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Leos Sicht der Wissenschaft als Berufsfeld

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Zu Leo Borchert, ihrem Onkel, pflegte Amisha eine enge und vertraute Beziehung. Auch ohne Taufe oder andere religiöse Rituale galt Leo nach familiärer Übereinkunft seit ihrer Geburt als ihr Patenonkel. Eine Aufgabe, der er gerne und mit echtem Engagement nachkam.

Neben den Gesprächen mit ihren Eltern und Freunden suchte Amisha bei vielen Fragen immer wieder den Rat ihres Onkels. Obwohl er geizig war mit voreiligen Ratschlägen, so war er doch ein verlässlicher und guter Zuhörer, der vertiefende und zum Nachdenken anregende Fragen stellte oder ihr einfach zu einigen ihrer Anliegen seine Wahrnehmung spiegelte.

Bei ausdrücklich erbetenen Ratschlägen verhielt er sich dagegen eher zurückhaltend und meinte dazu lapidar: „Manche Ratschläge sind mitunter wie Schläge. Aber ich bin kein Schlägertyp!“

Wenn es aber um sehr konkrete, lebenspraktische Dinge ging, dann hatte er durchaus hin und wieder einen guten Rat, eine Empfehlung oder einen Tipp parat. Gerade diese unaufdringliche, zurückhaltende Art schätzte Amisha an ihrem Onkel.

Nach elf Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Doktorand und PostDoc in der Erziehungswissenschaft hatte er einige Jahre als Leiter des Bereiches Personal- und Organisationsentwicklung in einem großen deutschen Forschungszentrum gearbeitet. Ausgestattet mit diesem Erfahrungsschatz und einem entsprechenden Netzwerk machte er sich später selbstständig. Auf Grundlage einer Weiterbildung als systemischer Organisationsberater und seinen Erfahrungen im Wissenschaftssystem bot er seine Dienste als Personalentwickler, Trainer, als Coach für Teams und Einzelpersonen und als Konfliktmoderator vorwiegend wissenschaftlichen Einrichtungen an.

Als solcher lernte er über viele Jahre zahlreiche Universitäten und außeruniversitäre Forschungsinstitute kennen. Seine Klientel bestand aus allen Zielgruppen dieser Organisationen, etwa administrative und technische Fachkräfte, vor allem jedoch aus wissenschaftlichem Personal aller Hierarchiestufen. Insofern war Leo für Amisha immer ein erfahrener Ansprechpartner, gerade wenn es um akademische Fragen ging oder die berufliche Entwicklung innerhalb und außerhalb der Wissenschaft.

Vor einiger Zeit drehte sich auf einem Familientreffen das Gespräch um das Thema Wissenschaft und Forschung als Berufsfeld. Schließlich hatten alle Anwesenden eine akademische Ausbildung genossen oder sie standen mittendrin: Amishas Eltern und ihr Onkel Leo, ihr jüngerer Bruder Niko, der Betriebswirtschaft studierte, ihre jüngere Schwester Rojana, die vor Kurzem ihr Germanistikstudium begonnen hatte, und Amishas Freund Sinan, der gerade eine Doktorandenstelle an einem Institut für experimentelle Physik angetreten hatte.

Nachdem die Anwesenden einige der guten und weniger erbaulichen Erfahrungen in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Einrichtungen ausgetauscht hatten, meinte Leo: „Der Bereich Wissenschaft und Forschung ist meiner Meinung nach einer der interessantesten und vielseitigsten Berufszweige, die man sich denken kann. Das gilt zumindest für alle die Menschen, die sich für Natur und Technik, Gesundheits-, Lebens-, Geistes- oder Sozialwissenschaften interessieren, oder – wie Niko etwa – für die Wirtschaftswirtschaft. Das gleiche gilt für all jene, die forschungsrelevante und wissenschaftsorientierte Kompetenzen erlangen wollen im Bereich der Rechtswissenschaft, der Philosophie oder etwa in kulturwissenschaftlichen Fachbereichen.

