Читать книгу Auszeit in Ebergötzen - Renate Gatzemeier - Страница 7

Sonntag, der 31. März 2019, 11:00 Uhr in Ebergötzen

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Hagen Schuster hatte die Nase von der Fahrt nach Ebergötzen gestrichen voll und kämpfte gegen die aufkeimende Wut an, indem er seine Zähne aufeinander malmen ließ, bis sie schmerzlich knirschten und beinahe zu einer Verkrampfung des Kiefers führten. Die Hände zu Fäusten geballt stand er am Ortseingang von Ebergötzen und hoffte inständig auf ein in seine Richtung fahrendes Fahrzeug, das ihn mitnehmen würde. Er selber besaß keinen Wagen und somit war er auf die Gunst fremder Autofahrer angewiesen. Erst an der Bushaltestelle im Oberdorf von Fuhrbach hatte er gemerkt, dass sonntags überhaupt gar kein Bus fuhr. Demzufolge musste er seinen Weg per Anhalter bestreiten, was sich wesentlich schwieriger als erwartet herausstellte. Bis Duderstadt hatte ihn ein älterer Mann mitgenommen, der scheinbar nur jemanden zum Reden brauchte, bevor er seine Frau im St. Martini Krankenhaus besuchte. Danach war Hagen Schuster bis

zur Schnellstraße zu Fuß gelaufen. Die wenigen vorbeifahrenden Fahrzeuge machten allesamt einen großen Bogen um ihn, als wäre er ein Aussätziger.

Letztendlich handelte es sich um eine alte Dame, die an diesem Tag noch eine gute Tat begehen wollte, indem sie in letzter Minute mit quietschenden Reifen am Fahrbahnrand hielt, um ihn mitzunehmen. Ihr Gelaber ging ihm schon nach wenigen Kilometern auf den Senkel, aber um keinen Rauswurf zu kassieren, hielt er einfach die Klappe und nickte nur immer zustimmend mit dem Kopf, wenn sie einen Satz zu Ende gebracht hatte. An der Abzweigung nach Ebergötzen musste er jedoch das Fahrzeug verlassen und den Rest der Strecke zu Fuß bewältigen. Er wusste, dass es sich um einen langgezogenen Ort handelte und dass sein ersehntes Ziel am Ende desselben lag. Aus diesem Grund startete er beim nächstbesten sich nähernden Motorengeräusch noch einen letzten verzweifelten Versuch und taumelte kurzerhand auf die Straße, sodass der Fahrer des Wagens gezwungenermaßen in die Eisen gehen musste. Der Schreck,

beinahe einen Menschen umgefahren zu haben, lähmte ihn für einen Augenblick in seinem Denken, den Hagen Schuster sich schamlos zunutze machte und die Beifahrertür aufriss. Der Mann hinter dem Steuer war dermaßen verblüfft, dass er keinen Widerspruch einlegte, als sich der Fremde in das Polster fallen ließ mit den Worten.

„Bitte bringen Sie mich so schnell wie möglich zu dem Cafe´ „auszeit“, es geht um Leben und Tod.“

„Mann, was ist denn mit Ihnen passiert?“, wollte der Autofahrer wissen und startete durch. „Sie erwecken ja den Eindruck, als wäre der leibhaftige Teufel hinter Ihnen her.“

„So ähnlich fühle ich mich auch“, antwortete Hagen Schuster geistesabwesend und fuhr sich mit der Hand durch sein dünnes Haar.

„Dabei bin ich nur etwa zehn Kilometer die Straße entlang getrabt.“

„Oh, dann sind Sie demzufolge nicht freiwillig zu Fuß unterwegs gewesen?“

„Nein, ich hatte eine Autopanne, bin kurz hinter Duderstadt liegengeblieben“, log er und starrte durch die Windschutzscheibe.

„Ach so, verstehe, aber warum rufen Sie nicht einfach den Abschleppdienst oder den ADAC an?“

„Vielleicht, weil ich es nicht will …“, brummte Hagen Schuster mit einem missmutigen Seitenblick auf den Fahrer, der ihm mit seinen dämlichen Fragen fürchterlich auf den Sack ging.

