Читать книгу Auszeit in Ebergötzen - Renate Gatzemeier - Страница 8

Sonntag, der 31. März 2019, abends nach 20:00 Uhr im Cafe´auszeit

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Hagen Schuster fiel eine unendliche Last von den Schultern, als er realisierte, dass er nun für einige Stunden die alleinige Regentschaft über das Cafe´ auszeit inne hatte und dass ihn vermutlich niemand bei seinem Vorhaben stören konnte. Hinzu kam die Erleichterung sich keinen Kopf über irgendeine Busverbindung machen zu müssen, die ihm nur den Schlaf rauben und viel Zeit bei seinen Nachforschungen kosten würde. Er musste diese einmalige Chance unbedingt nutzen, um herauszufinden, was vor drei Jahren wirklich geschehen war. Natürlich hatte er damals nichts unversucht gelassen und das Anwesen immer wieder von oben bis unten durchkämmt, bis ihm Hausverbot erteilt worden war, weil sich die Gäste durch ihn und seine ständigen Fragen allmählich belästigt fühlten. Mit Polizeigewalt hatte man ihn des Geländes verwiesen und darauf aufmerksam gemacht, dass er bei

wiederholter Nichtbeachtung sogar mit einer einstweiligen Verfügung zu rechnen habe, die je nach Schweregrad auch eine Freiheitsstrafe nach sich ziehen könnte.

Hinzu kam, dass er sich beim Abtransport den Beamten gegenüber mit Händen und Füßen zur Wehr gesetzt und sie ungeachtet der anstehenden Konsequenzen zudem noch verbal beleidigt hatte.

Mit einer stoischen Gelassenheit hatte er den Weggang des Küchenchefs beobachtet, bis der das Gelände endgültig verlassen hatte. Hastig machte der Zurückgebliebene auf dem Absatz kehrt, um sich noch ein Bier reinzuziehen. Der Chef hatte seinen Mitarbeitern den Konsum von Getränken gestattet, sodass er beim Verzehr desselben kein schlechtes Gewissen verspürte. Außerdem musste er ja seine Medikamente mit irgendeiner Flüssigkeit runterspülen. Danach fühlte er sich für das anstehende Ereignis gewappnet und spürte die Schmerzen der kräftezehrenden Arbeit des Tages kaum noch.

Als erstes durchkämmte er den Dachboden, der einst ein Taubenschlag gewesen war und von dem man auf der Giebelseite aus durch eine schmale, verglaste Tür auf das gegenüberliegende Gebäude schauen konnte, welches einem ortsansässigen Förster gehörte. Auf dieser und auch auf der anderen Giebelseite führten schmale Treppen hinunter ins Erdgeschoss. Die eine war für das Personal gedacht und die andere für die im Obergeschoss verweilenden Gäste. Vor drei Jahren war er schon einmal hier oben gewesen, um nach irgendwelchen Beweisen Ausschau zu halten, die den Aufenthalt von Helene bestätigen könnten. Doch schon damals war er nicht fündig geworden, aber das lag vermutlich auch daran, weil man ihn bereits nach kurzer Zeit wie einen Schwerverbrecher abgeführt hatte und er somit gar keine Gelegenheit für eine vernünftige Recherche finden konnte. Das sollte heute anders sein, denn auf eine solche Gelegenheit hatte er lange warten müssen, die würde so schnell nicht wiederkommen. Wichtig war vor allem, dass er sich die erforderliche Zeit für eine gründliche Suche nahm, auch auf die Gefahr hin, in der kommenden Nacht keinen oder nur wenig Schlaf zu bekommen.

Während seines Aufenthalts in der Psychiatrie hatte er sich mit forensischen Untersuchungsmethoden auseinandergesetzt und herausgefunden, dass sich mit der Substanz Luminol selbst kleinste und verborgene Blutspritzer auch nach Jahren noch nachweisen lassen, obwohl sie dem bloßen Auge verborgen bleiben. Die Wasserstoffperoxid enthaltene Luminol Lösung wirkt nach dem Aufträufeln auf das vermeintliche Blut durch das vorhandene Eisen des Hämoglobins wie ein Katalysator und beschleunigt die Oxidationsreaktion um ein Vielfaches. Das kurzfristig sichtbare bläulich leuchtende Ergebnis lässt sich dann in einem abgedunkelten Raum gut erkennen.