Schließlich sind die Universitäten nicht nur die ältesten, sondern gleichermaßen die gründlichsten und anspruchsvollsten Lehr- und Bildungseinrichtungen der Welt. Das Gleiche gilt heute natürlich für viele außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, welche diese Tradition außerhalb der Universitäten ergänzen.

In der Tat begegnen einem in der Wissenschaft oftmals hochintelligente, smarte und nicht nur begabte, sondern nicht selten wirklich begnadete Menschen. Sie stellen extrem kluge Fragen, entwickeln vielversprechende Hypothesen, erschaffen raffinierte Methoden, analysieren ihre Daten und Beobachtungen exakt und nachvollziehbar, sie publizieren brillante Erkenntnisse und schaffen Großartiges und Neues. Wenn du diese Merkmale bei wissenschaftlich tätigen Menschen feststellst, sagst du ‚Chapeau!‘ und verneigst dich ehrfürchtig im Stillen. Und als Steuerzahler stellst du fest, dass deine ungeliebten und dir hartnäckig abgerungenen Steuerabgaben in solchen Forschungsdisziplinen doch wirklich gut und nachhaltig aufgehoben sind.

Auch aus diesem Grund habe ich nach meinem erziehungswissenschaftlichen Studium ausschließlich im wissenschaftlichen Umfeld gearbeitet und ich bereue dies nicht. Im Gegenteil: Würde eine höhere Macht oder mein Schicksal bestimmen, dass ich noch einmal geboren werde, dann würde ich diese Entscheidung ohne Zögern wieder treffen. Und nebenbei gesagt: Ich kenne viele, die dies ähnlich sehen wie ich.

Eine gute akademische Ausbildung an einer Hochschule ist schließlich der erste Schritt für junge Menschen in diesen Bereich. Nach dem Studium stellt sich dann die Frage, ob man sich dort weiterqualifizieren möchte oder den Abzweig nehmen will in einem Beruf außerhalb von Wissenschaft und Forschung. Andererseits kann ein längerer oder gar dauernder Verbleib im Wissenschaftsumfeld eine wirklich attraktive Option sein. Insofern ist ja nicht verwunderlich, dass Sinan diesen Schritt mit seiner Promotionsstelle gerade gemacht hat und dass Amisha aktuell darüber intensiv nachdenkt.

Bei allen Entscheidungen und gerade bei beruflichen Optionen sollte man aber im Vorfeld recht gut überlegen, worauf man sich mit seiner Entscheidung einlässt. Nach meiner Erfahrung gibt es kein Paradies auf Erden, weder im Wissenschaftsumfeld noch außerhalb. Und so hat jedes System seine Licht- und Schattenseiten. Speziell im Wissenschaftsbereich sind oftmals, wie in anderen Branchen und Arbeitsgebieten, Licht und Schatten, Schein und Sein nicht weit voneinander entfernt.“

„Du bist mal wieder sehr allgemein und abstrakt unterwegs!“, meinte Ben, Leos Bruder. „Was genau ist denn in der Wissenschaft so speziell, ambivalent und widersprüchlich? Kannst du das nicht mal kurz und prägnant zusammenfassen?“

„Kurz zusammenfassen ist leicht gefordert“, entgegnete Leo. „Es wäre um ein Vielfaches einfacher, gleich ein ganzes Buch darüber zu schreiben. Ich bin sicher, es würde recht umfänglich.“ Leo seufzte. „Aber lass es mich einmal versuchen. Ich werde mein Bestes geben, es einigermaßen schlüssig und erschöpfend, wenn auch schlagwortartig, zusammenzufassen.“ Er hielt eine Hand auf Schulterhöhe und begann mit der anderen, seine Finger abzuzählen:

„Erstens, und das ist wirklich sehr wissenschaftsspezifisch: Es gibt wohl mit Ausnahme des Sports keinen Bereich, der so kompetitiv, also derartig wettbewerbsorientiert ist, wie der Wissenschaftsbetrieb. Die Ursache dafür liegt darin, dass die Universitäten ebenso wie die Forschungsinstitutionen der deutschen Forschungsverbünde laut Auftrag und entsprechend ihrer Mission sozusagen bildungsorientierte ‚Durchlauferhitzer‘ sind.

