Читать книгу Wer bestimmt die Realität - Renate Amelung - Страница 3
Schon der Morgen
Оглавлениеwar anders, kalt neblig und hatte nichts mit den Lichtern und den stimmungsvoll geschmückten Schaufenstern und Häusern der Adventszeit gemeinsam. Lukas Lund nahm den Tag wie er kam. Er wäre nie auf die Idee gekommen etwas im Leben nicht so anzunehmen wie es ist. Etwa sein Schicksal Es begann mit dem Teppichboden unter seinen Füßen, er fühlte sich an wie Wüstensand. In seinem Bad fand er sich nicht zurecht. Es war steril aufgeräumt. Kein Tropfen Wasser, wie lange nicht benutzt. Auch später im Büro vermisste er sein liebevolles Chaos. Lukas beendete den Tag früh, er fuhr nach Hause, trotzdem war es schon Nachmittag, als er jetzt aus dem Wagen stieg.
Lukas Lund hatte gehofft Bernd Langenbach würde ihn übersehen, aber Langenbach klemmte plötzlich zwischen Tür und Autodach. Langenbach war die dünnste Bohnenstange, mit dem Gebiss eines Hengstes, die sprechen konnte, und sprudelte ohne Unterlass Witze, über die er zur Vorsicht selber lachte. Sein Grinsen wirkte wie immer festgezurrt. Lukas mochte das Fossil aus seiner Jugendzeit nicht sonderlich.
„Lukas, das war doch abgemacht mit der BMW!” schnatterte Langenbach. Dann kicherte er.
Lukas zwängte sich an Langenbach vorbei und schloss den Wagen ab. Nebensächlich fragt er: „was ist mit der BMW?”
„Na, das alte Moppet in der Garage. Du hast sie mir versprochen!” Langenbach streckte Lukas auffordernd eine Zigarettenschachtel entgegen. „Sargnagel gefällig?”
Lukas lehnte ab.
Ich möchte dich nicht drängen, nur daran erinnern, dass du mir das Motorrad versprochen hast.”
„Soweit mich mein Gedächtnis nicht trügt, und es trügt mich nie, versprach ich dir mein Moped auf dem Krankenlager, für den Fall, dass ich sterbe vor Kummer.”
„Eben!”
„Und lebe ich etwa nicht?”
„Äh, mm ..., doch ...”
„Idiot!” schnauzt Lukas und lief strammen Schrittes zur Haustür. Langenbachs Augen fühlt er irgendwie im Rücken, deshalb saht er sich noch einmal um. Plötzlich drang das schrille Bimmeln der Straßenbahn in seinen Gehörgang, zerfetzt ihm fast das Trommelfell und wurde von den stumpfen metallenen Bremsen der Eisenräder abgelöst. Lukas sprang wie ein aufgescheuchter Elch, der sich in der Stadt verirrt hat vom Zebrastreifen und berührte mit den Händen eine Barriere aus eisiger Kälte. Sein Kreislauf jagte in die Höhe und hat den Vorgang schneller erfasst als das Gehirn ihn verarbeitet hatte. Lukas spürte seine Halsschlagader als er ehrfürchtig die Hände von dem Blechsarg zurücknahm. Die beiden Herren in Livre schüttelten pietätvoll, mit versteinertem Gesicht, ihr Haupt und schoben den Sarg in den Kombi.
Lukas schnappte nach Luft und betrat das Haus. Im Flur begegnete er der Vermieterin, eine weißhaarige Dame, die heute noch auf ihr Äußeres achtete. Lukas grüßt freundlich.
“Ihr Briefkasten ist voll! Waren sie wieder nicht da. Ist was mit Ihnen? Sonst geben Sie mir immer den Schlüssel, wenn Sie verreisen?”, sagte die Vermieterin.
“Nein, ist alles okay”, antwortete Lukas, und angelt die Post aus dem Briefkasten.
“Sie sind ja leichenblass!”, raunte die Alte. „Wie der Tod.“
Danach eilte Lukas nach oben. Auch bei Lukas klingelten die Telefone im falschen Moment. Er legte einen Zahn zu und schloss die Tür auf. Lukas warf die Samstagsausgabe der Rheinischen Post auf das Ecksofa, während er dem Telefonknecht, der nichts von sich gab als seinen eigenen Spruch argwöhnte. Vielleicht ist es doch diese neue Juniorchefin die ihn, mit ihrem theoretischen Bücherwissen schikanieren wollte. Er nahm jede Gelegenheit die Teppichetage zu verlassen um eine Baustelle zu besichtigen.
In der Küche gießt er einen kalten Rest Kaffee vom Morgen in eine Tasse und fiel matt auf das Sofa. Gelangweilt blätterte Lukas in der Rheinischen, gelangt zu den Seiten mit den Todesanzeigen, die er gewissenhaft las. Nur eine dumme Angewohnheit. Dabei verschluckt er sich am Kaffee und prustet ihn fast über das Parkett. Da stand es Schwarz auf Weiß, dezent umrandet mit einem Palmwedel:
In der Blüte seines Lebens, durch eine tragische Fügung mitten aus dem Schaffen gerissen, bedauern wir den zu frühen Tod von Lukas Lund. Er hat sein Schicksal bekämpft, und hat am Ende, gegen alle Vernunft, gesiegt.
