeinträchtigung zu einer Behinderung führt, hängt davon ab, ob die Umwelt derart gestaltet ist, dass eine Person mit den angeführten Beeinträchtigungen partizipieren kann, z. B. durch Ergänzung von auditiven und visuellen Informationen.

Personenebene

Die ICF nennt explizit keine Differenzierung zwischen Behinderungsarten, kennt insofern auch keine geistige Behinderung, sondern unterscheidet auf der Personenebene zwischen z. B. mentalen Funktionen, seh-, hör- und bewegungsbezogenen Funktionen (Schäfers 2009, 26). Durch Veränderungen der be-hindernden Bedingungen der Umwelt kann die vorliegende Behinderung / Exklusion verhindert werden. Ein relationales Verständnis von Behinderung sieht vor allem, dass die Person mit vorliegender Schädigung vielfältige Möglichkeiten der Partizipation hat, indem Barrieren abgeschafft werden. Eine Annäherung an das Gesamtbild der geistigen Behinderung ermöglicht der Dialog mit verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, deren unterschiedliche Perspektiven im folgenden Kapitel 1.3 vorgestellt werden (Speck 2016, 58).

1.3 Wissenschaftliche Perspektiven

Geistige Behinderung wird aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, die das Phänomen aus spezifischer Perspektive beleuchten, gesehen (Speck 2016, 58ff.). Jede Profession verfügt dabei über eigene Zugangsweisen.

1.3.1 Medizinische Perspektive

Ätiologie

Die medizinische Perspektive fokussiert vor allem die Ätiologie (Ursachen) der geistigen Behinderung. Diese suchte man bereits im 18. und 19. Jahrhundert und zwar als individuelles Merkmal einer Person. Heute gilt diese Perspektive als überholt, da es sich nach Meinung einiger Autoren vornehmlich um eine defizitorientierte Sichtweise handelt, die soziale Faktoren zu stark vernachlässigt. Dennoch ist die medizinische Sichtweise für das Verständnis für die besonderen Stärken und Schwächen des Kindes mit geistiger Behinderung relevant; das Wissen über das jeweilige Syndrom mit seinen phänotypischen Ausprägungen ermöglicht ein positives Einwirken (Neuhäuser 2016, 14f.).

Aus diesem Grunde erfolgt in Kapitel 2 eine ausführliche Darstellung der Ätiologie der geistigen Behinderung.

1.3.2 Psychologische Perspektive

IQ

Die psychologische Perspektive fokussiert vor allem den Grad der Intelligenz und das adaptive Verhalten. In erster Linie steht der Intelligenzquotient (IQ) im Vordergrund; er wird mithilfe standardisierter Intelligenztests ermittelt. Geistige Behinderung wurde lange Zeit vor allem als „intellektuelle Retardierung“ (Speck 2016, 61) beschrieben; auch heute noch definiert die ICD-10 geistige Behinderung als einen „Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten […]“ (Dilling / Freyberger 2014, 273).

Wie Abb. 2 verdeutlicht, gilt ein IQ-Wert von 100 als durchschnittliche Intelligenz, ein Wert über 100 als überdurchschnittliche, dagegen ein Wert von unter 100 als unterdurchschnittliche Intelligenz. Von geistiger Behinderung spricht man, wenn die getestete Person einen Wert von mindestens zwei Standardabweichungen unter dem Durchschnitt liegt. Da eine Standardabweichung einem Wert von 15 entspricht, bezeichnet man eine Person mit einem IQ von 70 und weniger aus psychologischer Sicht als geistig behindert.

Abb. 2: Normalverteilung der Intelligenz und Standardabweichungen (Speck 2016, 63)

zwei internationale Klassifikationsschemata

Im Folgenden werden die zwei internationalen Klassifikationssche mata für Menschen mit geistiger Behinderung beschrieben:

in der ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krank heiten und verwandter Gesundheitsprobleme) werden vier Niveau stufen sowie die Kategorien „andere“ und „nicht näher bezeichnete“ Intelligenzminderungen (DIMDI 2013) unterschieden, die hier kurz skizziert werden:

IQ 50–69: leichte Intelligenzminderung

IQ 35–49: mittelgradige Intelligenzminderung

IQ 20–34: schwere Intelligenzminderung

IQ > 20: schwerste Intelligenzminderung (Dilling / Freyberger 2014, 274ff.)

das DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) unterscheidet folgende Schweregrade der intel lektuellen Beeinträchtigung:

Tab. 2: DSM-IV (Fornefeld 2013, 66)

Codierung des DSM-IVSchweregrad der intellektuellen BeeinträchtigungIQ-Wert
317leichte geistige BehinderungIQ 50–55 bis ca. 70
318.0mittelschwere geistige BehinderungIQ 35–40 bis 50–55
318.1schwere geistige BehinderungIQ 20–25 bis 35–40
318.2schwerste geistige BehinderungIQ unter 20 bzw. 25