Viele Insider hören den doch sehr technischen Begriff Durchlauferhitzer nicht gerne. Aber nüchtern betrachtet ist es so: Die Beschäftigten kommen und verweilen als Student:innen, Praktikant:innen, später dann als Bachelor- oder Masterabsolvent:innen, als Promovierende oder nach ihrer Dissertation als sogenannte PostDocs im Wissenschaftsbetrieb. So in etwa gestaffelt steigen die Studienabsolvent:innen also auf und qualifizieren sich weiter, vielleicht sogar bis hin zu einer Professur. Der akademische Durchlauferhitzer sorgt also für die bildungsbezogene Aufladung der fachlichen Qualifikation und Potenziale.

Nun will aber nicht jeder Mensch, der in dieses System eintritt, dort verbleiben. Viele machen ihren Abschluss oder ihre Promotion nicht, um in der Forschung zu verweilen, sondern um mit ihrem akademischen Abschluss oder Titel in die Wirtschaft, die Verwaltung, die Politik oder in die Freiberuflichkeit zu wechseln und dann dort erfolgreich ihre Brötchen zu verdienen. Auch dort braucht es schließlich wissenschaftlich gut ausgebildete Fachkräfte.

Dem Prinzip eines Durchlaufsystems folgend muss die Menge der einströmenden Materie wieder hinaus, weil das System ansonsten nicht funktioniert. Passiert das nicht, drohen physikalisch gesehen Überhitzung und Überdruck.

Natürlich braucht das Wissenschaftssystem Nachwuchs.Anforderungen an Nachwuchskräfte Es benötigt Ersatz für ausscheidende Fachkräfte, Expert:innen für neue Forschungsthemen und -aufgaben oder frische Talente mit neuen Ideen und dem nötigen Ehrgeiz. Sie sollen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen beitragen und sich durch ihre Arbeitsergebnisse und damit verbundene Publikationen oder andere Auszeichnungen wissenschaftlich hervortun und qualifizieren.

Wenn man sich die entsprechenden öffentlich zugänglichen Statistiken anschaut, kann man feststellen, dass letztlich nur für knapp 20 Prozent der Menschen, die in das Wissenschaftssystem eintreten, auf Dauer Platz bleibt. Ergo: 80 Prozent müssen sich nach einer gewissen Zeit nach anderen Tätigkeitsfeldern umsehen, unabhängig davon, ob sie lieber bleiben wollen oder nicht.

Genau aus diesem Grund gibt es ein spezielles Arbeitsmarktinstrument für den Wissenschaftsbereich. In Deutschland trägt es den sperrigen Namen ‚WissenschaftszeitvertragsgesetzWissenschaftszeitvertragsgesetz‘. Das Äquivalent dazu gibt es im Rahmen des UniversitätsgesetzesUniversitätsgesetz (Österreich) ebenfalls in Österreich und in der Schweiz gelten ähnliche Restriktionen. Die dafür geschaffenen gesetzlichen Grundlagen sind recht komplex und verändern sich stetig.

Um es kurz zu machen und nicht auf die zahlreichen Ausnahmen und Sonderregelungen einzugehen – diese Vorschriften besagen Folgendes: Wissenschaftliche Beschäftigte, egal ob einfache wissenschaftliche Fachkraft, Doktorand:in oder PostDoc, dürfen über verschiedene Einzeltätigkeiten und die damit verbundenen Arbeitsverträge in Deutschland zusammengerechnet nicht länger als maximal zwölf Jahre zeitlich befristet beschäftigt werden. Speziell für den medizinischen Bereich gelten 15 Jahre, weil hier das Studium bis zur Approbation längere Zeit in Anspruch nimmt.