Beinahe liebevoll öffnete Hagen Schuster seinen Rucksack und beförderte eine kleine Sprühflasche zutage, in der sich das erwähnte Luminol befand. Die vielen Stühle um ihn herum verunsicherten ihn stark und ihm wurde schlagartig bewusst, dass er nicht jeden einzelnen auf Blutanhaftungen untersuchen konnte. Zumal er ja nicht einmal wusste, ob Helene überhaupt jemals hier oben gewesen war und dabei auch noch Blut verloren hatte. Laut Aussage der Nachbarin stand lediglich fest, dass sie im Erdgeschoss in dem mit Fachwerk

eingezäunten Bereich auf einem Stuhl gesessen hatte. Sichtlich enttäuscht packte er die Flasche wieder zurück in den Rucksack und konzentrierte sich stattdessen auf das Innenleben der Schränke in den Nebenräumen. Mit einer Taschenlampe durchsuchte er sogfältig jedes noch so kleine Fach in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf Helenes Verbleib zu finden. Im Grunde genommen wusste er genau, dass die Wahrscheinlichkeit, etwas Brauchbares zu finden ziemlich gering war, aber dennoch wollte er nichts unversucht lassen. Wenn sie wirklich Opfer einer Straftat geworden sein sollte, so wie er es vermutete, sie aber von niemandem gesehen worden war, dann konnte sie sich noch immer hier im Haus oder auf dem Gelände befinden. Zumindest was ihre sterblichen Überreste, die Kleidung und die mitgeführten Gegenstände betraf.

Beim Herausziehen der letzten Schublade drang plötzlich ein Geräusch aus der unteren Etage zu ihm nach oben. Wie vom Donner gerührt verharrte er in seiner Bewegung. Noch ehe Hagen Schuster in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen, hörte er auch schon gedämpfte Schritte auf der hölzernen Treppe des Personalaufgangs. In aller Eile löschte er

seine Taschenlampe und suchte kurzerhand die Toilette auf. Dort schloss er sich in der Kabine ein. Das Licht ließ er vorsichtshalber aus. Aus Angst vor Entdeckung wagte er kaum zu atmen.

Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und lief in kleinen Rinnsalen an den Schläfen hinunter. Im selben Moment fiel ihm siedend heiß ein, dass er vergessen hatte, die Tür im Eingangsbereich des Erdgeschosses von innen abzuschließen.

„Hallo, ist da wer?!“, rief eine männliche Stimme, wobei die Schritte innehielten und es für einen Augenblick unheimlich still war, bis sich eine andere männliche Stimme nahezu triumphierend zu Wort meldete.

„Da ist keiner, das habe ich dir doch gleich gesagt. Irgend so ein Blödmann hat einfach vergessen die Tür abzuschließen. Sowas soll im Eifer des Gefechts schon mal vorkommen. Schließlich ist der Laden erst seit ein paar Tagen offen und das Team längst noch nicht aufeinander eingespielt.

Da verlässt sich jeder auf jeden und am Ende sind alle verlassen.“ Er lachte heiser und forderte seinen Kumpel durch einen leichten Schlag in den Rücken zum Weitergehen auf.

„Vermutlich hast du recht, aber trotzdem ist mir nicht ganz wohl bei der Sache. Meinst du wirklich, wir sollten weiter hierbleiben?“

„Klar doch, Kumpel, oder willst du jetzt etwa einen Rückzieher machen?“

„Nee, dass nicht, aber …“

„Nichts aber“, unterbrach ihn der hinter ihm befindliche Typ und schob ihn kurzerhand beiseite. „Du musst die offene Tür quasi als einen glücklichen Zufall ansehen oder meinetwegen auch als Schicksal, denn immerhin brauchten wir nicht einmal einzubrechen, weil irgend so ein Idiot seine Gedanken nicht beisammenhatte. Überleg doch mal, das kann im Zweifelsfall niemals als Einbruch gewertet werden, weil wir weder ein Fenster noch eine Tür aufhebeln mussten. Geht das vielleicht mal in deinen Schädel rein?“

„Klaro, oder meinst du etwa, ich blicke nicht durch?“

„Doch, aber dann stell dich gefälligst auch nicht so mädchenhaft an, als würde hier oben einer auf uns warten, der uns den Garaus machen will.“ Er kicherte leise und boxte seinen Kumpel übermütig in die

Rippen. „Wollen doch mal sehen, was es hier im Oberstübchen zu klauen gibt.“

„Wenn du mich fragst, dann sage ich dir klipp und klar, dass es verschwendete Zeit ist, denn so wie es aussieht, hat die Kasse hier unterm Dach jedenfalls noch nicht geklingelt.“

„Wie kommst du darauf?“

„Na, weil außer den nackten Tischen und Stühlen absolut nichts Gescheites vorhanden ist, was sich weiterverkaufen ließe. Weit und breit ist weder eine Musikanlage noch ein vernünftiger Beamer zu sehen, der sich in Kohle umwandeln ließe. Also lass uns lieber wieder runter gehen und nach Bargeld suchen.“

„Nun warte doch wenigstens einen Moment, bis wir die restlichen Räume inspiziert haben. Irgendwo wird ja schließlich auch ein Büro oder so was ähnliches sein.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu …

„Außerdem muss ich dringend mal pissen.“

„Das Klo ist da“, raunte ihm sein Kumpel zu und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf das kleine Männchen an der Tür zur

Männertoilette. „Ich schaue mich derweil mal um.“

„Mach das, aber achte auf die Feinheiten.“ Grinsend verschwand er auf der Herrentoilette und schaltete die Beleuchtung ein. Beim Pinkeln starrte er auf das vor sich an der Wand befindliche Plakat, welches die Lesung eines Thrillers ankündigte. Völlig fasziniert merkte er nicht einmal, dass sein Kumpel unverhofft hinter ihm stand.