Mit Melanie als Tochter trauern, Ivette, Peter, Paul und Claudia, mit ihnen alle Kollegen die ihn als strengen, ehrgeizigen aber auch einfühlsamen Chef vermissen werden.
Die Beisetzung findet im engsten Kreis der Familie statt
Das Blatt bescheinigte ihm unsentimental sein Ableben. Wie viele Lenze hatte man gelebt um in der Blüte des Lebens zu stehen? Lukas war mit 48 deutlich im nahenden Herbst. Unsinn! Es gab sicher nicht nur einen Lukas Lund auf diesem Erdball, und sicher auch einen dessen Tochter Melanie heißt und der mit einer Ivette verheiratet war und einen Freund hat der Paul…
Warum steht da nicht wann dieser Lukas Lund geboren ist? Dann faltete er die Zeitung grob, wirft sie in die Ecke. Kurz vor Ladenschluss am langen Samstag vor Weihnachten. Lukas sollte eigentlich unter den Menschen sein und an dem Bestand in seinem Kühlschrank arbeiten.
Er wird einiges ändern, wenn er bleibt, und zu diesem Zweck sollte es ihm gelingen Madam Eichmann davon zu überzeugen, dass ein Weltenbummler im Alter ein solider Schreibtischhengst werden kann, Bevor jetzt wieder die Fragen Betreff seines Alters in sein Mark krochen, und er irgendeine Falte zu Krise stilisierte, oder er ein Haar im Kamm zu viel fand, leitete er eine Kurskorrektur ein. Lukas griff zum Telefon und wählte die Nummer seiner Tochter in der WG.
“Papa, wie schön. Ich versuche die ganze Woche dich zu erreichen, aber dein Telefon ist abgestellt.”
“Das stimmt doch nicht!”, reklamierte Lukas.
“Und warum sagt eine freundliche Stimme; diese Nummer ist zurzeit nicht vergeben? Egal, gut, dass du anrufst mein Fiat läuft nicht. Er ruckelt furchtbar, manchmal bleibt er stehen, dann fährt er wieder.”
“Gut, wir hatten das Thema schon einmal, ich besorge dir vom Schrott eine neue Benzinpumpe, dann läuft er wieder wie ein Döpken.”
“Papa, ich weiß ja, dass du schrauben kannst! Aber ehrlich, wie sieht das aus? Die Karre muss in drei Monaten eh zum TÜV und der scheidet uns. Ich habe mir gedacht, wo du doch einen Firmenwagen hast und keinen Wagen finanzieren musst, könntest du doch für deine Lieblingstochter Investieren.”
“Darf ich erinnern; ich habe nur ein Kind!”
“Was ist nun Dad, lebst du noch?”, unterbrach Melanie die Stille.
“Wie geht es dir?”, fragte er.
“Warum fragst du?”, wollte sie wissen.
“Nur so. Nichts Besonderes vorgefallen?” Die Frage überrascht ihn selbst.
“Mein Auto ist echt ein Problem. Weißt du wie voll peinlich das ist, wenn du an der Uni stehst und die Karre springt nicht an. Leon hat von seinem Vater einen schnuckligen BMW bekommen.”
“Lass uns am Montag darüber reden. Ich habe übrigens nie an der Uni gestanden und versucht meinen Wagen zu starten. Ich hatte mehr das Problem mit meinem Fahrradreifen. Also, Montag reden wir!”, er legte auf.
Noch den Hörer in der Hand grübelt Lukas warum sein Telefon abgemeldet ist, obwohl er es eben benutzte. Ob es jetzt albern ist oder nicht, er nimmt das Handy und wählt seine Nummer. Bingo: “Dieser Anschluss ist vorrübergehend nicht erreichbar.“
Konsterniert drückt er auf das rote Hörersymbol Aus diesem Grund wählte er die Telekom an. Die Dame war sehr freundlich und bestätigte ihm, der Anschluss besteht nicht mehr. Weil er es nicht begreifen konnte flötet sie ihm seine Nummer zur Bestätigung mehrfach durch die Leitung. Erst als ihr Ton den einer Erzieherin für geistig Behinderte annahm fragte Lukas wann und wer den Anschluss gekündigt hatte. Darauf hörte er mit kleingiftigem Unterton. “Ihre Tochter Melanie Lund und alles andere müsse er auf dem Schriftweg erledigen.” Am anderen Ende knackte die Leitung.
Verstehe es wer es wollte. Er trank den letzten Schluck kalten Kaffee und wechselte zum Rotwein. Heute wird er nicht die ganze Nacht im Internet surfen! Er sah die Post durch, die überwiegend aus Reklame bestand.