Eine derartige Stufenfolge der Intelligenzminderung wird von vielen pädagogisch orientierten Autoren sehr kritisiert, da die Entwicklungsfähigkeit eines Menschen sowie die sozialen und kulturellen Bedingungen in diesen statischen Angaben nicht berücksichtigt werden. Alternativ ist die Theorie der multiplen Intelligenz zu sehen, die mehrere Intelligenzen, z. B. linguistische, musikalische, körperlich-kinästhetische Intelligenzen gleichberechtigt autonom nebeneinander sieht (Gardner 2001). Die Fokussierung auf Teilbereiche trägt besonders auch dem Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung Rechnung (Speck 2016, 64f.).

1.3.3 Soziologische Perspektive

soziale Konstruktion

Aus soziologischer Perspektive wird Behinderung als soziale Konstruktion gesehen (Thimm 1972, Cloerkes 2003). Damit verbunden ist der gesellschaftliche Auftrag, sich mit Behinderung als gesellschaftlichem Thema zu beschäftigen. Als Forschungsgegenstand der „Soziologie der Behinderten“ stellt Cloerkes (2007, 3) „die soziale Wirklichkeit von Menschen mit Behinderungen“ dar. Zum Forschungsinteresse der Soziologie gehört damit auch die Beschreibung von Einstellungen und Verhalten gegenüber diesem Personenkreis. Typische Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit (geistiger) Behinderung sind z. B. Anstarren aber auch Almosendenken. Ein bekanntes Beispiel aus den Medien ist die „Aktion Sorgenkind“, in der jahrzehntelang Spenden für „Sorgenkinder“ gesammelt wurden; in einer wöchentlichen „Bilanz der guten Taten“ wurden die Spender gelobt. Dadurch wurden Betroffene in der Tat als bedürftige „Sorgenkinder“ und nicht als gleichberechtigte Bürger dargestellt (Rothenberg 2012, 32). Eine soziologische Definition von geistiger Behinderung liefert Markowetz (2008, 249):


Ein Mensch wird als geistig behindert bezeichnet, „wenn eine unerwünschte Abweichung vorliegt, die soziale Reaktion auf ihn entschieden negativ ist und deshalb seine Partizipationsmöglichkeiten am gesellschaftlich-sozialen Leben nachhaltig beschränkt werden und desintegrative, aussondernde Maßnahmen der Institutionalisierung von Behinderung auf den Plan rufen.“

Schon in sehr frühen Zeiten wurden in der Gesellschaft Unterschiede in der Anerkennung und Achtung von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gemacht; Menschen mit geistiger Behinderung bzw. sogenannte Schwachsinnige standen schon damals in der Hierarchie weit unter den Menschen mit Sinnesschädigungen (Merkens 1988, 55). Auch heute werden Beeinträchtigungen und Behinderungen im geistigen Bereich gesellschaftlich „ungünstiger bewertet“ als z. B. körperliche Behinderungen (Cloerkes 2007, 105).

Normabweichungen

Die soziologische Perspektive fokussiert somit Behinderung als Resultat eines sozialen Abwertungs- und Stigmatisierungsprozesses. Eine wesentliche Rolle spielen die sozialen Folgen, die eine Person erfährt, wenn sie aufgrund einer Behinderung von der Norm abweicht. Eine Abweichung auf körperlicher, geistiger oder seelischer Ebene wird aufgrund der bestehenden Normen und Werte innerhalb einer Gesellschaft als negativ aufgefasst. Geistige Behinderung kann als gesellschaftliche Positionszuschreibung betrachtet werden. Behinderung gilt als soziale Kategorie in der Interaktion, nicht als Merkmal einer Person. Ein Mensch wird demnach dann und dadurch behindert, wenn er von den Normalitätsvorstellungen der Umwelt abweicht und eine negative soziale Reaktion auftritt. Als Ergebnis des sozialen Abwertungsprozesses wird die soziale Teilhabe erschwert (Markowetz 2008, 240). Wacker (2008a, 42) stellt pointiert dar: „Menschen mit Behinderung sind ‚Gegenstand‘ der Soziologie, weil und solange sie als ‚Besondere‘ behandelt werden.“ Damit ist Behinderung aber auch kein unveränderlicher Zustand; Zeit, Lebenssituation, Lebensbereich, Kultur etc. spielen dabei eine Rolle. Was in unserem Kulturkreis als Behinderung gilt, kann in anderen Kulturen als Normalität angesehen werden (Cloerkes 2007, 9ff.; Wacker 2009, 101ff.).

Zielsetzung

Ziel der Soziologie der Behinderten ist es, unabhängig von Art und Grad der Behinderung ein Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen (Wacker 2008b, 115). Einstellungen und Barrieren müssen analysiert werden, darauf aufbauend können Entstigmatisierungskonzepte und Veränderungsmöglichkeiten erforscht werden.