„Wie lange willst du denn noch pissen?“, erkundigte er sich mit rauer Stimme und spielte am Lichtschalter umher.

„Ey, lass das“, schimpfte sein Kumpel, weil er überraschend im Dunkeln stand. „Wenn ich etwas nicht abkann, dann ist es eine feuchte Hose … und die kriege ich verdammt noch mal, wenn ich nicht sehe, wohin ich pisse.“ Hastig schüttelte er sein Glied aus und zog den Reisverschluss seines Hosenstalls hoch.

„Was mährst du auch so lange rum“, rechtfertigte sich der hinter ihm Stehende und trommelte mit den Fingern seiner rechten Hand gelangweilt an die Fliesen der Wand.

„Geh mir mit deinem Gelaber bloß nicht auf den Sack, sondern sieh zu, dass du in die Hufe kommst, damit wir endlich was zu saufen kriegen. Ich habe nämlich einen unbändigen Brand.“

„Hier oben gibt es jedenfalls nichts, außer Kaffee, Tee und Konsorten, das habe ich schon rausgekriegt. Scheint ohnehin alles noch relativ improvisiert zu sein. Jedenfalls ist nicht mal das Büro halbwegs vernünftig eingerichtet, geschweige denn, dass da irgendwo Kohle oder so rumliegen würde.“

„Okay, dann versuchen wir unser Glück halt

unten.“

„Warum nicht gleich so, mein Freund?“

„Weil du ja unbedingt erst einmal nach oben wolltest, darum.“

„Ja, aber das war doch nur eine reine Vorsichtsmaßnahme, um ausschließen zu können, dass außer uns noch irgendwer hier im Haus rumgeistert.“

„Logo, aber nachdem wir uns nun wirklich von unserem Alleinsein überzeugt haben, sollten wir auch so schnell wie möglich

wieder runter, um wenigstens noch ein

bisschen was vom Abend zu haben.“

„Da stimme ich dir ausnahmsweise einmal zu, ohne zu meckern. Also ab durch die Mitte.“ Bei diesem Satz vollführte er auf dem Hacken eine Kehrtwendung und polterte die Treppe runter, sodass sich Hagen Schuster in seiner Kabine die Ohren zuhalten musste, um wegen des Lärms nicht laut los schreien zu müssen. Seine Nerven waren ohnehin zum Zerreißen gespannt und er befürchtete gleich einen Hustenanfall zu bekommen, der alles andere als förderlich für seine derzeitige Situation gewesen wäre.

Nach einer gefühlten Ewigkeit herrschte im Haus wieder absolute Ruhe und Hagen Schuster wagte sich aus seinem Versteck hervor. Auf leisen Sohlen schlich er behutsam eine Stufe nach der anderen abwärts. Zwischendurch blieb er immer mal wieder stehen und lauschte in die Dunkelheit. Das leise Knacken im Gebälk jagte ihm einen Schauer über den Rücken und er stellte sich vor, dass es Helene war, die irgendwo zwischen den Wänden rum spukte. In seinen Träumen erschien sie ihm häufig als schwebender Geist in einem langen weißen Gewand und vollführte

lockende Handbewegungen, als wolle sie ihn zum Folgen auffordern. Hektisch fuhr er sich mit der Hand über die Augen und schüttelte energisch den Kopf, um sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Im Erdgeschoss angelangt atmete er erleichtert auf, weil nichts mehr auf die Anwesenheit irgendwelcher anderen Menschen hindeutete. Draußen vor dem Eingang brannte eine Laterne und wies ihm den Weg zur Tür, die er unbedingt abschließen musste, bevor er noch eine weitere unangenehme Überraschung erlebte. Je näher er dem verglasten Eingangsbereich kam desto deutlicher wurde sein Spiegelbild. Verwundert registrierte er rechts und links hinter sich das Auftauchen zwei weiterer Köpfe, die dort nicht hingehörten. Im gleichen Moment wurde ihm klar, dass es die beiden widerrechtlich eingedrungenen Männer sein mussten, die nichts Gutes im Schilde führten. Rein instinktiv zog er den Kopf zwischen den Schultern ein, um der vermeintlichen Gefahr zu entgehen, als ihn auch schon ein heftiger Schlag in den Rücken traf und ihm die Luft zum Atmen nahm. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, bevor er an der Schulter getroffen wurde und mit einem erstickten Aufschrei zu Boden sank.

Auszeit in Ebergötzen

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