Читать книгу Auszeit in Ebergötzen - Renate Gatzemeier - Страница 6
Sonntag, der 31. März 2019, morgens um 03:00 Uhr in Fuhrbach
ОглавлениеHagen Schuster saß in seiner möblierten Zwei-Zimmer-Parterre- Wohnung auf einem Stuhl am Küchenfenster und starrte durch die beschlagene Scheibe nach draußen in die Dunkelheit. Das Licht hatte er vorsichtshalber ausgelassen, weil er von niemandem gesehen werden wollte. Die Beleuchtung der Straßenlaterne auf der gegenüberliegenden Straßenseite am Waldrand reichte aus, um das Wesentliche erkennen zu können. Dabei störte es den Mann nicht, dass der Schmutz der letzten Monate an den Fensterscheiben haftete und ihm nur einen begrenzten Blick in sämtliche Richtungen erlaubte, weil hier in Fuhrbach ohnehin nichts Spannendes passierte und weil ihn das Dorfleben nicht sonderlich interessierte. Er war keiner von ihnen, gehörte lediglich auf dem Papier dieser Gemeinde an und das auch nur vorübergehend. Aber heute machte er sich
darüber keine Gedanken, denn er wartete voller Ungeduld auf den Zeitungsboten, der ihm die kostenlose Sonntagszeitung „Hallo Wochenende“ in den Briefkasten werfen würde. Normalerweise war der Zusteller pünktlich und erledigte seinen Job stets zwischen zwei und drei Uhr nachts, aber ausgerechnet heute schien er sich verspätet zu haben. Immer öfter schaute Hagen Schuster verstohlen zur Wanduhr, deren Sekundenzeiger sich unaufhörlich im Kreis drehten. Das laute Ticken erinnerte ihn an eine Zeitbombe, die jeden Augenblick zu explodieren drohte. Um sich abzulenken griff er nach seiner in der Fensterbank liegenden Zigarettenschachtel und zerrte eine selbst gestopfte Zigarette daraus hervor. Das Anzünden mit dem Feuerzeug geschah rein mechanisch und bedurfte keiner sonderlichen Beachtung.
Der Großteil der Asche landete während des Rauchens ohnehin auf dem Linoleum Fußboden, weil er den Aschenbecher lediglich zum Ausdrücken der Kippe benutzte. Schließlich kam es auf ein Brandloch mehr oder weniger nicht an, denn er war der Einzige, der es zu sehen
bekam. Die Wohnung machte insgesamt einen herunter gekommenen Eindruck und musste unbedingt renoviert werden.
Momentan zählte jedoch nur, dass er ein Dach über dem Kopf hatte, welches vom Amt finanziert wurde. Die Kanne mit dem Kaffee war mittlerweile leer und der klägliche Rest in der Tasse schon lange erkaltet. Missmutig trommelte er mit den Fingern seiner rechten Hand an die Fensterscheibe. Der dumpfe Ton steigerte seinen Unmut um ein Vielfaches und er wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich Gewissheit zu erlangen. Im selben Moment läutete die Kirchturmuhr exakt drei Mal zur vollen Stunde und erinnerte Hagen an das Ende seiner Geduld. Ruckartig stand er vom Stuhl auf und schob ihn lautstark zurück, sodass zu befürchten war, dass er gleich scheppernd zu Boden fallen würde. Auf dem Weg zur Haustür schaltete er auf dem Flur die kleine Beleuchtung ein und schnappte sich den auf der Kommode liegenden Haustürschlüssel. Eisige Kälte empfing ihn und ließ ihn erschauern. Die wenigen Meter bis zur Kreuzung erschienen ihm unendlich weit und er musste sich
beeilen, um sie hinter sich zu bringen. Sein Herz vollführte einen Freudensprung, als er plötzlich vor sich den Strahl einer Taschenlampe bemerkte, der sich auf und ab bewegte. Das musste der Zeitungsbote sein. Nun würde es nur noch wenige Augenblicke dauern, bis er die ersehnte Zeitung erhielt. Fröstelnd blieb er auf der Straße stehen und schaute dem Mann erwartungsvoll entgegen.
„Guten Morgen“, krächzte Hagen Schuster und streckte seinen Arm aus.
„Morgen“, erwiderte der Zeitungsbote sichtlich irritiert und musterte den Mann im gestreiften Schlafanzug von oben bis unten.
