Читать книгу Träume - Spiegel der Seele, Krankheiten - Signale der Seele - Reinhold Ruthe - Страница 46

Nackt auf der Kanzel

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Ein Pfarrer, seit zwei Jahren im Amt, träumt eines Nachts einen kurzen, aber eindrücklichen Traum:

»Es ist Sonntag, der Gottesdienst läuft, ich stehe auf der Kanzel und verlese den Text. Ich habe mir eine glänzende Predigt zurechtgelegt. Viele Ausleger habe ich zu Hilfe genommen. Ich sehe mich gestikulieren.

Plötzlich lacht die Gemeinde. Es wird unruhig. Keiner hört mir richtig zu. Ich bin verwirrt. Als ich an mir herunterschaue, entdecke ich, dass ich oberhalb der Kanzelbrüstung einwandfrei angezogen bin, aber darunter bin ich nackt. Der Talar geht nur bis zu den Knien. Ich gebe eine komische Figur ab. Und die Kanzel ist aus Glas. Ich rede noch und bin schweißnass und weine.«

Was bringt der Traum zur Sprache?

a) Der rote Faden in Traum und Problem

Pfarrer G. ist seit zwei Jahren als Gemeindepastor im Amt und unglücklich. Er sucht die Beratung auf, um eine Bestandsaufnahme seines Lebens zu machen. Er hat lange Theologie studiert und einige Semester »verschlampt«, wie er sagt. Immer wieder hat ihn die Frage beschäftigt: »Bist du eigentlich von Gott berufen?« Er ist ein gründlicher Mann, der nicht leichtfertig Theologie studiert hat. Was er macht, will er ganz machen. Noch ist er unverheiratet, weil er auch da nicht eine x-beliebige Partnerin wählen will, sondern eine Frau, die Gott für ihn auserwählt hat.

b) Der Anlass für den Traum

Pfarrer G. wollte über einen Text mit dem Thema »Erwählung« predigen. Er sah sein eigenes Lebensthema mit dem Text verwoben. Schon Wochen vor der Predigt sammelte er Auslegungen, besuchte die theologische Bibliothek und schrieb Predigteindrücke auf ein Blatt Papier. In der Nacht von Samstag auf Sonntag hatte er den besagten Traum. Sonntag sollte er die Predigt halten.

c) Haupteindruck des Traumes

»Ich stehe blamiert da. Ich bin ein Versager.« Der Pfarrer stellt die Blamage und das Versagen als Haupteindruck dar. Sein Lebensgefühl, von Gott nicht bestätigt zu sein, scheint der Traum auch deutlich zu machen. Das alles vermittelt mir der Ratsuchende.

d) Die glänzende Predigt

Pfarrer G. ist äußerst gewissenhaft. Seine Predigten werden gründlichst vorbereitet. Tagelange Arbeit investiert er in eine zwanzigminütige Ansprache.

»Lassen Sie Ihre glänzende Predigt sprechen?« ermutige ich ihn. Und er sagt, dass die biblischen Texte exegetisch sauber erarbeitet würden, bevor er sie für die Predigt zurechtschnitte. Es handele sich aber um viel angelesenes Wissen. Er habe schon den Eindruck, dass seine Predigten »äußeren Glanz« verrieten, aber ihm fehle der geistliche Funke.

e) Was bedeutet die Entblößung?

Hier wird das Lebens- und Glaubensproblem des Pfarrers deutlich. Er will überdurchschnittliche Predigten liefern. Sie sollen äußerlich glänzen und vollmächtig den Hörer treffen. Er hadert mit Gott, dass er nicht ein vollkommener Prediger ist. Er hadert mit seinem Leben, dass er diese Vollkommenheit als Gemeindepfarrer nicht aufweisen kann. Er glaubt, ein Seelsorger und Verkündiger müsse ein tadelloses Vorbild für die Gemeinde sein.

f) Er ist oberhalb der Kanzelbrüstung einwandfrei angezogen

Pfarrer G. entdeckt selbst im Traum, dass er oberhalb der Brüstung »einwandfrei angezogen« ist.

»Wie verstehen Sie sich selbst oberhalb der Brüstung?«

Ihm fällt dazu ein, dass er mit dem Intellekt und mit der Vernunft nicht auf Kriegsfuß lebt. Diese Teile seiner Persönlichkeit helfen ihm, eine »glänzende Predigt« zu halten. Aber er will mehr. Er will nicht nur äußerlich beeindrucken. Er will die Herzen anrühren. Seine Vergangenheit in einem frommen christlichen Jugendverband legt ihm nahe, so zu predigen, dass Menschen sich bekehren. Ihm liegt daran, Menschen wachzurütteln und vor die Entscheidung für oder gegen Christus zu stellen.

g) Die Kanzel ist aus Glas

Pfarrer G. fühlt sich durchschaut. Er gibt eine komische Figur ab. Seine christliche Existenz ist nicht makellos. Die Gemeinde sieht, dass nicht alles in seiner Persönlichkeit stimmig ist. Er glaubt, die Gemeinde lache über seine bloßen Stellen. Er möchte hundertprozentig ernst genommen werden. Sein Eindruck ist, er stehe Gott und der Gemeinde im Wege, seine Blößen machten ihn für das Pfarramt untauglich.

h) Hilfreiche Träume

Pfarrer G. weint, als er aus dem Traum erwacht. Ich konfrontiere ihn mit den letzten Aussagen. »Was sagt der Traum?«

Er sei für die Gemeinde untragbar. Seine »komische Figur« sei eine Zumutung für die Gemeinde.

Wir fassen noch einmal seine Gedanken zum Traum zusammen und suchen den roten Faden, der Traum und Problem verbindet.

Da wird dem jungen Pfarrer deutlich:

 Er glaubt, sich der Gemeinde nicht zumuten zu dürfen.

 Er glaubt, Gott suche einen vollkommenen Seelsorger.

 Sein persönliches Vollkommenheitsstreben, sein angestrebter Perfektionismus stehen ihm im Wege.

 Er glaubt, die Gemeinde lache über ihn, weil er seine Blößen für unverzeihlich hält. In Wirklichkeit lieben ihn die Gemeindeglieder, aber er kann und will es nicht glauben.

 Er glaubt, die Gemeinde erwarte einen Prediger, der über alle menschlichen Schwächen und Blößen erhaben ist.

 Er produziert einen Traum, der ihm die Rechtfertigung liefern soll, für das Pfarramt untauglich zu sein. In Wirklichkeit deckt der Traum ein falsches Selbstbild, irrige Glaubensüberzeugungen und eine Erwartungshaltung auf, die völlig überzogen ist. Je mehr er sich zwingt und seine Vollkommenheit beweisen will und muss, desto mehr Blößen kommen ans Licht. Im Lichte des Traumes erkennt er seine Selbstrechtfertigung. Der Traum offenbart einen Lebensstil, der leider vielen ernsthaften Christen zu schaffen macht: Sie wollen selbst und aus eigener Kraft vollkommen sein.

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