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Sehr geehrter Herr Richter, heute nicht!

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Hallo, Herr Richter, ich muss schon sagen, dass Sie mich heute wieder nerven in meinem Oberstübchen. Sagen Sie mal, kann ich Sie duzen oder wollen Sie lieber mit „Sie“ angesprochen werden?

„Herr Münch“ klingt sehr förmlich, und da ich mich nun mal in deinem Kopf befinde und ein Teil von dir bin, können wir uns gern duzen.

Okay, du Richter, sei bitte nicht sauer auf mich, wenn ich Sie ab und zu sieze. Das muss immer dann sein, wenn Sie mich nerven und ich gerade nicht die Zeit habe, mich mit Ihnen zu unterhalten. Der Tag hat vierundzwanzig Stunden, und wenn ich zwei Stunden für Dich abzweige, ist das völlig ausreichend. Mehr Zeit mit dir würde mich überfordern. Abgemacht, du Richter?

Ist schon okay. René, sag mal, warum schreibst du über solch schreckliche Themen? Das alles ist doch mehr als zwanzig Jahre her.

Ja, Richter, das ist so eine Sache mit der Aufarbeitung. Da sind Dinge geschehen, über die heute noch geschwiegen wird, das hat was mit der Hemmschwelle zu tun. Wie soll ich dir das erzählen, Richter? Hör mir einfach zu und lass mich bitte auch ausreden. Alles, was ich zu DDR-Zeiten erlebt habe, schleppe ich nun schon mehr als fünfzig Jahre mit mir herum. Wenn ich davon mal was erzählen wollte, habe ich es lieber gelassen, denn das sind Tatsachen, die man belegen muss, damit sie dem, der zuhört, glaubwürdig erscheinen.

Stimmt, René, bezüglich der Glaubwürdigkeit gebe ich dir recht. Nun sag doch mal: Wie kam es dazu, dass du das Buch „Der Staat in der Republik“ geschrieben hast?

Okay – nerv! 2012 wurde der Fonds Heimerziehung für DDR-Heimkinder eingerichtet. He, dachte ich mir, als ich davon hörte, auch ich musste schon als Säugling damit leben, ein Heimkind zu sein. Ich kramte in meinen Unterlagen und fand einen alten Impfausweis, auf dem sich der Stempel von einem Dauersäuglingsheim befand. Ich fragte mich, ob der Stempel reichte, wahrscheinlich jedoch nicht. Ich beantragte meine Kinderheimakte und konnte es nicht glauben: Der Horrorkatalog war noch da, und ich durfte Kopien davon anfertigen. Was wollte ich mehr? Das Manuskript für mein Buch schwebte mir auch schon im Kopf herum, und das Einzige, was mir noch fehlte, waren Dokumente – Beweise.

Die haben dir also wirklich die Akte gezeigt und du konntest Kopien davon machen?

Ja, Richter, das haben sie. Ich musste da zwar etwas Druck machen, aber es hat sich gelohnt und ich konnte damit beginnen, meinen Kopf leer zu schreiben und das Gewesene aufzuarbeiten. Ich wollte das alles schon immer mal aufschreiben und ein Buch rausbringen. Wenn ich so etwas zu DDR-Zeiten geschrieben hätte, dann wäre ich in das Gelbe Elend (Stasi-Gefängnis) nach Bautzen gekommen – oder woanders hin. Schon meine Mutter hatte man wie einen Staatsfeind behandelt, und als ich ihr im Alter von achtzehn Jahren begegnete, verging mir der Gedanke daran, ein Buch über eine DDR-Diktatur zu schreiben. Heute ist das anders, da kann ich es. Natürlich bin ich einigen Menschen mit Sicherheit ein Dorn im Auge, aber nun ja, da müssen sie halt durch!

René, wenn es der Aufarbeitung dienlich ist und du anderen helfen kannst, ziehe ich vor dir den Hut.

Danke, Richter.

Ja, und nun sag mal, warum schreibst du dieses Buch jetzt ausgerechnet mit mir? Ich habe dich doch, seit du denken und handeln kannst, ziemlich bösartig auf falsche Fährten gelockt.

Ach, Richter, wenn du wüsstest, dass du da oben in meinen Kopf nicht allein bist, dass da nämlich noch drei andere sind, die lustiger sind als du, würdest du vielleicht gleich toben und dich fragen: Was wollen die, und wieso bin ich nicht allein?