Mit anderen Worten: Ist die Maximalzeit ausgeschöpft, muss die Forschungsorganisation den betroffenen Beschäftigten entweder eine DauerstelleDauerstelle anbieten oder die Betroffenen müssen sich deshalb sechs Jahre nach der Promotion beziehungsweise neun Jahre nach der Dissertation in einem medizinischen Fachgebiet eine anderweitige Beschäftigung außerhalb des Wissenschaftsbetriebes suchen. Das gilt selbst dann, wenn sie lieber im Wissenschaftsbereich bleiben wollen.

Das bedeutet, dass alle, die als unbefristete Beschäftigte oder gar als verantwortliche Gruppen- beziehungsweise Abteilungsleiter oder im sicheren Wissenschaftsolymp als Professor oder Professorin in der Wissenschaft verbleiben wollen, einem sehr sportlichen Wettbewerb ausgesetzt sind. Im Götterhimmel der Wissenschaft, in der Professorenschaft, bedeutet dies, dass nicht selten auf eine ausgeschriebene Stelle zehn, 20 oder 30 Bewerbungen eingehen. Bei richtig guten vergleichbaren Positionen ist es nicht viel anders.“

„Mon dieu!“, seufzte Amishas Mutter Saira. „Das klingt ja alles nicht sehr viel anders als die Verhältnisse im Wissenschaftssystem meiner Heimat Indien. Ich glaube, ich brauche jetzt erst einmal ein Glas Wein. Möchte jemand sonst noch Wein, Tee, ein Bier oder Wasser?“

Nachdem alle mit Getränken, Häppchen und Gebäck versorgt waren, drängten die Anwesenden Leo seine Sicht auf die Bedingungen im Wissenschaftsbereich fortzusetzen.

„Der zweite Punkt ist verbunden mit dem ersten, dem genannten Wetteifer. Es geht dabei um das beständige Messen und Vergleichen, das mit jedem Wettbewerb einhergeht.

Früher, als in den 1970er- und 1980er-Jahren überall verhältnismäßig viele Steuermittel im politischen System vorhanden waren oder einfach auf Pump hineingesteckt wurde, reichte es, irgendwie ein guter Wissenschaftler zu sein oder für einen solchen gehalten zu werden. Mit zunehmender Knappheit der Stellen und Mittel stieg jedoch beständig der Druck des Wettbewerbes.

Nun reichte es nicht mehr, gut zu sein, sondern man hatte mindestens als exzellent zu gelten. Aus dem Lateinischen kommend bedeutet ExzellenzExzellenz bekanntlich nichts anderes, als überdurchschnittlich gut zu sein. Also musste man zum Aufstieg oder Verbleib in der Wissenschaft überdurchschnittliche Leistung nachweisen. Und da Klugheit, Brillanz oder die Wahrscheinlichkeit der Erlangung eines Nobelpreises schlecht messbar sind, einigte man sich auf etwas profanere Kriterien.

Jetzt hieß es, sich im Wettbewerb zu behaupten durch die Anzahl der Publikationen oder die Häufigkeit der Zitierung dieser Veröffentlichungen, der erfolgreichen Einwerbung von Forschungsmitteln, der Anzahl der Ehrungen, Preise oder Einladungen zu wichtigen Tagungen oder Kongressen und ähnliche solcher Wettbewerbskriterien.

Als dann der Begriff Exzellenz etwas zu abgegriffen erschien, ersetzte man ihn durch den Qualitätsanspruch outstanding. Semantisch ist das zwar das gleiche wie exzellent, klingt aber irgendwie moderner und internationaler.

Durch diesen Anspruch waren Wissenschaftler:innen und deren Organisationen mit erheblichem Aufwand damit zugange, sich selbst und anderen die notwendige Exzellenz zu bescheinigen. In der Folge gab es faktisch nur noch durchschnittliche gute oder eben exzellente Institutionen, wobei erstere langsam und diskret abgewickelt oder zumindest geschrumpft wurden. Die restlichen Institutionen – geschätzt etwa 85 Prozent der Einrichtungen – erhielten hingegen in Gänze oder teilweise den Exzellenz- oder Outstanding-Status.

