Читать книгу Il Vesuvio - Die Ehrenwerte Gesellschaft - Renate Zawrel - Страница 3
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© Copyright by Renate Zawrel - 2017
Lektorat: Barbara Siwik
Cover © Detlef Klewer
Verlag: Renate Zawrel
4464 Kleinreifling
Österreich
renate.zawrel@gmx.at
epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Die Darstellung der Organisationen Camorra, N'drangheta oder Cosa Nostra beruht auf fiktiven Empfindungen und findet in der Realität keinen Niederschlag.
Viele Erzählungen ranken sich um die Position der Mafia - ›Il Vesuvio‹ ist eine davon …
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Danke an Cathrin, die der Erstversion von ›Il Vesuvio‹ aus den Kinderschuhen geholfen hat.
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Danke an Barbara, die durch ihre Erfahrung und ihren Wortschatz in Deutsch und Italienisch diese Neuauflage zu einem ›neuen‹ Roman macht.
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Danke an Detlef für das grandiose Cover, das den Inhalt widerspiegelt ohne zu viel zu verraten.
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Danke an meine Familie, dass es sie gibt und wir immer für einander da sind.
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Ognuno la intende a modo suo.
Kapitel 1
»Marie, komm zu mir. Ich will dich – jetzt.« Schwer atmend breitete Sir Edward Lindsay seine Arme aus, um die schöne Frau im Empfang zu nehmen.
Es war Sonntag – sein Tag; der Tag, an dem er die Gespielin in sein Bett holen durfte. Das blonde, lange Haar trug sie heute aufgesteckt und mit perlenbesetzten Spangen verziert. Der kirschrote Mund leuchtete verführerisch, während dichte Wimpern ihre blaugrauen Augen fast verdeckten. Erregende Verruchtheit lag in ihrem lächelnden Gesicht.
Auf der Stirn des fast siebzigjährigen Mannes bildeten sich Schweißtröpfchen. Sein Mund wurde trocken. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Seine Finger zitterten, als die Frau ihm so nah gekommen war, dass er das pailettenbesticktes Kleid berühren konnte. Ihr Dekolleté bot dem Betrachter einen wundervollen Einblick.
»Nun, mon chérie, was kann isch für disch 'eute tun?«, schmeichelte Marie mit rauchiger Stimme und französischem Akzent. Sie legte den Arm um Sir Edwards Schulter und ihre Finger kraulten sein noch immer dichtes Nackenhaar.
Der Duft von Chanel No. 5 umwehte ihn. Die Lippen der Frau waren nur einen Hauch von den seinen entfernt. Ihre Augen blitzten neckisch unter den langen Wimpern.
»Möschte Monsieur, dass isch ihm beim Auskleiden be'ilflisch bin? So etwa?« Maries Finger fuhren zwischen seine Hemdknöpfe und berührten die nackte Haut darunter.
Der Lord keuchte und die Worte, die er ausstieß, verstand wohl nur die Frau.
Sie drängte den erregten Mann Schritt für Schritt rückwärts zu dem breiten, mit Seidenlaken ausgestatteten Bett. Dabei öffnete sie sein Hemd langsam mit ihren langen Fingernägeln. Ergrautes Brusthaar kam zum Vorschein. Sie senkte den Kopf und ließ ihre Zunge durch das Gekräusel gleiten.
Bebend keuchte der Lord: »Mach schneller, Marie. Ich möchte dich nackt sehen.«
»Aber mon chérie, wir 'aben doch Zeit.« Sie schüttelte tadelnd den Kopf. Und keinen Deut schneller als zuvor machte sie sich daran, Sir Edward von seinem Hemd zu befreien. Nun, die Jahre hatten deutliche Spuren des Alterns an seinem Körper hinterlassen. Von der stattlichen Figur eines Adonis war er weit entfernt. Dennoch beugte sich Marie vor und leckte spielerisch seine Brustwarzen.
Der alte Mann stöhnte auf und warf den Kopf zurück. Seine Hände griffen nach Maries Brüsten. Der dünne Stoff ihres Kleides riss, die Pailletten sprangen wie Glitzerstaub umher. Gierig kneteten Sir Edwards Hände die prallen Brüste, deren Brustwarzen bereitwillig darauf reagierten und sich verhärteten.
»Die Hose, Marie ... die Hose ... schnell«, bettelte er.
»Aber ja, chérie. Isch mach es ja schon«, gurrte die Frau. Blitzschnell löste sie den Gürtel und zog den Zippverschluss auf. Die Hose glitt zu Boden. Nur mehr mit dunklen Socken bekleidet stand Sir Edward mit dem Rücken vor dem Bett. Die Erigierung seines Gliedes war für sein Alter recht beachtlich. Mit glasigen Augen verfolgte er jede Bewegung Maries, die mit laszivem Blick das einzige Kleidungsstück abstreifte, das sie trug. Straffe Brüste, ein flacher Bauch, runde Hüften und ein draller Po boten sich seinen lüsternen Blicken dar. Gierig griffen die Hände des Lords zu und drängten die Frau aufs Bett.
Es gab nichts mehr hinauszuzögern. Er hatte schon viel zu lange gewartet. Und die Gespielin schenkte ihm, wonach er sich sehnte – heute war ihre französische Nacht.
***
Als Sir Edward am Morgen erwachte, war der Platz an seiner Seite leer. Die Erinnerung an die letzte Nacht wurde wachgerufen durch die am Boden verstreuten, glitzernden Pailletten. Der Duft nach Chanel No. 5 lag noch in der Luft. Zufrieden seufzend zog der Lord den Morgenrock über den seidenen Pyjama und läutete nach Frederic.
Lindsay hatte sämtlichen Angestellten französische Namen verpasst. Der Butler hieß eigentlich Friedrich und kam aus Deutschland, aber hier war er seit fünf Jahren Frederic.
»Sir?«, meldete sich eine leidenschaftslose Stimme. Frederic besaß die Fähigkeit, wie aus dem Boden gewachsen aufzutauchen.
In freundlichem Ton ordnete der Lord an: »Bitte sorgen Sie dafür, dass hier gesäubert wird, Frederic. Mein Frühstück möchte ich wie immer im Wintergarten einnehmen.«
»Sehr wohl, Sir.« Mit einem Seitenblick auf das Chaos im Zimmer erkannte Frederic, wie die Nacht verlaufen war und hob kaum merklich eine Augenbraue. Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein schmales Gesicht, doch im nächsten Moment verschwand es wieder.