Werbung vom Sarg-Discount, war das Letzte woran er sich erinnerte, als ihn das Handy je aus dem Schlaf riss. Zwei Uhr morgens flimmerte die digitale Anzeige auf dem Radiowecker. Lukas schaute sich um und bediente die Erinnerungsmaschinerie. Irgendwie hatte er sich noch bekleidet auf das Bett gelegt. Er war doch am Computer. Und wenn alles stimmte hatte ihn eben sein Chef Eichmann aus dem Schlaf gerissen und etwas von dringend erzählt. Eine Stunde oder eine halbe? Geschäftsreise? Irgendwas sollte er einpacken.
In der Küche traf er auf den erschreckenden Befund. Irgendwelche kleinen Wichtel sind dabei seinen Schädel aufzuräumen. Die Klingel unterbrach jeden widersinnigen Gedanken. Lukas schlüpft in Jeans und betätigte den Türöffner. Die Korridortür lehnt er an. Eichmann kannte den Weg.
Der Morgen war nicht besser als der gestrige Tag. Er spült das Rasiermesser aus und betrachtet den Mann den er heute rasiert, hatte, ein wenig berauschender Befund. Aber Gott war heute ein feiner Kerl und hatte einen Engel geschickt. Mild lächelnd, mit warmen Augen aus Achat und Haut wie türkischer Honig, zufällig nicht blond, eher brünett und! Die Angelegenheit mit Gottes Wohlwollen war zu überdenken, denn Engel steigen nicht Treppenhäuser hoch und pflanzten sich nicht mit verschränkten Armen vor ihm auf.
Ira Eichmann lachte zaghaft.
Lukas beendet rasch die Rasur. Er konnte nicht wissen was sie amüsierte, das machte ihn unsicher. Ira dachte an die erste Begegnung mit diesem Mann im Parkhaus auf dem Firmengelände. Sie kam gerade mit einer Freundin vom Tennis, als er Anja den Parkplatz vor der Nase wegschnappte. Anja fluchte, “Idiot!”
Ira hatte geantwortet nach dem er ausgestiegen war, “netter Idiot.”
“Bleibt aber ein Idiot!”, maulte Anja.
Sie war Lukas Lund lange nicht mehr begegnet, bis sie erkannte wem sie versuchte so drastisch die Flügel zu stutzen. Es war einiges zu modifizieren im Unternehmen, die Kostenrechnungen zu überprüfen, Personal abzubauen. Sofort baute sich zwischen ihr und Lukas Lund eine Spannung auf die schwer zu beschreiben war. Vielleicht so wie zwischen zwei wilden Tieren die man mit einer Scheibe trennt und die darauf warten der gläserne Vorhang möge sich lüften und sie könnten sich näher beschnuppern.
Als er mit dem Handtuch den letzten Schaum aus dem Gesicht getupft hatte dachte er, wenn sie wirklich mit ihm zu unchristlicher Stunde aufbrechen wollte, um eine Baustelle in den Vogesen zu besichtigen, dann war sie unpassend gekleidet. Sie sah aus als wolle sie zu einem Galaabend. Also, war das hier ein Scherz, ein Traum und er legt sich wieder in die Federn.
Ira Eichmann gehörte zu den Frauen die genau wissen was sie wollten. Zu viele Männer mit hintergründigen Interessen, auf schnelle Karriere und Chefsessel gab es in ihrem Leben. Trotzdem oder gerade deshalb bemerkt sie, auch Männer sind wie Autos; ein wohlgeformtes Heck trägt erheblich zum guten Aussehen des Modells bei. Ira wendete sich ab, um gewissen Dingen keine Chance einzuräumen und fragte. “Haben Sie schon Kaffee getrunken?” Prompt ertappt sie sich bei dem intensiven Blick in sein Schlafzimmer. Komisch war auch, wie schnell das Bild vom harten Klotz im Businessanzug mit weißem Helm unter den Weichzeichner geraten ist. Sie sah auch nicht mehr den Proleten, wie sie ihn oft im Stillen titulierte, weil er wieder Mal im Recht war, im Gegenteil der Herr Diplomingenieur beherrschte es perfekt sich den Menschen anzupassen und zwischen Gesellschaftsschichten zu vermitteln.
“Links, dann rechts ist die Küche”, sagte Lukas. Den Rest wird sie finden. Frauen finden immer was sie suchen. Nach wenigen Minuten, er hat gerade die Haare geföhnt und sein Hemd übergezogen, sprintet Lukas in die Küche. Verdammt, er hätte damit rechnen müssen. Seine gute alte Kaffeemaschine, die mit Hochdruck arbeitet und jegliche unsensible Fehlhandhabung wirklich heißen Dampf ausspuckend beantwortet.
In ihrer Verzweiflung stand Ira Eichmann mit wedelndem Geschirrtuch vor dem Ungetüm und buhlte um den Moment des Eingreifens, doch Lukas schob sie weg und erledigte die wenigen Handgriffe.
Das mochte sie nicht. Der Raum war so wahnsinnig schmal und sie fühlte sich beengt, in die Enge getrieben. Ira las in seinen winzigen Falten um Augen und Mundwinkel die Biografie eines bewegten Lebens, das ihn ruhig und gefasst machte.