Um diesem inflationär gewordenen Bewertungssystem etwas entgegenzusetzen, einigte man sich erneut auf den neuen Qualifikationsstatus unique, also einzigartig. Wer heute eine wirklich abgesicherte Existenzberechtigung erreichen will, muss also irgendwie nahezu einzigartig sein. Wodurch und womit auch immer; ein jeder auf seine Art.

Derlei Behauptungs- und Verdrängungswettbewerb ist im wissenschaftlichen Bereich aber wahrlich nicht neu. Dazu ein kleiner Ausflug in die Geschichte: Um an einer Universität eine Lehrbefugnis zu erhalten, also praktisch Professor:in zu werden, reichte früher, je nach Fachgebiet und Fakultät, der akademische Abschluss als Magister oder Doktor. Letzteres heißt ja bekanntlich auf gut Deutsch nicht mehr als ‚der oder die Gebildete‘.

Erst im napoleonischen Zeitalter setzte sich die HabilitationHabilitation durch; sozusagen als zweite akademische Hürde. Dies geschah vor allem deshalb, weil es schlicht viel mehr Magister oder Doktoren gab, als für den Lehr- und Wissenschaftsbetrieb nötig – und erst recht, um die raren Spitzenämter zu besetzten. Jetzt brauchte man also als zusätzliche Befähigung eine Habilitation, um die sogenannte Venia LegendiVenia Legendi beziehungsweise in Österreich oder der Schweiz die Venia DocendiVenia Docendi zu erlangen. Erst mit dieser Auszeichnung hatte man dann die Weihen erlangt, um in die sicheren Sphären des Forschungs- und Lehruniversums aufgenommen zu werden. Man sieht, der Wettbewerb in der Wissenschaft hat eine lange Tradition.

Zurück zur Neuzeit: Wer heute unbefristete oder gar verantwortliche Stellen in Wissenschaft und Forschung mit entsprechender Raum-, Mittel- und Personalausstattung bekleiden will, muss sich in diesem Wettbewerb erfolgreich behaupten als außergewöhnlich gut, exzellent oder gar als einzigartig. Oder man schafft es mit Ausdauer und Geschick, längerfristig so überzeugend zu wirken, als ob man es wäre. Auch solche Fälle gibt es vereinzelt im Wissenschaftsbetrieb.

Damit meine bereits beschriebene persönliche Begeisterung für dieses Berufsfeld nicht vergessen wird, möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen: Die Arbeit im Bereich Wissenschaft und Forschung kann sehr motivierend sein und sich für viele Menschen als nachhaltig erfolgreich und erfüllend erweisen. Aber die Rahmenbedingungen sind ähnlich beschwerlich wie im Sport oder im künstlerischen Bereich.

Selbst im Leistungssport schafft es bekanntlich nicht jedes Talent trotz Begabung, Fleiß und Leidensfähigkeit in eine gute, sichere und auf Dauer existenzsichernde Position zu kommen. Letztlich ist dies ja überall so im Arbeits- und Erwerbsleben, wo die Konkurrenz groß ist und die angestrebten Stellen selten sind. Henry Ford soll einmal gesagt haben: ‚Erfolg besteht darin, dass man genau die Fähigkeiten besitzt, die im Moment gefragt sind.‘ Wenn die Fähigkeiten dazu nicht ganz hinreichend sind oder das richtige Momentum fehlt, wird es schwierig mit der nachhaltigen Sicherung des Berufswunsches.

Drittens: Hier muss ich aufpassen, nicht zu klagen, denn von diesem Tatbestand lebe ich letztlich als Berater, Trainer und Coach im Wissenschaftsbereich. In einem weiteren Bereich unterscheidet sich der Wissenschaftsbetrieb von anderen Organisationen in der Verwaltung oder der freien Wirtschaft: Viele Wissenschaftler:innen, selbst solche in höheren Positionen, sind für breite Bereiche ihres Tuns und Schaffens nicht wirklich solide ausgebildet. Die Folge dessen spüren viele Insider des Wissenschaftsbetriebes mehr oder weniger, früher oder später irgendwann am eigenen Leib.“