Alle Angestellten des Lords wusste über die Eigenheiten Sir Edwards, sein Privatleben betreffend, Bescheid. Keiner nahm daran Anstoß und niemand würde je in der Öffentlichkeit darüber sprechen. Untereinander rätselte das Personal dagegen, wer die Frau …
»Darf ich daran erinnern, Sir, dass heute die Leute von der Filmgesellschaft kommen?«, meldete Frederic höflich, während er den Lord zum Wintergarten begleitete.
Dort schien bereits der Frühling eingekehrt zu sein: Die Beleuchtung stammte von eigens installierten Tageslichtlampen. In den im Boden eingelassenen kleinen Beeten blühten Tulpen und Narzissen. Nur der Blick durch die tadellos sauberen Glaswände verriet, dass der süditalienische Winter noch nicht gewichen war. Eine dünne Schneelage bedeckte hier und da die Rasenflächen und die kurzgeschnittenen Hecken der Anlage. Die kahlen Äste der Bäume ragten glanzlos in den grauen Morgen. Die immergrünen Palmen waren aus diesem Blickwinkel nicht zu sehen.
Auf einem filigran wirkenden, silbernen Tablett erwarteten den Lord Croissants, Marmelade, Toastbrot, zarter Lachsschinken und Käseröllchen. Dazu gab es Kaffee und – nicht zu vergessen – ein Glas Tomatenjuice, das der Lord seit Jahren jeden Morgen zum Frühstück trank. Diesem Vitaminstoß schrieb er auch seine Vitalität und Manneskraft zu, obgleich er in dieser Hinsicht ein wenig mogelte.
»Ja, Frederic«, bestätigte er nun die Erinnerung des Butlers. »Ein Gespräch mit der … wie nannte sie sich doch …«
»Winestore Company, Sir«, half Frederic ohne Zögern aus.
»Winestore, richtig«, wiederholte der Lord. »So ist mir der Name auch erinnerlich.«
Damit war die Angelegenheit erledigt. Sir Edwards Aufmerksamkeit galt nun den Aktienkursen in der Financial Times. Ohne von der Zeitung aufzusehen, verlangte er nach dem Mobiltelefon. Der Butler reichte es ihm stumm und zog sich diskret zurück.
Mit langen Schritten durchmaß Frederic den Salon. Dort begegnete ihm Pascale – laut Geburtsschein Paula, ebenfalls eine Deutsche.
Pascale arbeitete als Zimmermädchen. ›Mädchen‹ im wörtlichen Sinn war stark übertrieben: Sie hatte die Fünfzig bereits hinter sich, sprühte jedoch vor Lebhaftigkeit und wirkte dadurch bedeutend jünger. Sie war zwei Köpfe kleiner als der Butler.
»Pascale, das Schlafzimmer des Lords sieht wüst aus. Kümmerst du dich?«, bat Frederic, jetzt allerdings grinsend. »Sein Sonntagsvergnügen war wieder da. Die müssen ordentlich ge…«
»Frederic, du sollst dich nicht so ordinär ausdrücken«, unterbrach ihn Pascale. Aber sie lachte. »Bin schon unterwegs.« Flink wieselte sie davon.
Die Angestellten pflegten untereinander einen lockeren Umgangston. Die ihnen von Lord Lindsay verordneten französischen Namen verwendeten jedoch auch sie der Einfachheit halber.
Frederic war der an Lebensjahren Älteste. Das schwarze, dichte Haar trug er, durch Pomade unterstützt, straff nach hinten frisiert. Es verlieh ihm einen achtungsgebietenden Ausdruck. Der schwarze Anzug saß tadellos und seine Schuhe glänzten wie Speckschwarte. Um die Angelegenheiten des Haushalts kümmerte sich vor allem eine attraktive Frau schwer bestimmbaren Alters. Sie stammte aus Österreich, hieß Marianne und der Lord hatte ihr den Namen Marie verpasst.
Diese Marie schien ein wahres Multitalent zu sein. Sir Edward hatte ihr die Leitung des Haushalts anvertraut, übertrug ihr desgleichen Arbeiten, die einer Sekretärin zukamen, und erbat sich ihren Rat sowie ihre Hilfe in vielerlei persönlichen Dingen. Wenn Gäste angesagt waren, ließ er ihr auch bei der Zusammenstellung der Speisen grundsätzlich freie Hand.
In der Küche betätigten sich Monique – abgeleitet von Monika, Francine – die einzige waschechte Französin – und Angelique, die eigentlich Angela hieß. Der Koch, Pierre, hatte eine etwas längere Gewöhnungszeit gebraucht, ehe er knurrend seinen italienischen Namen Pietro ablegte. Außer den bereits Genannten arbeiteten für den Lord noch zwei Gärtner, ein Chauffeur und zwei Kammerzofen – Mädchen, die für die Wäsche zuständig waren.
Falls für ungeplante Mehrarbeiten erforderlich, stellte Lindsay manchmal auch einfache Leute aus dem Volk ein, von denen er wusste, dass sie dringend eine finanzielle Aufbesserung der Haushaltskasse nötig hatten.
***
Sir Edward Lindsay – wie gesagt, erklärter Liebhaber des Französischen – hatte den Landsitz in der Nähe Neapels vor mehr als zehn Jahren von einer sehr weitläufigen Verwandten geerbt. Die alte Lady hatte zwar nicht auf dem Anwesen gelebt, es jedoch ganz im alten Stil pflegen lassen. Wanderte man durch den Garten, fühlte man sich in ein anderes Land versetzt. Überall dominierten die berühmten englischen Rasenflächen. Im Moment lag allerdings hier und da etwas Schnee, selten genug für die Gegend um den Vulkan.
Die Neapolitaner – soweit sie zur finanzkräftigen Oberschicht oder der Welt des Business gehörten – hatten sich an den in ihren Augen etwas verschrobenen Lord gewöhnt. Schließlich befand sich in einem der Flügel des Landsitzes eine umfangreiche und sehenswerte Bildergalerie, die er auf Wunsch auch Touristen zugänglich machte. Vor allem aber brachte er der Stadt Geld, allein schon durch die umfangreichen Einkäufe ausgesuchter Delikatessen, teure Ausstattungen aller Art und nicht zuletzt durch den Kauf kostspieliger Geschenke, für wen auch immer sie sein mochten. Seine soziale Kompetenz, wie schon erwähnt, tat ihr Übriges, um den Lord als einen der Ihren zu betrachten.
Sir Edward ließ sich in der Hafenmetropole allerdings sehr selten auf der Straße blicken. Besorgungen wurden größtenteils von Marie gemacht. Der Lord machte sich nicht so viel aus Italien. Viel lieber wäre ihm ein Gut in der Normandie gewesen, doch er hatte nun einmal dieses Anwesen geerbt. Und deshalb verband er hier, was er und wie er es sich wünschte: Englische Lebensart und französisches Savoir-Vivre – am Fuß des Vesuvs.