„Ist ja schon gut“, versuchte ihn der Fremde zu beschwichtigen, indem er kurz die Hände vom Steuer nahm und sie in der Luft vorsichtig auf und ab bewegte. „Warum sind Sie eigentlich so gereizt? Man wird ja wohl noch mal fragen dürfen. Schließlich sind Sie mir direkt vor den Wagen gesprungen.“

„Manchmal muss man Dinge tun, die man unter normalen Umständen nicht tun würde.“ Kaum, dass er den Satz ausgesprochen hatte, befahl er dem verdutzten Fahrer anzuhalten, damit er aussteigen konnte. Im letzten Augenblick

hatte er ein Hinweisschild entdeckt, welches auf die rückwärtige Zufahrt zum Cafe´

„auszeit“ hin deutete. Noch ehe der Wagen richtig zum Stehen gekommen war, hatte Hagen Schuster die Tür aufgerissen und war auf die Straße gesprungen. Zurück blieb ein verstörter Mann, der nicht glauben konnte, was ihm soeben widerfahren war. Kopfschüttelnd schloss er die Beifahrertür und überlegte, ob er eventuell die Polizei anrufen sollte.

Hagen Schuster eilte unterdessen mit großen Schritten die mit Bäumen bewachsene Zufahrt hinunter. Schon von Weitem konnte er das rege Treiben rund um das Gebäude erkennen. Auf der Außenterrasse saßen die Menschen und genossen die Morgensonne. Stimmengemurmel drang an sein Ohr und wurde von gelegentlichem Geschirrklappern unterbrochen. Kleine Kinder spielten auf der Wiese. Ihr Lachen klang glockenhell. Das alles registrierte Hagen Schuster nur am Rande. Er hatte sein Augenmerk auf einen Mann unmittelbar vor dem Eingang gerichtet, der im Begriff war Aschenbecher auf die Tische des Außenbereiches zu verteilen. Seiner Tätigkeit nach zu urteilen musste es sich um einen Angestellten des Cafe´s, oder den Chef selber handeln.

Hastig steuerte er auf ihn zu. Kies knirschte unter seinen Schuhen und erschwerte das rasche Vorwärtskommen. Seine Füße brannten vom vielen Laufen wie Feuer und am liebsten hätte er die Schuhe ausgezogen und wäre barfuß weitergelaufen.

„Hallo!“, rief er in gemäßigter Lautstärke, um nicht gleich jedermann auf sich aufmerksam zu machen.

„Meinen Sie mich?“, erkundigte sich der Mann mit den Aschenbechern und hielt in seiner Bewegung inne.

„Ja“, antwortete Hagen Schuster und rang sich ein Lächeln ab. „Ich komme wegen der Stellenausschreibung …“

„Sind Sie Herr Schuster?“

„Ja, der bin ich, aber woher wissen Sie das denn, obwohl Sie mich doch noch nie gesehen haben?“

„Ich weiß es nicht, habe nur eins und eins zusammengezählt. Wenn drei Männer sich beworben haben und zwei davon bereits hier waren, dann bleiben am Ende nur noch Sie übrig.“

„Ja, das hatte ich nicht bedacht.“ Sein linkes Augenlid zuckte merklich und zeugte von Unsicherheit. „Komme ich etwa zu spät?“

„Nein, die Entscheidung ist noch nicht gefallen.“

„Was wollen Sie damit andeuten?“

„Einer der Bewerber hat mir bereits zu verstehen gegeben, dass er kein wirkliches Interesse an der Stelle hat und nur wegen des Arbeitsamtes hier war, um keine Sperre zu riskieren.“

„Und was ist mit dem anderen Bewerber?“, erkundigte sich Hagen Schuster mit belegter Stimme und fuhr sich vor Aufregung mit der Zunge mehrmals nacheinander über die trockenen Lippen.

Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, die er mit dem Handrücken wegwischte.

„Der andere Bewerber könnte seine Tätigkeit erst in zwei Wochen aufnehmen, sobald sein derzeitiges Arbeitsverhältnis beendet ist, aber wir brauchen jetzt sofort hilfreiche Unterstützung. Insofern besteht für Sie durchaus noch die Chance bei uns einzusteigen, wenn auch erst einmal nur probehalber für eine Woche. Danach sehen wir weiter. Was halten Sie davon?“

„Ja, natürlich, damit bin ich absolut einverstanden.“ Sein Körper nahm plötzlich eine gestraffte Haltung an und man konnte die Erleichterung förmlich spüren.

„Bis dahin sollten Sie dann aber auch ein paar persönliche Papiere aufgetrieben haben.“

„Das kriege ich auf jeden Fall hin“, ereiferte sich Hagen Schuster zu sagen und nickte bekräftigend mit dem Kopf.

„Prima, dann können Sie von mir aus gleich anfangen, denn es gibt viel zu tun. Alles Weitere besprechen wir später in aller Ruhe.“ Bei diesen Worten streckte er seinem Gegenüber die rechte Hand

entgegen. „Auf gute Zusammenarbeit, Herr Schuster.“

„Auf gute Zusammenarbeit“, erwiderte Hagen Schuster und erwiderte den festen Händedruck. „Was soll ich machen?“ Suchend blickte er sich um.

