Читать книгу Grüße von Charon - Reinhold Vollbom - Страница 10
Der gestohlene Mantel
ОглавлениеIn dieser Stadt gab es nur Platz für ein Syndikat. Aufgrund dessen war Alberto seit einem Jahr damit beschäftigt, die gegnerische Gang zu zerschlagen. Und das erfreulich erfolgreich. Dank Albertos Nachhilfe wanderten die Banden-Mitglieder von Rudolpho Kowalke, nach und nach ins Gefängnis. Erste Gerüchte kamen auf, dass seine Gang bereits unterbesetzt wäre. Für einzelne Coups griff er auf selbständig arbeitende Einzelgänger zurück. Für Alberto war dies das sichere Zeichen, dass Kowalke am Ende war. In Kürze würde er alle Fäden in der Hand halten und sein Syndikat hätte die uneingeschränkte Macht in der Stadt.
Jeden Freitagabend saß Alberto, genauso wie heute, im besten Restaurant der näheren Umgebung: dem Ciruela. »Den Aperitif wie gewöhnlich.« Auf den fragenden Blick der Bedienung sprach er weiter. »Ich erwarte heute einen Gast. Wir werden nachher bestellen.«
Dass man auf ihn ein Kopfgeld ausgesetzt hatte, war für Alberto klar. Ebenso einleuchtend fand er, dass man ihn hierüber in Kenntnis setzte, wer die Absicht hatte sich das Geld zu verdienen. Heute Abend, sobald Alberto das Ciruela verließ, hatte der Mörder vor, ihn zu erschießen. Er kannte den Burschen flüchtig von früher. Wenn ihn die Polizei ertappte und ausquetschte, sang der Kerl. Das passte ausgezeichnet in seine Überlegungen.
»Hallo, wie geht es dir?!«
Alberto war in Gedanken versunken, dass er Manuel Merkur erst bemerkte, nachdem dieser mit einem Mal vor ihm stand.
»Manuel, alter Junge, wie lange haben wir uns nicht gesehen?! Na ja, ist auch egal. Hauptsache wir können mal wieder über die alten Zeiten quatschen, nicht wahr?!«
»Alberto, du willst doch nicht sagen, dass du mich hierher bestellt hast, um mit mir über vergangene Zeiten zu reden?«
Im Grunde hatte Manuel Merkur recht. So viel Gemeinsames hatten die zwei nicht. In Haarfarbe, Aussehen und Körperstatur ähnelten die beiden wie ein Ei dem anderen. In ihrem Charakter waren sie jedoch grundlegend verschieden. Alberto, der knallharte Chef einer Verbrecherorganisation. Manuel Merkur, der Langfinger, den er früher einen Eier-Dieb nannte.
»Manuel, du hast vielleicht davon gehört, dass mein Unternehmen immer größer und größer wird.« Er sah den anderen konzentriert an. Nachdem der keine Reaktion zeigte, sprach er weiter. »Ich brauche also auch mehr Mitarbeiter. Solche, auf die ich mich verlassen kann. Sei ehrlich, so viel gibt es davon in unserer Branche nicht, oder? Du bist einer von denen, die ich einschätzen kann. Ich könnte mir vorstellen, dass du gut in das Team passt …«
»Alberto«, unterbrach ihn Manuel, »Alberto, du weißt, dass ich ein Einzelgänger bin und nur dann aktiv werde, wenn die Kohle knapp wird.«
»Manuel, bei mir kannst du Geld verdienen, so viel du möchtest.«
»Das ist nett von dir gemeint. Aber ich bleibe lieber unabhängig. Mit dem Gesetz möchte ich nur in Konflikt kommen, wenn es ums Überleben geht.«
»Hast du dich schon mal im Spiegel gesehen, Manuel?« Bei den Worten warf Alberto seine Garderobenmarke auf den Tisch. »Da, schau dir in der Garderobe meinen Mantel an. Dieses Kleidungsstück kostet so viel, wie du in zehn Jahren für deine ganze Kleidung zusammen ausgibst. Einen Zweiten habe ich davon zu Haus, wenn dieser in der Reinigung ist. Normalerweise spreche ich über derartige Lappalien gar nicht. Verstehst du, was dir vielleicht entgeht?!«
»Luxusgegenstände brauche ich nur, um sie in bares umzuwandeln. Wirklich, Alberto, ich möchte unabhängig bleiben.«
»Du willst also ein kleiner Eier-Dieb bleiben, der alten Omas das Brot aus der Einkaufstüte klaut?«
»Manchmal mische ich in größeren Vorgängen mit.« Bei diesen Worten öffnete Manuel Merkur sein Jackett.