Ein Sonderling war Sir Edward Lindsay schon, aber ein liebenswerter und zudem ein Nachkomme britischer Lords, die darauf stolz waren, in einer Nebenlinie mit dem englischen Königshaus verwandt zu sein.
***
Ronald Graham hatte als Thema für sein Filmprojekt die Mafia, die scheinbar ›Ehrenwerte Gesellschaft‹ gewählt. Die komplizierten Ermittlungen der Rechtsorgane, die Mischung aus Korruption, Machtgier, Erpressung und nicht zuletzt Mord, machten diese Geschichte – betitelt Il Vesuvio – zu etwas äußerst Brisantem.
Beeindruckend waren auch die Namen der Schauspieler, die Graham für dieses Projekt bereits verpflichtet hatte: Brendon Pitts, Malcolm Mortimer jun., Karl Landmann. Diese Namen sollten die Menschen in die Kinos locken.
Das Landgut des Lords hatte er sich als Hauptsitz des Padrone Carlo Montessa gedacht. Natürlich würde Graham während der Dreharbeiten auf alles Rücksicht nehmen, was Interieur, Landschaft und das Privatleben des Lords betraf. Und das eben wollte er heute mit Sir Edward besprechen.
***
Lord Lindsay blickte auf seine Taschenuhr. Für zwei Uhr nachmittags war der Termin mit dem Regisseur vereinbart worden. Sir Edward liebte Pünktlichkeit – noch fünf Minuten. Sie würden mit darüber entscheiden, ob er dem Angebot der Filmgesellschaft zustimmte. Denn wenn schon jetzt Unzuverlässigkeit im Spiel war, wie sollte das dann in Zukunft aussehen? Keinesfalls wollte Sir Edward sich zudem in seinem gewohnten Lebensrhythmus stören lassen.
Die Geschichte, die hier verfilmt werden sollte, interessierte ihn allerdings. Schon immer waren die Mafia und ihre verborgene Welt sein Steckenpferd gewesen. Nur zu gut wusste er jedoch, dass alles, was dieses Thema betraf, hier nur hinter vorgehaltener Hand weitergegeben wurde. In der Öffentlichkeit vermied man es tunlichst, das Wort Mafia zu erwähnen oder Camorra, wie es in Neapel hieß. Es konnte infolge unbedachter Äußerungen durchaus passieren, dass der Betreffende an der nächsten Straßenecke plötzlich und unversehens einem Auto in die Quere lief – mit tödlichem Ausgang, versteht sich …
Es läutete am Portal: Zwei Uhr – auf den Punkt genau.
Der Lord nickte beifällig. Frederic würde die Besucher zu ihm in den Salon führen.
***
Graham war nicht ungeschickt in Verhandlungsdingen. Er hatte sich vor dem Treffen über Sir Lindsays Gewohnheiten informiert, wusste über dessen Pünktlichkeitswahn ebenso Bescheid wie über dessen Faible für französische Namen oder das Festhalten an englischer Kultur.
Natürlich war ihm ebenfalls bewusst, dass es nicht das Geld für die Miete war, das den Lord reizte, sein Anwesen als Kulisse zur Verfügung zu stellen, denn davon hatte er genug. Sir Edward war ein Börsenprofi und schien schon Tage vorher zu wissen, ob die Aktienkurse zu steigen oder zu fallen beliebten. Ronald Graham rechnete daher mit einem äußerst vitalen Menschen, der, wie man ihm gesagt hatte, noch immer gern Golf spielte, in seinem Pool einige Längen schwamm und häufig über seinen Besitz joggte. Es würde also Geschick erfordern, die Verhandlungen gut über die Runden zu bringen.
Als der Butler die Besucher ankündigte, erhob sich Sir Lindsay aus seinem ledernen Arbeitsstuhl.
Frederic verneigte sich andeutungsweise. »Sir, die Herren wären nun da – Mister Graham, Mister Mortimer und Mister Landmann.« Dann wandte er sich an die Besucher und deutete mit einer leichten Handbewegung auf die Erscheinung im tadellos sitzenden Nadelstreifanzug. »Meine Herren, Sir Edward Lindsay.«
»Danke, Frederic. Ich werde Sie rufen lassen, sobald wir Wünsche haben.«
Als Frederic den Raum verlassen hatte, musterte Sir Edward seine Gäste aufmerksam. Malcolm Mortimer jun. kannte er – nicht nur aus Filmen, sondern auch als Sohn des berühmten Malcolm Mortimer sen. Der etwas untersetzte Mann mit den rötlichen Haaren musste nach seinem Dafürhalten somit der Amerikaner Ronald Graham sein. Blieb noch der gutaussehende Mann mit dem dunklen Haar, der auch der jüngste war – Karl Landmann, der Neuseeländer.
Der Lord begrüßte zuerst den Regisseur: »Mister Graham, es freut mich, dass Sie den Weg hierher gefunden haben.«
Dann reichte er Malcolm Mortimer jun. die Hand. Lag Zögern in dem Tun des Lords? Jedenfalls war der Klang seiner Stimme ein anderer als zuvor. »Unverkennbar der Sohn seines Vaters. Malcolm Mortimer, wenn ich nicht irre?«
»Respekt! Sie sind gut im Raten!«, erwiderte der Schauspieler in arrogantem Ton. Schließlich war er ein ›Star‹, man kannte ihn daher. Warum also nicht auch der Lord?
Nun, Mortimer hatte die Rechnung ohne Sir Edward gemacht. ›Unsympathisch‹ war der Eindruck, den er von dem Mann gewann, und deshalb kühl bemerkte: »Ich bezog die Unverkennbarkeit ausschließlich auf das Aussehen. Ihr Vater strahlte wesentlich mehr Sympathie aus.« Und ehe Mortimer darauf etwas zu antworten wusste, war Sir Edward schon bei seinem dritten Gast angelangt.
Warum auch immer, dessen Hand hielt er länger in der seinen. »Sie kommen also aus Neuseeland, Mister Landmann? Bisher habe ich es nicht gewagt, so weit zu fliegen. Vielleicht finden Sie ja gelegentlich Zeit, mir etwas über Land und Leute zu erzählen.«
»Gern, Sir, doch werden Worte der Schönheit meines Landes nicht gerecht werden«, erwiderte Landmann freundlich.
Sir Edward lächelte. »Nun, einiges davon habe ich ja gesehen, als ich mir die Teile der großartigen Tolkien-Verfilmung ›Herr der Ringe‹ ansah.«
Landmann lächelte in sich hinein. Ein Lord und eine Fantasy-Saga? Damit hätte er nicht gerechnet.