„Warten Sie etwa auf mich?“
„Ja“, antwortete Hagen Schuster, wobei seine Stimme leicht vibrierte. „Warum kommen Sie denn ausgerechnet heute so spät?“
„Wieso spät? Es ist doch gerade einmal drei Uhr in der Früh.“
„Eben, es ist drei und nicht zwei“, erwiderte
Hagen gereizt und entriss dem verdutzen
Boten die Zeitung. Flink wie ein Wiesel huschte er damit die Straße entlang zurück ins Haus und knallte die Haustür lautstark hinter sich zu.
„Also nee“, stöhnte der Zeitungsbote und schüttelte ungläubig den Kopf. „So etwas ist mir ja noch nie passiert. Der Typ scheint nicht alle Tassen im Schrank zu haben.
Immerhin habe ich bis sechs Uhr Zeit, um alle Briefkästen des Oberdorfes mit den Zeitungen zu bestücken.“ Bei diesen Worten trottete er weiter und dachte über das seltsame Verhalten des neuen Dorfbewohners nach.
Wieder in seiner Wohnung angelangt faltete Hagen Schuster die Zeitung sorgsam auseinander und studierte beinahe ehrfürchtig die Kleinanzeigen, genauer gesagt die Stellenangebote. Mit dem Zeigefinger fuhr er auf dem Papier entlang und durchforstete jede einzelne Anzeige.
Innerhalb weniger Augenblicke war er fündig geworden und pustete die angestaute Luft aus.
„Tatsächlich“, sagte er mehr zu sich selbst und beeilte sich die wenigen Zeilen durchzulesen. „Die Anzeige vom Mittwoch steht wieder drin. Demzufolge scheint sich noch niemand für den Job gemeldet zu haben.“
Zur Neueröffnung des Cafe´s „auszeit“ in Ebergötzen suchen wir noch einen engagierten Mitarbeiter mit handwerklichem Geschick für Haus und Garten auf 450€ Basis. Gern auch einen Rentner. Bei Interesse melden Sie sich bitte unter der Telefonnummer …
Wie paralysiert stierte Hagen Schuster auf die in der Mitte des Blattes befindliche Annonce und strich sich dabei immer wieder über das unrasierte Kinn. Seine einst schwarzen Haare waren an den Schläfen längst ergraut und ließen die ohnehin schon fahle Gesichtsfarbe des Sechzigjährigen noch eine Spur blasser erscheinen. Hohle Wangen zeugten von mangelnder Ernährung und fanden ihre Bestätigung im ausgemergelten Körper.
Lediglich die stahlgraue Farbe seiner Augen hatte allen Anforderungen der letzten
Monate Stand gehalten und sorgte für einen wachen Blick. Er wusste, dass er wieder einmal am Scheidepunkt seines Lebens angekommen war und kramte gedankenverloren eine Schere aus der obersten Schublade des Küchenschrankes hervor, um die Annonce auszuschneiden.
Beinahe liebevoll betrachtete er das Stück Papier, bevor er es auf den Küchentisch neben sein Handy legte. Noch war es für einen Anruf zu früh, aber in vier Stunden wollte er sein Glück auf jeden Fall versuchen. Bis dahin musste er sein Augenmerk auf die Zukunft richten und durfte sich nicht in Erinnerungen verlieren. Nahezu beschwingt eilte er in sein Schlafzimmer, um die erforderliche Kleidung für ein Vorstellungsgespräch aus dem Schrank hervor zu holen. Die Auswahl seiner Klamotten hielt sich in Grenzen und deshalb dauerte es nicht lange, bis er sich für eine schwarze Jeanshose und ein weißes T-Shirt entschieden hatte. Darüber wollte er die schwarze Strickjacke ziehen, die er nur bei besonderen Anlässen trug.
Doch bevor es soweit war, musste er sich einer ausgiebigen Körperreinigung
unterziehen, die er in den letzten Tagen ziemlich vernachlässigt hatte. Dazu gehörten vor dem Duschen eine gründliche Rasur und das Putzen der Zähne. Im Grunde genommen alles Selbstverständlichkeiten, die für ihn jedoch bedeutungslos geworden waren. Seit Mittwoch trug er unentwegt ein und denselben Schlafanzug, um keine maßgeblichen Veränderungen herbei zu führen, die womöglich das Endergebnis negativ beeinflussen könnten. Seit Mittwoch drehte sich alles nur noch um die Stellenanzeige, bei der er sich unschlüssig gewesen war, ob er sich um den Job bemühen sollte oder nicht. Das Schicksal wollte scheinbar, dass sich bislang außer ihm kein anderer Mensch dafür interessiert hatte. Das Risiko noch länger zu warten erschien ihm allerdings zu groß, deshalb musste er in wenigen Stunden den ungeliebten Anruf tätigen, auch wenn es ihm noch so schwerfiel.