Alberto bemerkte die sich darunter befindliche Pistole. Unverhohlen erstaunt sah er ihn mit halb geöffnetem Mund an.
Manuel lachte kurz auf. »Ich wusste gar nicht, dass man dich noch so überraschen kann. Hierbei handelt es sich um einen winzigen Fehlschlag«, korrigierte er gleich. »Um dir zu zeigen, dass durchaus auch ein einfacher Taschendieb Geld haben kann, wollte ich dich heute Abend zum Essen einladen. Auf dem Weg hierher hatte ich die Absicht von jemand die Brieftasche auszuborgen. Auf einmal hatte ich statt der Geldbörse dieses Monstrum in der Hand. Du kannst dir meinen Schreck vorstellen. Und damit der andere nichts merkt, musste ich die Pistole auch noch einstecken. Ich weiß zwar wie man mit so einem Teil umgeht, nur arbeiten möchte ich nicht damit. Morgen werde ich sie versilbern.«
Alberto schmunzelte nachsichtig. »Das ist nett von dir, Manuel, aber ich hätte mich soundso nicht von dir einladen lassen. Schließlich habe ich dich hergebeten und somit bist du mein Gast.«
Nach einer unauffälligen Handbewegung von Alberto kam die Bedienung an den Tisch. Beide unterhielten sich zweckmäßig und nüchtern über die unterschiedlichsten Themen. Eines wenigstens war von sofort an tabu: Albertos Angebot an Manuel Merkur.
Draußen schränkte das nächtliche Schwarz die Sichtweite ein. Beide legten sich gesättigt in ihren Stühlen zurück. »Ich werde noch etwas bleiben«, sprach Alberto zu Manuel gewandt. »Du kannst schon gehen. Es war angenehm, mit dir mal zu plaudern.«
Nachdem Manuel Merkur sich formgewandt verabschiedet hatte, begab er sich Richtung Ausgang. Alberto sah ihm mit eisiger Miene hinterher. Er hatte die Garderobenmarke von Alberto unauffällig eingesteckt. – Alles verläuft wie geschmiert, schmunzelte er.
Manuel Merkur war nicht der Zeitgenosse, der in einem Team arbeitete. Das war jedem klar, der diesen Taschendieb kannte. Alberto hatte nicht ernsthaft die Absicht Manuel in seinen Clan aufzunehmen. Der hatte andere Vorteile: Er sah Alberto zum Verwechseln ähnlich. Und hierfür hatte er ihn heute herbestellt. Die Sache mit dem teuren Mantel hatte er ihm erzählt, weil ihm klar war, dass dieser Langfinger sofort darauf abfahren würde. Hätte Manuel Widererwarten Hemmungen gezeigt, Alberto hätte ihm großzügig den Mantel geschenkt. Zugegebenermaßen hatte er ihn für diesen Abend eingeladen, damit er das Lokal mit seinem Kleidungsstück wieder verlässt. Draußen vor der Tür würde ihn der dort lauernde Mörder für Alberto halten.
Die Polizei hatte er durch einen anonymen Anruf wissen lassen, dass heute Abend vor dem Ciruela irgendetwas passiert. Der Mörder würde sofort geschnappt und über kurz oder lang seinen Auftraggeber Kowalke verraten. Das war Albertos Ziel.
Es dauerte nicht lange, bis Alberto einen kurzen scharfen Knall vernahm. Alle im Restaurant Anwesenden starrten gespannt zur Tür. Die Bedienung eilte zum Ausgang. Alberto legte mehrere Geldscheine auf den Tisch und begab sich ebenfalls dorthin.
Obwohl erst eine kurze Zeit seit dem Schuss vergangen war, hatte sich eine schaubegierige Menschentraube, nahe dem Eingang, angesammelt. Sekunden später schoss ein Polizeiwagen um die Ecke.
Alberto drängelte sich zum Kern der Herumstehenden durch. Gleich darauf bemerkte er vor seinen Füßen ein regungsloses Bündel liegen. Hier gab es nichts mehr zu helfen, das sah er sofort.
Schaulustig beugte er sich über den Toten. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren: Der Getötete war nicht Manuel Merkur.
Wiederholt sah er zu der Leiche hinunter. Er erkannte in dem Toten den Mörder, der auf ihn vor der Tür wartete. Weiterhin merklich fassungslos beobachtete Alberto die nähere Umgebung, ob Manuel sich an irgendeiner Stelle aufhielt.
Da, im Halbschatten des Eingangs vom Restaurant, war er der Meinung ihn gesehen zu haben. Alberto kämpfte sich durch das Gewühl der Gaffer.