Die Förmlichkeiten der Begrüßung waren abgeschlossen.
»Bitte, meine Herren, nehmen Sie Platz.« Sir Edward wies mit einer einladenden Handbewegung auf die mit edlen Stoffen bezogenen Hochlehner an einem Tisch mit bräunlich marmorierter Platte.
Nachdem die Männer sich gesetzt hatten, erkundigte der Lord sich, ob er ihnen etwas zu trinken anbieten dürfe: »Trinken die Herren Kaffee, Tee, Wein?«
Mortimer und Graham entschieden sich für Wein, während Landmann um Kaffee bat. Sir Edward zog an dem breiten Band, das neben der Tür zum Salon von der Decke hing. Dann setzte er sich auf den freien Stuhl an der Schmalseite des Tisches.
Geräuschlos öffnete sich die schwere Türe mit der Lederpolsterung.
»Sir, Sie haben geläutet?«, fragte eine Frau, deren Alter schlecht zu schätzen war. Sie trug ein dezentes, schwarzes Kleid mit weißem Schürzchen. Das dunkelblonde Haar war einem Zopf geflochten und aufgesteckt. Dezentes Make-up unterstrich die aristokratisch wirkenden Gesichtszüge der Frau.
»Marie, bitte bringen Sie uns zwei Gläser und Rotwein; für Mister Landmann und mich Kaffee. Bitte tragen Sie auch etwas süßes Gebäck auf«, bat der Lord.
»Sofort, Sir.« Die Frau lächelte freundlich und verschwand.
Bald darauf wurde der Wein von Frederic kredenzt, denn das war Männersache.
Marie stellte die Kaffee-Gedecke vor Landmann und den Lord, dazu Schalen mit Milch und Zucker und goss den aromatisch duftenden Kaffee ein. Vom Servierwagen holte sie darauf noch ein Silbertablett mit verführerisch duftenden petit fours.
Die Augen des Lords begannen in Erwartung des kulinarischen Genusses zu leuchten. »Ihr Werk, Marie?«, fragte er. Er wusste, sie war eine Perle. Nur dass die Perlen meist altgediente Hausdamen waren, also keinesfalls vergleichbar mit dieser attraktiven jungen Frau.
»Ja, Sir, mein Werk. Ich hoffe, es trifft Ihren Geschmack«, antwortete Marie bescheiden. Gemeinsam mit Frederic verließ sie den Salon. Die Blicke der Männer folgten ihr und zwar mit sehr unterschiedlichem Interesse …
»Greifen Sie zu, meine Herren«, forderte der Lord auf. »Es sind echte Köstlichkeiten.« Niemand ließ sich ein zweites Mal bitten.
Und dann leitete Lindsay endlich die eigentliche Unterhaltung ein. »Lassen Sie uns über das Geschäft sprechen. Deshalb sind Sie ja gekommen.«
Ronald Graham zog eine Mappe aus dem Aktenkoffer und legte sie vor sich auf den Tisch. Er räusperte sich ein wenig nervös, ehe er seine einstudierte Rede hielt.
»Verehrter Sir Lindsay, ich habe Ihnen ja schon einige Details am Telefon erläutert. In diesen Aufzeichnungen hier finden Sie eine ausführliche schriftliche Darstellung unserer Vorhaben, für die wir Ihr Landgut in Anspruch nehmen möchten, ebenso eine Auflistung der finanziellen Entschädigungen und Gewährleistungen, die wir anbieten, nicht zuletzt auch den Vertragsentwurf. Wenn Sie, bitte, einen Blick hineinwerfen wollen.«
Er reichte dem Lord die Mappe. Der legte sie beiseite, versprach jedoch: »Ich werde die Unterlagen durch meinen Rechtsanwalt prüfen lassen, Mister Graham. Erzählen Sie mir lieber mit eigenen Worten ein wenig über den Film. So kann ich mir ein viel besseres Bild machen.«
Graham räusperte sich erneut. »Wie bereits am Telefon angedeutet: Es wird ein Film über die italienische Mafia, speziell über die Camorra, die ja hier zu Hause ist. Mister Mortimer wird einen Staatsanwalt spielen, der die unehrenhaften Hintermänner eines Padrone überführen und schließlich deren Machenschaften durchkreuzen soll. Mister Pitts, der erst zu Drehbeginn anreisen kann, wird die Rolle eines Spitzels übernehmen und Mister Landmann die Rolle der ›rechten Hand‹ des Padrone.
Der Padrone selbst wird nur selten in Erscheinung treten und von einem italienischen Schauspieler dargestellt werden. Für Statistenrollen plane ich die Mithilfe der Bevölkerung ein. Allerdings scheitert eine Kontaktaufnahme im Moment noch an fehlenden Verständigungsmöglichkeiten, beziehungsweise möchte ich Ihrer Entscheidung nicht vorgreifen und …«
Der Lord hob leicht die Hand. »Verzeihen Sie, Mister Graham, wenn ich Ihren Überschwang dämpfe. Sie werden hier kaum Leute finden, die in einem Film über die Mafia als Statisten auftreten möchten. Das ist – wie ich das infolge der vielen Jahre, die ich hier lebe, beurteilen kann – ein sehr gefährliches Thema. Niemand will über diese Dinge sprechen.
Offiziell gibt es keine Mafia, man spricht allerhöchstens von der famiglia. Die Carabinieri haben das Verbrechen angeblich im Griff. Überfälle, die hier geschehen, sind eben Überfälle, wie sie sich überall in der Welt ereignen. Personen, die verschwinden, sind eben irgendwohin verzogen, nichts Besonderes bei der hohen Arbeitslosenrate in und um Neapel. Machen Sie sich doch selbst ein Bild: Es gibt mehr Armutsviertel als Villengegenden. Selbst die Zone um den Bahnhof herum gleicht eher einem großen Asylantenlager als einem Hauptbahnhof im Zentrum einer Stadt. Einzelne Häuser und ganze Wohnschluchten in der Hafengegend stehen leer. In den Gassen tummeln sich Junkies, zwielichtige Gestalten und Prostituierte. Selbst in den Hauptstraßen, die noch einen Hauch von Grandezza besitzen, sind die Portale der Geschäfte mit schweren Eisenketten gesichert. Einzig florierende Unternehmen sind die Galleria Umberto und einige Supergeschäfte der Markenindustrie, deren Besitzer sich entsprechende Schutzgelder leisten können. Natürlich gibt es auch noch die vornehmeren Wohngegenden. Doch dort werden Sie erst recht keine Freunde für Ihre Pläne finden.«
Betretenes Schweigen breitete sich aus.