***
Pünktlich um sieben Uhr saß Hagen Schuster wieder auf dem Küchenstuhl und tippte die in der Zeitungsannonce angegebene Telefonnummer in sein Handy ein. Bevor er den grünen Hörer betätigte steckte er sich noch schnell eine Zigarette an und inhalierte das Nikotin tief ein.
„Guten Morgen“, meldete sich eine männliche Stimme. „Sie sprechen mit Thore Liebherr, vom Cafe „auszeit“ in Ebergötzen.
„Was kann ich für Sie tun?“
„Ähm ja“, krächzte Hagen Schuster und räusperte sich mehrmals hintereinander, ehe er einen klaren Satz zustande brachte.
„Es geht um die Anzeige im Sonntagsblatt,
wo Sie noch einen Mitarbeiter suchen …“
„Ja, das ist korrekt. Wir suchen in der Tat noch einen Mitarbeiter für leichte Tätigkeiten innerhalb und außerhalb des Hauses. Wie lautet denn Ihr Name, Herr
…?“
„Oh, ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass ich mich nicht gleich vorgestellt habe, aber das liegt einfach daran, weil ich ein bisschen aufgeregt bin.“ Er lachte scheppernd. „Ich heiße Hagen Schuster, bin sechzig Jahre alt und körperliche Arbeit gewohnt.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hastig hinzu. „Ich bin mir für keine Tätigkeit zu schade, ganz gleich, ob es um Arbeiten in der Küche, auf der Toilette, im Garten oder sonst wo geht.“
„Na, das klingt doch schon mal vielversprechend“, erwiderte Thore Liebherr und warf nebenbei einen Blick auf die Wanduhr seines Büros. „Wie wäre es denn, wenn Sie sich im Laufe des heutigen Vormittags vorstellen würden? Es kommen noch zwei Herren, die sich auf die Anzeige der Mittwochszeitung hin gemeldet haben.“
„Oh“, rutschte es Hagen Schuster enttäuscht heraus. „Und ich dachte, dass ich der einzige Bewerber bin.“
„Nein, tut mir leid, das sind Sie nicht, aber vielleicht springt ja noch einer der Herren im Vorfeld ab.“
„Gut, dann werde ich mich beeilen und
zusehen, dass ich rechtzeitig da sein kann.“
„Machen Sie das, Herr Schuster … und bringen Sie bitte ein paar aussagekräftige Unterlagen mit.“
„Was denn für Unterlagen?“, erkundigte
sich Hagen Schuster irritiert.
„Na, Sie werden aus vorangegangenen Stellen doch sicher über irgendwelche Zeugnisse verfügen.“
„Nein, damit kann ich zurzeit leider nicht dienen.“ Er schluckte schwer, bevor er mit belegter Stimme hinzufügte. „Die sind mir beim Umzug abhandengekommen.“
„Aber Sie werden doch irgendwelche
persönlichen Papiere besitzen …“
„Nein“, unterbrach Hagen Schuster den Mann am anderen Ende der Leitung heftiger als gewollt, damit der endlich aufhören sollte, dermaßen überflüssige Fragen zu stellen. „Wie ich eingehend schon erwähnte, verfüge ich derzeit weder über persönliche noch über amtliche Dokumente, weil sie mir verloren gegangen sind.“
„Okay, okay“, beschwichtigte Thore Liebherr den sichtlich aufgebrachten Mann und beendete das Gespräch kurzerhand mit
den Worten. „Kommen Sie einfach vorbei
und dann werden wir weitersehen.“
„Worauf Sie sich verlassen können“, knurrte
Hagen Schuster und legte den Hörer auf. Sein Puls raste und sein Blutdruck überschritt innerhalb weniger Augenblicke die Toleranzgrenze von 200. Um seine überstrapazierten Nerven wieder halbwegs in den Griff zu bekommen zündete er sich eine weitere Zigarette an und öffnete eine Dose Bier, um sie in einem Zug auszutrinken. Nach einem langgezogenen Rülpser fühlte er sich einigermaßen befreit und wischte sich mit der Hand den Schaum vom Mund. Um den Alkoholgeruch zu kompensieren holte er aus der Hosentasche ein Pfefferminzbonbon hervor und lutschte es laut schmatzend. Ein Blick auf die Uhr verdeutlichte ihm, dass er sich schleunigst auf den Weg zur Bushaltestelle begeben musste, um den einzigen Bus an diesem Morgen in Richtung Duderstadt nicht zu verpassen in der Hoffnung, dass es von dort aus einen Anschlussbus nach Göttingen geben möge, der auch über Ebergötzen fuhr.