Je mehr er sich dem Eingang näherte, desto beruhigter reagierte er, dass es sich um den Gesuchten handelte. »Manuel?!«
»Pst!« Die Stimme des Angesprochenen klang eingeschüchtert und angsterfüllt. »Oh, Alberto, es tut mir furchtbar leid. Ich wollte dich nicht bestehlen, glaube mir.« Wimmernd zog er den Mantel aus und gab ihn dem Anderen mit zitternden Händen.
»Schon gut, Manuel. Schon gut.« Alberto zog das Kleidungsstück über und versuchte ihn zu beruhigen. »Was ist passiert, zum Teufel noch mal?« Albertos Augen hefteten sich an Manuels Lippen.
»Ich weiß auch nicht genau. Gerade als ich aus dem Ciruela herauskam, stolzierte dieser komische Bursche auf mich zu. Kurz darauf blieb vor mir stehen und sagte: Das war’s, mein Junge.«
»Und dann?«, hakte Alberto aufgeregt nach.
»Dann griff er in seine Brusttasche und ich dachte, das ist dein Ende, jetzt knallt dieser Kerl dich über den Haufen. Doch plötzlich sah er mich mit weit aufgerissenen Augen starr vor Entsetzen an. Vielleicht nur ein, höchstens zwei Sekunden. In dieser Zeit griff ich in mein Jackett, holte die Knarre raus und drückte ab. Und als ich abdrückte, erkannte ich ihn wieder.«
»Du kanntest ihn?«
»Das war der, dem ich in der Umgebung vom Restaurant die Brieftasche klauen wollte und wo ich plötzlich die Knarre in der Hand hatte. Kapierst du?! Hätte ich dem Kerl nicht die Pistole abgenommen, hätte er mich soeben umgepustet.«
»Verstehe«, war die knappe Antwort von Alberto. »Und jetzt hast du ihn mit seiner eigenen Pistole abgeknallt.«
»Da, dahinten, das ist der Mörder!« Eine keifende ältere Frauenstimme drang von der anderen Straßenseite herüber.
Alberto sah zu dem Niedergeschossenen hinüber. Mittlerweile war der Notarzt eingetroffen. In dem Trubel hatte bisher kaum jemand die Alte wahrgenommen, die mit heftigen Drohgebärden die Straßenseite wechselte.
»Los, Manuel, hau ab! Noch ist es nicht zu spät. Verschwinde! Da vorn in den Hauseingang.« Kaum das er die Worte ausgesprochen hatte, war dieser wie vom Erdboden verschluckt.
Alberto hatte sich wieder dem Menschenknäuel genähert. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er die Alte, wie sie sich schnurstracks einen Weg zu ihm bahnte.
»Das ist der Mörder! Verhaften Sie ihn! Ich habe genau gesehen, wie er den Burschen niedergeschossen hat.«
Mit einem Mal waren alle Augen auf Alberto gerichtet. »Die Alte spinnt«, lächelte er. »Als die Schüsse fielen, war ich hier im Restaurant.«
»Das ist gelogen!« Die um zwei Köpfe kleinere weibliche Person baute sich schimpfend vor ihm auf. »Ich habe ihn genau gesehen. Der hier im Mantel ist der Mörder.«
Zwei Uniformierte kamen auf Alberto zu. »Stimmt das, was die Dame erzählt?«
»Ich sage Ihnen doch, Blödsinn! Die Alte spinnt.«
»Dann haben Sie sicherlich auch nichts gegen eine Leibesvisitation einzuwenden?« Die beiden Polizisten achteten angespannt auf jede seiner Bewegungen.
»Natürlich nicht. Bitte, durchsuchen Sie mich.« Alberto steckte die Hände in die Manteltaschen. »Hier, absolut nichts …« Auf einmal stockte er mitten im Satz. Seine Finger ertasteten in der rechten Tasche irgendetwas Kaltes, Metallenes. Und das Ende des metallischen Rohrs war lauwarm. Bestürzt zog er die Hand mit der Waffe aus der Manteltasche.
Ein kurzer Aufschrei fegte durch die Menge, nachdem eine Pistole zum Vorschein kam. Gleich darauf schloss sich die Acht um seine Handgelenke.
Einer der Polizisten sah Alberto forschend an. »Wollen mal sehen, was die Untersuchungen ergeben. Wer noch alles mit dieser Waffe beiseitegeschafft wurde.«
Auf dem Weg zum Polizeiwagen sah Alberto zu der sich stetig vergrößernden Menschentraube hinüber. Zwischen den vielen einzelnen Köpfen erkannte er mit einem Mal das hämische Grinsen von Rudolpho Kowalke.