Schließlich ergriff wiederum der Lord das Wort. »Und mein Haus soll nun als prunkvolles Heim des Padrone dienen, wenn ich Sie recht verstanden habe? Wie stellen Sie sich das vor? Sie werden ja nicht erwarten, dass ich während dieser Zeit ausziehe?« Lindsays Gesicht schien ernst, doch im Grunde genommen war er amüsiert über diese Vorstellung.
»Nein, Sir«, beeilte sich Graham zu versichern. »Wie gesagt: Die Szenen, in denen der Padrone eine Rolle spielen wird, sind sehr kurz. Es kommt uns eher auf die Außenansicht an, die wir öfter integrieren möchten, ebenso auf die Gartenanlagen.«
Erneut entstand eine Pause, in der Sir Edward scheinbar gedankenvoll die Tischplatte fixierte. »Und kommen in Ihrem Film auch Frauen vor?«, fragte er unvermittelt.
Die Antwort folgte rasch, so als habe Graham sie erwartet: »Kaum. Zumindest ist keine tragende Rolle vorgesehen«, gab Graham zu. »Es sind eher kleine Auftritte, die jede ihrer Angestellten übernehmen könnte.«
Die Gedanken des Regisseurs kreisten unversehens um jene Frau, die er eben zu Gesicht bekommen hatte … wie war doch der Name … richtig, um Marie.
Sir Edward hatte wohl ebenfalls in Windeseile die Frauen des Hauses Revue passieren lassen und war zum gleichen Ergebnis gekommen, denn er sagte: »Ich weiß nicht, Mister Graham, ob Sie Marie zum Mittun überreden könnten.« Er schmunzelte, als er die Verlegenheit des Regisseurs bemerkte. »Und eines noch«, fügte er, in schrofferem Ton als zuvor, hinzu. »Von Samstagabend bis Montagmorgen erlaube ich keinerlei Filmaufnahmen auf meinem Gelände. Das ist eine Bedingung, von der ich nicht abgehen werde.«
Graham überlegte fieberhaft, wie sich das auf die Drehzeiten auswirkte, willigte aber ein: »Das lässt sich einrichten.« Er musste mit den Verhandlungen schnellstens zum Ende kommen, ehe dem Lord neue Bedingungen einfielen. Deshalb erklärte er: »Wir wollen Ihre kostbare Zeit nun nicht weiter in Anspruch nehmen. Wann dürfen wir mit Ihrer Antwort rechnen?« Bewusst vermied er das Wort Zusage, um den Lord nicht unter Druck zu setzen.
»Welche Entscheidung ich auch treffen werde, ich erwarte Sie alle am Mittwoch um neunzehn Uhr zum Supper«, erklärte der Lord und fragte dann ziemlich übergangslos: »Wo sind Sie eigentlich untergebracht?«
Graham reagierte nicht sofort. Er war eher ein Mann des bedachtsamen Wortes.
Karl Landmann übernahm die Beantwortung der Frage. »Im Hotel Rex, Sir«, informierte er kurz und bündig.
Er war den Ausführungen des Lords mit Interesse gefolgt. Der alte Mann schien viel über Neapel und seine Bewohner zu wissen. Es klang einleuchtend, was er über die Furcht der Leute in Bezug auf die Mafia berichtete. Und das machte den Neuseeländer nachdenklich.
Graham hatte bei seinen Ausführungen verschwiegen, dass dieser Film ein Tatsachenbericht über die jüngsten Morde der Camorra in Neapel werden sollte. Recherchiert waren die Hintergründe dieser Verbrechen aus den Berichten der polizia civile und der Staatsanwaltschaft. Wer auch immer dem Regisseur dieses Wissen hatte zukommen lassen, kannte sich im einschlägigen Milieu aus, war vielleicht selbst Teil dessen.
Landmann selbst war relativ rasch damit einverstanden gewesen, die Rolle des Angelo Cortesa zu übernehmen, des Sekretärs des Padrone. Es reizte ihn, einmal in diese Welt des Verbrechens einzutauchen, in einem Film mitzuwirken, der so nah an der Realität war, dass er schon wieder fantastisch wirkte.
Die Stimme des Lords riss Landmann aus seinen Gedanken. »Ah, das Rex! Das ist ein gutes Hotel in der Nähe von Santa Lucia. Haben Sie einen Mietwagen?«
Landmann zog eine verlegene Grimasse. »Nein, Sir. Wir sind mit dem Taxi hergekommen. Um ehrlich zu sein, wir hätten uns wohl in diesem Chaos auf den Straßen Neapels nicht zurechtgefunden.«
Vor sich sah Landmann im Geist die hupenden und ständig die Vorfahrt missachtenden Italiener in ihren kleinen, meist ziemlich verbeulten Autos. Zeitweilig hatte er sogar die Augen geschlossen, wenn der Taxifahrer sich ein Rennen mit Kollegen lieferte, in dem es darum ging, wer zuerst in den Kreisverkehr einbiegen durfte.
Sir Edward sah dem Neuseeländer die Gedanken am Gesicht an. Den neapolitanischen Verkehr kannte auch er zur Genüge. Nur zweimal, seit er hier wohnte, hatte er selbst seine Limousine nach Neapel gesteuert, um bei der Eröffnung des Museo Archeologico Nazionale nach dessen Restaurierung und bei der Schiffstaufe der Regina del mare, seiner Motorjacht, dabei zu sein. Jedes Mal war sein Anzug danach schweißnass gewesen und er einem Herzinfarkt nahe. Auch sein Chauffeur scheute Fahrten in die Innenstadt. Nur Francine und Marie fanden nichts dabei, sich in die hupenden Kolonnen einzureihen. Nun, das war wohl ein Vorrecht der jüngeren Generation.
»Haben Sie auch die Rückfahrt gleich organisiert?« Als Sir Edward in die Gesichter seiner Gäste blickte, wusste er, dass dies nicht geschehen war. Oh, diese naiven Ausländer!