„Wie meist du das?“, fragte Niko, Amisha Bruder. „Die meisten Wissenschaftler:innen haben doch ein Bachelor- und darauf aufbauend ein Masterstudium hinter sich gebracht. Sie haben einige Jahre als Doktorand:innen und vielleicht weitere Jahre als junge PostDocs Erfahrungen gesammelt und sich enormes Wissen angeeignet. Manche haben sich sogar habilitiert und sind als Hochschullehrer:in oder Dozent:in tätig. Mit diesem Pensum sollte man doch ausreichend gut ausgebildet und erfahren sein.“

„Vollkommen richtig!“, entgegnete Leo. „Aber das betrifft ausschließlich die fachliche, wissenschaftliche Ausbildung. Wenn du jedoch in der wissenschaftlichen Ausbildung das Gröbste hinter dir hast, beginnst du, mehr und mehr Verantwortung zu übernehmen. Irgendwann leitest du eigenständig Projekte, vielleicht leitest du eine kleine Gruppe an oder du betreust selbst schon Auszubildende im Praktikum oder Studierende.

Später bekommst du vermutlich formale Führungsverantwortung für deine Mitarbeitenden. Deine Aufgaben und Verantwortung summieren sich mit der Zeit. Und dann stellst du irgendwann fest, dass du Organisations- und Managementkompetenzen brauchst, wie etwa eine strategische Planung, ProjektmanagementProjektmanagement, KonfliktmanagementKonfliktmanagement für den Umgang mit Kolleg:innen, Mitarbeitenden und Kooperationspartner:innen oder dass du Elemente des Changemanagements einsetzen musst, wenn es hin und wieder Organisationsstrukturen, Teams oder Prozesse zu verändern gilt.

Spätestens dann merkst du – das ist zumindest zu hoffen und zu wünschen –, dass du fachlich top bist, aber im Bereich der eben genannten Themen ziemlich auf dem Schlauch stehst. Dann wird immer offensichtlicher, dass du wenig Konkretes und Praktisches gelernt hast über den erfolgreichen Umgang mit Prozessen, Organisationen, Menschenführung oder über den Umgang mit deinem Selbst- und Zeitmanagement.

In den meisten Bereichen der Verwaltung und erst recht in der Wirtschaft und Industrie werden angehende Führungskräfte und verantwortliche Manager erst einmal gründlich aus- oder weitergebildet, bevor sie als Führungskraft oder im sogenannten Management auf die Menschheit losgelassen werden.

Im Wissenschaftssystem ist es hingegen so, dass offensichtlich die Meinung vorherrscht, dass die oberen Hierarchien diesbezüglich klug genug seien und entsprechende Weiterqualifikationen nicht brauchen. Fragt man dann aber das wissenschaftliche oder wissenschaftsnahe Personal wie Laborand:innen, Techniker:innen oder Sachbearbeiter:innen im administrativen Bereich, dann zeigen sich viele der Beschäftigten demotiviert und enttäuscht von ihrer jeweiligen Führungsebene.

Ende der sogenannten Nullerjahre, ich glaube es war 2009, erschien dazu eine Studie meiner Kolleg:innen Boris Schmidt und Astrid Richter in der Deutschen Universitätszeitung. Wenn ich recht erinnere, lautete der Titel: ‚Das FührungszeugnisFührungspraxis an Universitäten‘. Untersucht wurde das Führungsverhalten von Führungskräften an deutschen Universitäten. Und das Ergebnis war traurig bis desaströs. Wenn es jemand von euch interessiert, kann ich euch den Artikel gerne per E-Mail schicken. Jedenfalls zeigten sich in dieser Studie viele Beschäftigte an den Universitäten sehr unzufrieden mit ihren Führungskräften. Mittlerweile kamen weitere solche Studien leider zu ähnlichen Ergebnissen. Die logische Folge: Man muss in der Tat damit rechnen, im Umfeld von Wissenschaft und Forschung mit relativ spärlich kompetenten Führungskräften konfrontiert zu werden.