1.3.4 Pädagogische Perspektive

Die pädagogische Perspektive betrachtet Behinderung vor allem im Kontext von Bildung und Erziehung. Behinderung stellt die Pädagogik vor die Aufgabe, Bildung und Erziehung trotz oder gerade aufgrund anderer Ausgangsbedingungen zu realisieren. Speck (2016, 74f.) formuliert diesen Zusammenhang:

„Was pädagogisch zu gestalten ist, bestimmt sich nicht primär oder allein von der Behinderungsart her, der ein Kind zugeordnet wird, und von Normen einer Behinderungs- oder Defizitorientierung, sondern hat sich umgekehrt daran zu orientieren, was ein Kind pädagogisch braucht, um trotz seiner Lernhindernisse die ihm möglichen Persönlichkeits- und Sozialkompetenzen (Fertigkeiten, Einstellungen) zu erlangen, die ihm eine sinnvolle soziale Teilhabe an seiner Lebenswelt ermöglichen.“

Pädagogik legt also den Fokus auf die Lernmöglichkeiten und die entsprechende Gestaltung der Lernumwelt, um den Lernprozess zu fördern. Dabei werden individuell verschiedene Möglichkeiten und individuell adäquate Erziehungs- und Bildungsziele und Methoden betrachtet.

Erziehung und Bildung

Die pädagogische Sichtweise fokussiert vor allem die Aufgabe der Erziehung und Bildung sowie Lernmöglichkeiten und -umgebungen, die entsprechend den individuellen Möglichkeiten, Bedürfnissen und Ressourcen gestaltet werden. Dabei spielen spezifische Anregungen und Unterstützungsangebote, z. B. didaktisch / methodische Prinzipien für Bildung und Unterricht eine Rolle, wie beispielsweise Elementarisierung, Anschaulichkeit, Strukturierung, Lebensnähe, Individualisierung und adaptives Lernen (Stöppler / Wachsmuth 2010, 50ff.). Die pädagogische Sichtweise stellt nicht die Behinderung in den Mittelpunkt der Betrachtungen: Primäres Interesse hat die Beeinträchtigung von Bildung und Erziehung, daher bezeichnete Bleidick (1984, 186) Behinderung als „intervenierende Variable“ im Erziehungsprozess und führt als Beispiel die / den SchülerIn mit Körperbehinderung an, die / der aus medizinischer Sicht durchaus behindert ist, aber am Gymnasium lernzielgleich unterrichtet wird und demnach im pädagogischen Sinne nicht behindert ist. Erziehung und Bildung kann auch ohne Vorliegen einer nachweisbaren Schädigung beeinträchtigt sein. Der Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung ist aus pädagogischer Sicht äußerst heterogen, denn der besondere Bildungs- und Erziehungsbedarf kann als Resultat spezifischer Lebenssituationen, unter den Bedingungen einer organischen Schädigung sowie gesellschaftlicher Erwartungen und Zuschreibungen gesehen werden (Fornefeld 2013, 91f.).

Zusammenfassung

Der pädagogischen Perspektive dieses Buches liegt eine kompetenz- und entwicklungsorientierte Sichtweise zugrunde, die von lern- und entwicklungsfähigen Individuen ausgeht. Dabei wird der Begriff „Menschen mit geistiger Behinderung“ beibehalten, um einen notwendigen Begriff zu nennen und einen möglichst respektvollen Umgang zu gewährleisten.


Fornefeld, B. (2013): Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik, 5. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel


Speck, O. (2016): Menschen mit geistiger Behinderung: Ein Lehrbuch zur Erziehung und Bildung, 12., überarb. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel


Übungsaufgaben zu Kapitel 1

Aufgabe 1

Welche der im Kasten in Kapitel 1.1 genannten Begriffe enthalten stigmatisierende und vorurteilsbehaftete Inhalte? Welche sind exklusiv / inklusiv?

Aufgabe 2

Versuchen Sie, eine eigene Definition von geistiger Behinderung zu entwerfen.

Aufgabe 3

Schauen Sie sich einen der folgenden Spielfilme an, in denen geistige Behinderung thematisiert wird. Wie werden Menschen mit geistiger Behinderung dargestellt?

Die Kunst, sich die Schuhe zu binden (2011). Regie: Lena Koppel

Im Weltraum gibt es keine Gefühle (2010). Regie: Andreas Öhmann

Me too – Wer will schon normal sein? (2009). Regie: Álvaro Pastor Gaspar, Antonia Naharro

Ben X (2007): Regie: Nic Balthazar

Freakstars 3000 (2003). Regie: Christoph Schlingensief

Verrückt nach Paris (2002). Regie: Pago Bahlke, Eike Besuden

Einführung in die Pädagogik bei geistiger Behinderung

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