»Mein Chauffeur wird Sie ins Hotel bringen, denn Sie werden kein Taxi mehr bekommen. Heute findet das Nachtragsspiel des AS Roma gegen Napoli statt«, erklärte er. Als er Verständnislosigkeit bei seinen Gästen bemerkte, ergänzte der Lord: »Fußball, das ist hier wie ein Feiertag. Selbst wenn Sie einen Taxifahrer fänden, müssten Sie damit rechnen, dass er während der Fahrt über Radio das Spiel verfolgt, das Lenkrad loslässt und sich die Haare rauft, wenn seiner favorisierten Mannschaft ein Tor entgangen ist oder weil er meint, er sei der Verteidiger und müsse mit den Füßen wild um sich treten.«
An solche Dinge hatte Graham überhaupt nicht gedacht. Italien war ihm so fremd wie der Nordpol. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, Sir, dass Sie uns einen Wagen zur Verfügung stellen«, bedankte er sich erleichtert und fügte hinzu: »Könnten Sie uns vielleicht auch einen Sprachmittler empfehlen? Es geht um Verhandlungen und … ja, einfach um alles für den täglichen Sprachgebrauch bei den Dreharbeiten.«
Lindsay nickte nachdenklich. »Wenn es soweit ist, werde ich Ihnen bei der Suche behilflich sein. Doch es wäre unnütz, bereits jetzt jemanden zu bemühen, ehe meine Entscheidung gefallen ist.«
Diese Antwort kam einer deutlichen Bremsung voreiliger Aktivitäten gleich.
Sir Edward erhob sich. »Meine Herren, ich erwarte Sie übermorgen um neunzehn Uhr.«
Die Unterredung war beendet.
Der Lord würde, sobald die Besucher das Anwesen verlassen hatten, seinen Avvocato anrufen und ihn bitten, sich die Unterlagen, die Graham mitgebracht hatte, genau anzusehen. Er selbst beschäftige sich selten mit solchen Dingen.
Auch die Männer hatten sich erhoben. Sir Edward bemerkte Karl Landmanns begehrlichen Blick, der dem letzten petit four auf dem Silbertablett galt. »Nehmen Sie nur. Marie macht sie einzigartig, man kann kaum widerstehen«, forderte Lindsay den Neuseeländer freundlich auf, zuzugreifen.
Karl zierte sich nicht und verspeiste mit Appetit die mit Schokolade überzogene Mandelcremeköstlichkeit.
Als der Lord Landmann zum Abschied die Hand reichte, äußerte er noch ein paar freundliche Worte über Neuseeland. Dieser Karl Landmann gefiel ihm – ein angenehmer Zeitgenosse. Außerdem war Lindsay davon angetan, dass der Neuseeländer Marie nicht mit jenem taxierenden Männerblick verfolgt hatte wie Mortimer, sondern er ganz offensichtlich vom Auftreten der Frau beeindruckt gewesen war. Die Blicke des Regisseurs freilich entsprachen eher einer Materialmusterung: Es schien, als wolle er ermessen, ob Marie in eine bestimmte Schublade seiner Drehpläne passte.
Wie von Geisterhand öffnete sich nun die schwere Holztür des Salons und wie ein Geist erschien der befrackte Diener. Seine Miene sagte deutlich: Wenn die Herren nun bitte gehen würden …
In der Diele erwartete Marie die Besucher. War es Zufall? Sie hielt Karl Landmanns Mantel bereit.
Es war dem Mann unangenehm, von ihr eine derartige Dienstleistung anzunehmen. Sein Mantel schien schwerer zu sein als sie selbst. »Mister Landmann, bitte!« Maries auffordernde Geste erinnerte ihn daran, dass er den Arm in den Ärmel schieben sollte. Als ihre Finger dann zufällig seinen Nacken berührten, weil sie ihm den Kragen zurechtrückte, wünschte er, dieser Augenblick möge etwas länger andauern. Himmel! Welche Gedanken kamen ihm da?
»Danke«, sagte er mit belegter Stimme. »Sehen wir uns am Mittwoch wieder?« Fiel ihm denn keine intelligentere Floskel ein? Karl Landmann ärgerte sich über sich selbst.
»Sicher sehen wir uns. Ich arbeite ja hier.« Marie lächelte freundlich und unverbindlich.
Sie hatte während des Servierens im Salon wohl bemerkt, dass sie die Männer in besonderer Weise beeindruckte. So etwas geschah ihr nicht zum ersten Mal. Der Lord erhielt häufiger männlichen Besuch, doch Maries Interesse an Männern hielt sich in Grenzen: Sie hatte eine gescheiterte Ehe hinter sich und keinen Bedarf an Erfahrungen ähnlicher Art.
Sir Edward war seinen Besuchern in die Diele gefolgt. »Ist Antoine vorgefahren?«, erkundigte er sich bei Frederic.
»Ja, Eure Lordschaft, der Wagen steht bereit«, meldete der Butler und hielt das Portal höflich für die Männer auf.
»Auf Wiedersehen«, sagte Karl Landmann leise zu Marie.
»Kommen Sie gut ins Hotel«, erwiderte Marie ebenso leise.
Die Männer schritten die geschwungene Außentreppe hinunter und stiegen in die Limousine.
Marie lief in den Salon zurück, stellte das Geschirr auf den Servierwagen, säuberte den Tisch und öffnete für ein Weilchen die Fenster, um Frischluft hereinzulassen. Wind war aufgekommen, man spürte eine salzige Brise in der Luft.
Sir Edward verschwand mit der Mappe ins Arbeitszimmer. Er rief den Anwalt an. Avvocato Girardi war ihm mit den Jahren ein guter Berater und fast ein Freund geworden, dessen Meinung ihm in diesem Fall besonders wichtig war. Sie verabredeten sich zum Abendessen.
Auf dem Weg in den Wintergarten warf Sir Edward noch einen Blick in den Salon. Alles stand wieder auf seinem Platz. Er informierte Frederic, der sich dezent im Hintergrund hielt, dass Signore Girardi gegen Abend zum Supper zu erwarten sei.
Mit den Unterlagen der Winestore Company ließ er sich dann auf seinem Lieblingsplatz im Wintergarten nieder. Sobald die wärmenden Strahlen der Frühlingssonne das Wolkenmeer durchbrachen, würde Frederic die gläsernen Flügeltüren in den Garten öffnen. Bald war es so weit, denn hier währte der Winter nur kurze Zeit und Nebel war so gut wie unbekannt.
***
Gegen achtzehn Uhr vernahm Frederic die quietschen Reifen eines bremsenden Wagens.
Der Avvocato hatte seinen Chauffeur heute nicht bemüht. Der durfte dem Duell der rivalisierenden Fußballclubs sein Interesse schenken, statt den Rasern auf der Straße, zu denen der Anwalt – nebenbei gesagt – auch selbst gehörte.
Der reiche Club des AS Roma spielte gegen den immer mit Geldsorgen kämpfenden Club von Napoli. Für die Neapolitaner bedeutete es ein Freudenfest, sollte ihr Club gewinnen. Mit erhobener Faust würden sie durch die Straßen laufen und forza Napoli brüllen. Eine Niederlage zog man vor dem Spiel gar nicht erst in Betracht.