„Melden Sie sich einfach in der Küche bei Theodor, der wird Sie in das Wesentliche einweisen.“

***

Eine halbe Stunde später war Hagen Schuster ein völlig anderer Mensch, der sich selber nicht wieder erkannte. Der Küchenchef Theodor hatte ihm als Dienstkleidung ein klein kariertes Hemd verpasst, wie es alle anderen Mitarbeiter auch trugen. In diesem Outfit räumte er das benutzte Geschirr von den Tischen ab und in der Küche in die Spülmaschine ein.

Dabei verging die Zeit wie im Flug und Hagen Schuster fand bis zum Feierabend kaum Gelegenheit für eine längere Pause. Insgeheim dachte er über die Heimfahrt nach und ob es nicht vielleicht besser wäre,

die Nacht der Einfachheit halber in Ebergötzen zu verbringen, um am nächsten Morgen pünktlich zur Arbeit erscheinen zu können. Ihm war wichtig, dass er bei seinem Chef und den restlichen Angestellten einen guten Eindruck hinterließ, damit sie ihm wohlgesonnen waren und kein Misstrauen hegten, wenn er seine Nachforschungen in Angriff nahm.

Schließlich konnte es durchaus sein, dass er das komplette Haus und vielleicht sogar das Gelände auf den Kopf stellen musste, um irgendwelche Beweise zu finden, die ihm bei der Wahrheitsfindung weiterhelfen würden.

Seit dem spurlosen Verschwinden seiner Frau Helene waren inzwischen fast drei Jahre vergangen, von denen er mehr als zwei Drittel in der Psychiatrischen Klinik verbracht hatte. Damals hatte sie zusammen mit einigen anderen Frauen aus ihrem Heimatort Herzberg eine Busfahrt zum Europäischen Brotmuseum in Ebergötzen unternommen. Nach der Besichtigung war man ins nahegelegene Cafe´ gegangen, um dort das Mittagessen

einzunehmen. Im Anschluss daran konnte sich jeder seine Freizeit bis zur Abfahrt selber gestalten. Erst bei Antritt der Rückfahrt merkten die Frauen, dass Helenes Platz im Bus leer blieb. Daraufhin stieg der Fahrer wieder aus und veranlasste eine Suchaktion, um herauszufinden, ob sie möglicherweise irgendwo auf dem Gelände verletzt auf Hilfe wartete oder aber einfach nur Zeit und Raum vergessen hatte. Selbst das Personal des Cafe´s beteiligte sich innerhalb des Hauses an der Suche, allerdings erfolglos. Lediglich ihr rotes Halstuch wurde an einem Treppengeländer innerhalb der Anlage gefunden. Es flatterte dort leise im Wind und vermittelte den Eindruck, als wäre es absichtlich zurückgelassen worden.

Mit zwei Stunden Verspätung fuhr der Bus dann ohne Helene wieder zurück in die Heimat. Da sie über kein Handy verfügte und bei ihr zu Hause auch niemand ans Telefon ging, wollte eine der Frauen am Abend bei den Schusters vorbeischauen und sich von Helenes Wohlergehen

überzeugen. Doch auch dieses Vorhaben scheiterte, weil niemand die Tür öffnete.

Am darauffolgenden Tag stellte sich heraus, dass der Ehemann seine Frau inzwischen bei der Polizei als vermisst gemeldet hatte. Da zu diesem Zeitpunkt keinerlei Hinweise auf eine Straftat oder einen Suizid vorlagen und Helene als volljährige Person ihren Aufenthaltsort selber bestimmen konnte, wurde die Vermisste vorerst nur zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben.

Es folgten drei schreckliche Jahre voller Ängste und Sorgen, in denen Hagens Ehefrau spurlos verschwunden blieb. Keiner konnte etwas über ihren Verbleib sagen, niemand wollte die Frau nach ihrem Weggang aus dem Cafe´ in Ebergötzen gesehen haben. Daraufhin startete Hagen alle nur denkbaren Aktionen, um seine Frau auf irgendeine Weise ausfindig zu machen. Er ließ Plakate mit ihren Personalien und einem Foto anfertigen und hängte sie an Bäumen und Laternen auf. Zusätzlich verteilte er Flyer in ganz Ebergötzen und Herzberg. Außerdem durchforstete er mit Freunden und Bekannten das komplette

Gelände rund um das Brotmuseum und um das Cafe´. Die wenigen Hinweise aus der Bevölkerung verliefen nach eingehender Überprüfung allesamt im Sand.