Du sagst mir erst jetzt, dass ich in deinem Oberstübchen nicht allein bin?

Ach, Richter, fang jetzt keinen Streit an. Du hast mich nicht danach gefragt und ich fühlte mich nicht dazu verpflichtet, es dir zu sagen. Weißt du, Richter, du bist nur ein Teil von mir wie die anderen drei auch, und mit dir gehe ich lieber Instanzen durch, um mich nicht selbst psychisch hinzurichten. Ich brauche dich. Du bist mir schon oft eine gute Hilfe gewesen, gerade im Umgang mit den Behörden und Ämtern, die immer noch glauben, dass es die DDR noch gibt, zumindest glauben es diejenigen Mitarbeiter, die man nach der Wende übernommen hat.

Ach, komm, René, hör mal auf, so zu denken. Und ja, durch mich bist du ein Kämpfer geworden, obwohl ich dich auch gern mal aufs Glatteis geführt und dir viele Steine in den Weg gelegt habe.

Gut, dass du das zugibst. Genau deswegen gibt es ja die anderen drei da oben. Die helfen mir dann schon, die Steine aus dem Weg zu schaffen, egal ob die von dir oder von einer Behörde dort hingelegt worden sind. Herr Richter, irgendwie habe ich das Gefühl, dass du ins Negative abgleitest und mich wütend machen willst. Doch bedenke: Das geht nicht mehr so einfach, wie du es gern hättest. In den letzten drei Jahren hat sich einiges geändert.

Sage mal, René, wenn man über solche Geschehnisse schreibt, muss man doch seine Hemmschwelle überschritten haben, oder?

Ja, Richter, das habe ich auch. Nachdem ich mir Kopien von der Kinderheimakte gemacht und mich damit beschäftigt hatte, nahm ich mir vor, erst einmal den Kopf leer zu schreiben und alles zu dokumentieren. Ach, ich sehe gerade, dass ich meine Fenster mal wieder putzen müsste. Wenn ich mich recht erinnere, waren sie letztes Jahr im September schon dran, und jetzt haben wir August! Ja, wenn ich die Scheiben so betrachte, muss das jetzt sein – die Fliege vom letzten Jahr ist auch noch da, nur fliegt sie nicht mehr.

Herr Münch, Sie sind ein Spielverderber!

Herr Richter, das ist für mich kein Spiel. Für heute bitte ich mir im Oberstübchen Ruhe aus. Gern können wir uns morgen wieder unterhalten, wenn wir mit dem Manuskript „Der Richter in mir“ beginnen.

Ihr Wort mein Segen, doch wenn ich etwas weiß oder etwas mit Ihnen besprechen möchte, dann melde ich mich gern ohne Ankündigung.

Etwas anderes bin ich doch sowieso nicht von Ihnen gewohnt. Bitte seien Sie nicht sauer, wenn ich Sie jetzt auffordere, für heute Ihre Klappe zu halten. Morgen beginnen wir mit einer kleinen Vorgeschichte zur Einleitung, da brauche ich Sie – nein: dich – dann.

Okay, René. Eine Frage oder Bemerkung hätte ich da aber noch …

Nein, für heute ist Schluss. Meine Fenster rufen und die Fliege muss weg. Bis morgen!

Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik [vom 7. Oktober 1949]

Von dem Willen erfüllt, die Freiheit und die Rechte des Menschen zu verbürgen, das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit anderen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern, hat sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben.

A. Grundlagen der Staatsgewalt

ARTIKEL 1

(1) Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik; sie baut sich auf den deutschen Ländern auf.

(2) Die Republik entscheidet alle Angelegenheiten, die für den Bestand und die Entwicklung des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit wesentlich sind; alle übrigen Angelegenheiten werden von den Ländern selbständig entschieden.

(3) Die Entscheidungen der Republik werden grundsätzlich von den Ländern ausgeführt.

(4) Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit.

ARTIKEL 10

(1) Kein Bürger darf einer auswärtigen Macht ausgeliefert werden.

(2) Fremde Staatsbürger werden weder ausgeliefert noch ausgewiesen, wenn sie wegen ihres Kampfes für die in dieser Verfassung niedergelegten Grundsätze im Ausland verfolgt werden.

(3) Jeder Bürger ist berechtigt, auszuwandern. Dieses Recht kann nur durch Gesetz der Republik beschränkt werden.

Der Richter in mir

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