Der Avvocato war kein Anhänger des Ballsports. Viel lieber hörte er sich in seinem appartamento mittels einer gigantischen Musikanlage eine der italienischen Opern an. Nicht selten schwang er dazu einen imaginären Taktstock.
Sir Edward und Girardi begrüßten sich herzlich. Mit einladender Geste bat der Lord den Gast ins Arbeitszimmer. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, scherzte er.
Girardi wusste die gute Küche des Hauses zu schätzen, deshalb lag ihm daran, die Prüfung des Vertrages rasch hinter sich zu bringen.
Sir Edward schob ihm die Unterlagen über den Tisch und hielt sich ansonsten still in seinen Sessel.
Der Avvocato überflog die ersten Absätze. »Diesen Vertrag hat ein Manager geschrieben, kein Jurist«, murmelte er.
Seine Formulierungen wären anders gewesen, eleganter, um vieles ausgefeilter. Aber darum ging es ja nicht: Es galt, Fallstricke aufzuspüren. Gedanklich zerlegte Girardi Zeile für Zeile. »Ich werde den Vertrag neu ausformulieren, dann können Sie unterschreiben«, sagte er schließlich. »Über die Nutzungssumme werden Sie, wie ich Sie kenne, nicht verhandeln wollen, obwohl da noch einiges …« Er sprach nicht weiter. Ein Blick in Sir Edwards Gesicht hatte ausgereicht. Für ihn als Italiener war es unverständlich, dass jemand nicht feilschen wollte.
»Ich möchte nur die Sicherheit haben, dass auf dem Anwesen kein Schaden entsteht«, unterstrich Sir Edward. »Insbesondere ist festzuhalten, dass mein Personal nicht für die Obliegenheiten der Filmcrew zuständig ist. Für die Trailer müsste der große Platz am Ende des Anwesens ausreichen. Die Leute könnten dort für die Dauer der Dreharbeiten wohnen, Strom und Wasser sind vorhanden. «
Es wurde Zeit für das Supper.
Vorsorglich erkundigte sich der Anwalt, ob sie später eine Partie Schach spielen würden.
»Aber gern, ich bin Ihnen doch noch die Revanche vom letzten Mal schuldig.«
Es klopfte an der Tür. Frederic trat ein und verkündete, dass angerichtet sei. Die lange Tafel des Esszimmers war für nur zwei Personen gedeckt.
Der Butler erkundigte sich nach den Wünschen für einen Aperitif. Danach servierte Marie die verschiedenen Gänge und nach einem hervorragenden Tiramisu zogen sich die Männer mit einem Glas Sherry in den Salon zurück, wo bereits das Schachbrett auf dem Tisch stand.
Girardi beneidete Sir Edward um diese Leute, die offenbar immer im Voraus wussten, was ihr Herr wünschte.
***
Die Angestellten saßen währenddessen beim gemeinsamen Abendessen zusammen.
Francine wollte wissen, wie der Regisseur und die Schauspieler ausgesehen hätten.
Marie ließ sich nicht lange bitten: Mit treffsicheren Handbewegungen und Gesten imitierte sie die drei Männer, was zeitweilig für Belustigung sorgte. Der eine schnitt besser, der andere schlechter ab. Besonders Mister Mortimer war Marie negativ aufgefallen. Auch der sonst zurückhaltende Frederic äußerte sich wenig freundlich über ihn. »Der Kerl trägt die Nase sehr hoch. Irgendwann wird er stolpern und sich ordentlich dran stoßen«, prophezeite er. »Er fand es nicht einmal der Mühe wert, sich zu bedanken, als ich ihm in den Mantel half. «
Marie dachte an den Moment, in dem sie Karl Landmann in den Dufflecoat geholfen hatte. Als Schauspieler war ihr der Mann natürlich ein Begriff. Mehr als einmal hatte sie seine positive Ausstrahlung in Filmen bewundert. Doch wer wusste bei einem Darsteller schon, wie viel davon Spiel, wie viel davon eigener Charakter war? Heute hatte sie den Eindruck gewonnen, dass er diese sympathischen Eigenschaften auch ins Privatleben übertrug.
***
Sir Lindsays Chauffeur empfand es als große Erleichterung, dass aufgrund des Fußballspieles nicht so viel Verkehr herrschte. Das Chaos würde erst wieder ausbrechen, wenn das Spiel zu Ende war. Egal, ob gewonnen oder verloren – auf der Piazza würde es brodeln und die Straßen wären heillos verstopft.
Vorschriftsmäßig diskret hatte er die Scheibe zum Fahrgastraum hochgefahren, sodass die Gespräche der Männer nicht nach vorn drangen. Ihn interessierte wenig, worüber sie sich unterhielten.
»Ich denke, Lindsay hat meinen Vortrag gut aufgenommen. Was meint ihr?«, wollte Graham wissen.
In Malcolm nagte noch immer der Zorn darüber, dass der Lord ihn so abgekanzelt hatte. Von sich selbst eingenommen, suchte er natürlich den Grund dafür nicht bei sich. »Der Alte sollte seinen Tee besser in London schlürfen, als sich hier um Dinge zu kümmern, von denen er nichts versteht«, knurrte er.
Karl ignorierte die rüde Äußerung und meinte: »Ich fand ihn ein wenig steif, aber sehr nett. Außerdem besitzt er ein kompetentes Wissen über Land und Leute, das uns ganz offensichtlich fehlt.«
»Was dir in Wirklichkeit gefiel«, schoss Malcolm jetzt mit scharfer Munition, »das war die Lady mit Häubchen, die so lange brauchte, um dir in den Mantel zu helfen.«
»Ach, und wessen Augen sind fast in ihren Ausschnitt gefallen, als sie die Backware auftrug?« Auch Karl reagierte nun aufgebracht.
»Um die Frau geht es doch jetzt gar nicht«, versuchte Ronald zu schlichten. »Obwohl – ich dachte schon daran, dass sie sich für die Rolle der Freundin Carlo Montessas eignet.« Graham wandte sich an Karl. »Was meinst du? Könntest du dir vorstellen …«
»Karl kann sich bestimmt manches mit der Kleinen vorstellen.« Malcolm hörte nicht auf zu sticheln. Sein beleidigtes Ego wollte andere treffen. »Wenn er könnte, würde er sie flachlegen und es ihr gehörig besorgen.«
Noch hielt Landmann an sich, obgleich sein Pulsschlag stieg. Die Dummheit Mortimers stank zum Himmel: Mit jedem Wort, das er sagte, verriet er, mit welchen Augen er selbst diese Frau betrachtet hatte.