Dies ist umso gravierender, als dass eben diese Führungskräfte durch den andauernden Wettbewerb des Systems eher weniger Kapazitäten haben für wissenschaftsfremde Tätigkeiten wie Führung, Organisation oder Teammanagement.

Viertens, und das ist nicht nur seltsam, sondern ärgerlich: Es gibt hin und wieder selbst in der Wissenschaft Organisationen, die beständig die Wirksamkeit des sogenannten Peter-PrinzipPeter-Prinzip unter Beweis stellen. Dieses, nach dem Lehrer und Berater Laurence Peter genannte Gesetz besagt sinngemäß: Hierarchisch ausgeprägte Organisationen neigen dazu, Beschäftigte so lange zu befördern, bis deren höchstmögliche Stufe der Inkompetenz erreicht ist.

Das heißt, dass des Öfteren Menschen in Positionen kommen, in welchen sie mindestens so viel oder gar deutlich mehr Unheil anrichten, als sie Gutes beitragen.

Man findet sie dann in technischen Abteilungen, der Administration oder mitunter sogar im wissenschaftlichen Bereich. Das Schlimmste daran ist, dass meist nichts geschieht; gleichwohl dies in der Regel oft nicht unbemerkt bleibt.

Niemand aber möchte für solche Fehlbesetzungen und fatale Personalentscheidungen später die Verantwortung übernehmen und den Fehler korrigieren. Weder obere Hierarchien noch politisch verantwortliche Institutionen rühren sich. Die Folge: Viele gute Mitarbeiter wenden sich irgendwann demotiviert und desillusioniert ab und verlassen, falls ihnen das möglich ist, die Organisation. Beständig in einem Bereich zu arbeiten, der schlecht geführt wird und/oder dysfunktional organisiert ist, ist auf Dauer schwer zu ertragen.

Zugegeben: Dieses Phänomen ist prinzipiell durchaus ebenso in der Wirtschaft und Industrie anzutreffen. Tendenziell ist es aber weit mehr im öffentlichen Dienst verbreitet, zu welchem letztlich der größte Teil des Wissenschaftsbetriebs gehört. Vielleicht sind solche Umstände im Wissenschaftsumfeld auffälliger und ärgerlicher, weil man denkt, hier seien mehr Klugheit und Rationalität am Werk. Stattdessen ‚menschelt‘ es aber hier genauso wie anderenorts.“

Leo nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Wasserglas und schaute in die Runde. „Na, wer von euch jüngeren Semestern hat noch Lust und Mut für eine Zukunft im Wissenschaftsbetrieb?“

„Gegenfrage“, konterte Amisha, „gibt es denn Menschen in deinem Wirkungskreis, denen du unter diesen Umständen guten Gewissens empfehlen würdest, ihre berufliche Zukunft im Bereich Wissenschaft und Forschung anzustreben?“, fragte sie und blickte Leo erwartungsvoll an.

„Aber ja, auf jeden Fall!“, entgegnete Leo annähernd enthusiastisch. „Hatte ich das nicht zu anfangs bereits gesagt? Die Arbeit im Wissenschaftsumfeld kann sehr erfüllend sein, kreativ, motivierend und in der Summe für nicht wenige Menschen durchaus erfolgsversprechend und zukunftsträchtig.

Aber es ist wie mit allen Entscheidungen im Leben: Man sollte vor allen Entscheidungen, die man zu treffen hat, auch die Nebenwirkungen seiner Entscheidungen kennen. Man sollte genau wissen, auf was man sich einlässt und mit welchen Rahmenbedingungen man zu rechnen hat.

Wer meint, man finde im Wissenschaftsumfeld das reine Glück auf Erden, der wird sich irgendwann vermutlich enttäuscht abwenden. Wer aber weiß, was ihn erwartet, sich wappnet, sich vorbereitet und bereit ist, den Hindernissen zu trotzen, der kann durchaus zufrieden werden oder sogar glücklich im Umfeld von Wissenschaft und Forschung.“

Die Entscheidung

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