Hagen Schuster wurde nach dem Verschwinden seiner Frau regelrecht schwermütig und konnte irgendwann auch keiner regelmäßigen Arbeit mehr nachgehen. Eine kurzfristig anberaumte Kur sollte Linderung verschaffen, bewirkte allerdings genau das Gegenteil, indem er einen Nervenzusammenbruch erlitt und ins Krankenhaus eingewiesen werden musste. Nach einer Woche wurde er von dort aus in eine Psychiatrische Klinik verlegt. Hier vegetierte er mehr oder weniger zwei Jahre und ein paar Monate vor sich hin, bevor er als gesundheitlich halbwegs stabil und medikamentös gut eingestellt wieder in die sogenannte Freiheit entlassen werden konnte.

Das gemeinsame Haus hatte er bereits während des langen Klinikaufenthalts von einem Immobilienmakler verkaufen lassen, da er es ohne Helene sowieso nicht wieder betreten wollte und es auch keine Erben

gab, die sich des Grundstückes hätten annehmen können. Seinen Job als Lkw- Fahrer hatte längst ein anderer übernommen und somit blieb Hagen Schuster nur noch der Weg zum Amt, denn der Erlös vom Verkauf des Hauses stand ihm aufgrund gemeinsamer Veranlagungen nicht zur Verfügung, zumindest nicht solange Helene unauffindbar blieb, egal ob tot oder lebendig.

Als kurz nach achtzehn Uhr die letzten Gäste das Cafe´ verließen, kehrte endlich Ruhe ein und der Chef verkündete in aller Eile, dass er heute unbedingt pünktlich das Geschäft verlassen müsse und die Aufräumungsarbeiten vertrauensvoll seinen Mitarbeitern überlassen würde. Während die weiblichen Angestellten nach Beendigung ihrer regulären Arbeitszeit um rechtzeitigen Feierabend bemüht waren, blieben der Küchenchef und Hagen als einzige zurück und brachten die Küche mit vereinten Kräften wieder in ihren Ursprungszustand zurück.

„So, mein Freund“, verkündete Theodor

nach getaner Arbeit und zog seine

Kochjacke aus, um sie an den Haken zu hängen. „Jetzt trinken wir noch ein Bierchen zusammen und dann geht es ab zu Frauchen ins traute Heim.“

„Gerne“, erwiderte Hagen und folgte dem Küchenchef in den Gastraum. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich danach draußen aber gerne noch die Tische gründlich abwischen.“

„Das SIE kannst du ganz schnell vergessen, denn wir duzen uns hier alle, bis auf den Chef und die Chefin natürlich. Aber die sind so locker drauf, dass es nur eine Frage der Zeit sein wird, bis sie uns das DU anbieten.“ Während er auf den Tresen zusteuerte, um zwei Flaschen Bier zu holen, fragte er scheinbar nebensächlich.

„Und wieso legst du eigentlich so großen

Wert darauf Überstunden zu machen?“

„Auf mich wartet zu Hause niemand“, antwortete Hagen kurz angebunden und nahm die geöffnete Flasche in Empfang. Es fiel ihm schwer sein Gegenüber anzusehen, deshalb richtete er seinen Blick auf die

weiße Vitrine, die mit unzähligen regionalen Bastelartikeln und Büchern bestückt war.

„Sorry, ich wollte dir nicht zu nahetreten“, entgegnete Theodor mit belegter Stimme und trank sein Bier in einem Zug aus. „Ich überlasse dir dann mal den Schlüssel und du gibst ihn mir morgen früh einfach wieder.“ Beim Weggehen klopfte er Hagen anerkennend auf die Schulter. „Hast heute gute Arbeit geleistet, hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

„Danke“, bemerkte Hagen sichtlich erleichtert und nahm den Schlüssel in Empfang. Wie in einer Schraubzwinge hielt er ihn fest umschlossen und mochte nicht glauben, wie einfach doch alles sein konnte, wenn man es nur wollte. Eine Weile stand er wie festgenagelt auf der Stelle und verfolgte den Fortgang des Küchenchefs, wie er die Allee hoch zur Hauptstraße marschierte. Sein Gang wirkte unsicher und zeugte von einer gewissen Müdigkeit. Ihm erging es ähnlich wie Hagen Schuster, denn auch er besaß keinen eigenen Wagen und deshalb musste er mit dem Bus vorlieb

nehmen. Zum Glück lag sie nur etwa achtzig Meter von der Allee entfernt.

Auszeit in Ebergötzen

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