Der Neuseeländer bemühte sich um einen sachlichen Ton. »Ich denke, dass wir die Frau erst einmal fragen sollten, ob sie überhaupt Interesse hat mitzuwirken. Abgesehen davon wissen wir nicht, ob Lindsay ihr für solche Aktivitäten Zeit zur Verfügung stellt.«
»Ein berechtigter Einwand«, gestand der Regisseur ein. Sein Blick wanderte dankbar zu Karl. Dankbar, weil dieser versuchte, die Provokationen Malcolms zu ignorieren und das Gespräch in ruhige Bahnen zu lenken. »Zuerst müssen wir ohnehin abwarten, ob der Lord nach der Konsultation seines Anwalts unserem Projekt zustimmt«, setzte Graham berechtigterweise hinzu. »Vor den italienischen Rechtsverdrehern habe ich eine gewisse Scheu. Aber was soll’s! Übermorgen wissen wir mehr. Für heute bin ich froh, dass Sir Edward nicht von vornherein abgelehnt hat.«
Das Warten war gar nicht das eigentliche Problem, das lag ganz woanders: Diese Zwistigkeiten zwischen Malcolm und … eigentlich jedermann, mit dem der Schauspieler bisher zusammengetroffen war, nervten ungemein. Schon seit Tagen gestand sich Graham ein, dass die Besetzung einer Rolle durch Mortimer keine gute Idee gewesen war. Feste Verträge mit den Schauspielern gab es zwar noch keine, denn es bestand ja die Möglichkeit, dass das Projekt abgesagt werden musste. Doch woher sollte er im Ernstfall Ersatz nehmen? Mortimer war nun einmal da, hatte persönlich Zeit aufgewandt und Entschädigungen, welcher Art auch immer, konnte sich die Filmgesellschaft nicht leisten.
Der Wagen hielt vor dem Hotel, das in seinem Baustil an deutsche Kaiserzeiten erinnerte. Imposant thronte das Gebäude am Ende der breiten Auffahrt. Die zuckende, weil altersschwache Neonröhre beim ›R‹ des Hotelnamens tat dem herrschaftlichen Eindruck keinen Abbruch.
Direkt hinter dem Hotel lag das Meer. Die Wellen, die heute hohe Schaumkämme trugen, brandeten geräuschvoll gegen die Felsen.
Ronald und Karl bedankten sich beim Chauffeur, Malcolm leistete sich eine verächtliche Geste. »Überschlagt euch nicht«, knurrte er. »Das ist sein Job.«
Auch der Portier bekam die üble Laune des Schauspielers zu spüren. Weil er von seinem Platz an der Rezeption aus das Match im Fernsehen verfolgte und den Zimmerschlüssel nicht sofort parat hielt, schnauzte Mortimer ihn an.
Weder Graham noch Landmann verspürten Lust, noch beieinander zu sitzen, was in erster Linie Malcoms mieser Laune geschuldet war.
»Ich hau mich aufs Ohr«, verkündete der Regisseur. »Vielleicht lasse ich mir später noch etwas Essbares aufs Zimmer bringen. Ihr könnt es halten wie ihr wollt.«
»Gute Idee«, stimmte Karl Landmann ihm zu. »Ich werde es ebenso machen.«
Die beiden Männer strebten auf den Lift zu.
»Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als mich diesem interessanten Abendprogramm anzuschließen«, kommentierte Malcolm bissig.
Die Zimmer des Regisseurs und Landmanns lagen auf dem gleichen Flur, Malcolms befand sich eine Etage tiefer. Welch angenehmer Zufall! Sie wurden den Miesepeter los.
***
Karl schaltete das Licht im Zimmer ein. Auf dem Kissen des französischen Betts lockte wiederum eine süße Empfehlung – diesmal eine des Hotels. »Sehr aufmerksam«, dachte er erfreut. Vor deren Genuss erfrischte er sich im großzügig eingerichteten Badezimmer, ehe er sich – nur mit Shirt und Shorts bekleidet – aufs Bett fallen ließ. Was tun? Warum sollte er nicht auch einen Blick auf dieses Fußballspiel werfen, das in Neapel für eine so einschneidende Unterbrechung des normalen Tagesablaufes sorgte. Doch ihm fehlte ein wichtiges Detail, das zu einem Fußballspiel gehörte – ein gutes Bier.
Er stand nochmals auf und inspizierte die Zimmerbar. Sie war gut gefüllt. Karl griff nach der Flasche, die einer Bierflasche am ähnlichsten sah, ließ sich samt birra erneut auf die Überdecke fallen und startete den Fernseher. Sekunden später verfolgte er gespannt den emotionsgeladenen Kampf um das runde Leder auf dem grünen Rasen, bei dem letztendlich der AS Roma siegreich blieb. »Armes Napoli!«, dachte Karl belustigt.
Das Knurren seines Magens signalisierte Hunger. Allerdings bedeutete die Speisekarte für Karl eine Herausforderung: Sie war in italienischer Sprache verfasst. Nach einigem Hin und Her am Telefon war das Abendessen unterwegs. Während Karl darauf wartete, schloss er die Augen und gab sich dem Tagtraum hin, dass eine Frau, die unverkennbare Ähnlichkeit mit Marie aufwies, ihm das Essen servierte.
Der Abend war unbemerkt in die Nacht übergegangen. Trotz eingeschaltetem Radiator fröstelte Karl. Er zog eine Jogginghose über die Shorts, schlüpfte unter die Decke und wickelte sich förmlich darin ein. Die angenehme Vorstellung überkam ihn, wie es wäre, sich an den warmen Körper einer Frau zu schmiegen. Und wieder schlich sich ein bestimmtes Bild in seinen Kopf: Er sah Marie vor sich, ihre ausdrucksvollen Augen und den kleinen, schön geschwungenen Mund, erinnerte sich an ihre angenehme Stimme und die Berührung durch ihre Hand. So falsch war es gar nicht gewesen, was Malcolm behauptet hatte: Aus seinem Bett würde er die Frau gewiss nicht werfen. Nur Malcolms ordinäre Art, diesen Umstand auszudrücken empörte ihn maßlos.
Er gönnte es sich, ein wenig zu träumen: Wie mochte sich Maries Haut anfühlen? Verstand sie sich gut aufs Küssen? Er hatte schon längere Zeit mit keiner Frau geschlafen und die Vorstellung, es mit ihr zu tun, erregte ihn. Er merkte, dass sein Körper auf diese Gedanken mit einer Erektion antwortete und bezwang sich.
Die soliden Wände schützten vor Geräuschen aus den Nebenzimmern. Schlaf übermannte Karl und er glitt hinein in ein traumloses Nichts.