Читать книгу Il Vesuvio - Die Ehrenwerte Gesellschaft - Renate Zawrel - Страница 5

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Kapitel 3

Nachdenklich lehnte Karl an der gekachelten Wand seines Bades. Der eiskalte Wasserstrahl, der ihm fast die Luft genommen hatte, setzte ihm auch den Kopf wieder zurecht. Er war ja nicht hier, um Frauenbekanntschaften zu machen und sich aus diesem Grund gar noch zu prügeln. Zwar lebte er nicht abstinent, aber er wechselte seine Gefährtinnen auch nicht wie Unterwäsche. Der Beruf brachte es mit sich, dass die Frauen ihn umschwärmten, er hätte nur mit dem Finger schnippen müssen …

Dabei empfand er sich selbst nicht als besonders attraktiv. Diese Eigenschaft gestand er eher Brendon Pitts zu. Ohne Neid dachte er an die Szenen in einem verfilmten Geschichtsepos, in denen dieser viel gestählten Körper zum Einsatz gebracht hatte. Mit derartigen Muskelpaketen konnte er nicht aufwarten. Auch verwunderte ihn immer wieder, dass er selbst als Schauspieler einen relativ großen Bekanntheitsgrad besaß, obwohl über Karl Landmann nun wirklich nicht viel in den Medien oder im Internet zu finden war.

Das hatte auch einen guten Grund: Er wollte sein Privatleben schützen, so gut es eben ging, vor allem wegen seines Sohnes. Leider war es so, dass Ben ihn nicht so oft zu sehen bekam, wie ein Sohn seinen Vater eigentlich sehen sollte. Und einige Erlebnisse der negativen Art hatte ihm die allzeit gegenwärtige Presse auch schon beschert: Die überzogenen Geschichten jener Darstellerinnen, die sich durch die Bekanntschaft mit ihm Vorteile im Filmgeschäft erhofft hatten und sich damit brüsteten, ›mit einem Star im Bett gewesen zu sein‹.

Zwangsläufig kehrten seine Gedanken zu Marie zurück. Wie alt war sie? Was veranlasste eine attraktive Frau wie sie, vergleichsweise abgeschieden als Angestellte zu leben? Woher stammte sie? Ihr Englisch war sehr korrekt, das vermochte er zu beurteilen. Ihr Italienisch erschien ihm perfekt, aber darüber hätte wohl der Fischer Guiseppe eher ein Urteil fällen müssen. Worauf – außer aufs Backen und Organisieren – verstand sich Marie noch?

Genau genommen kannte er sie – zusammengerechnet – kaum zwei Stunden. Dennoch beschäftigte sie ihn mehr als ihm lieb war. Seufzend drehte Karl erneut den Wasserhahn auf und stellte ihn auf kalt. Danach zog er ein Shirt über, warf sich aufs Bett und zog die Decke über die Beine. Er würde jetzt versuchen, Victor zu erreichen. Hoffentlich übernahm der Freund die Rolle.

***

Sir Edward war sehr mit sich zufrieden. Er hatte soeben einen gigantischen Aktiengewinn eingefahren. Und wie immer in solchen Fällen war er auch großzügig. Nicht er allein wollte sich an seinem Erfolg erfreuen, seine Angestellten sollten eine Prämie erhalten. Bei erstbester Gelegenheit würden sie gemeinsam eine Fahrt nach Capri unternehmen. Seine Jacht war geräumig genug, auch für eine Übernachtung geeignet. Und dass seinen Damen ein Bummel durch die einladenden engen Gässchen in Capri genehm sein werde, dessen war er gewiss. Schließlich gab es dort Designerartikel zu erwerben, von denen man anderenorts nur träumte. Selbstverständlich gestalteten sich auch die Preise entsprechend. Aber das spielte keine Rolle.

Über das Gesicht des Lords huschte ein kleines Lächeln: Seine Gespielin Marie würde er am Sonntag mit einem schönen Schmuckstück überraschen. Er hoffte sehr, dass sie dann geneigt war, ihm ganz besondere Wünsche zu erfüllen.

Sir Edward lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und streifte in Gedanken Marie die Kleidung ab, stellte sich vor, wie sie nackt vor ihm lag, ihm ihren wunderschönen Körper willig überließ. Er spürte, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte …

Ein Pochen an der Tür des Arbeitszimmers weckte ihn unsanft aus seinem Tagtraum.

»Ja bitte!«, rief er mit belegter Stimme und legte den Gefühlsschalter auf ›sachlich‹ um.

Frederic trat ein und verbeugte sich gemessen. »Ein leichtes Mittagessen ist im Wintergarten serviert, Sir. Wie Sie gewünscht haben.«

Höflich blieb der Butler an der Tür stehen. Natürlich entging ihm das gerötete Gesicht des Lords nicht, auch nicht dessen etwas rascherer Atem. Oh, Sir Edward hatte sich allem Anschein nach in Gedanken mit seiner sonntäglichen Besucherin vergnügt. Alle wussten um dieses Hobby, keinem war jedoch bekannt, um welche Art Gespielin es sich dabei handelte, denn noch nie hatte jemand sie zu Gesicht bekommen. Die Dame besaß einen Schlüssel zu einem bestimmten Eingang des Hauses, der für das Personal nicht einsehbar war. Frederic hatte sich einmal die Mühe gemacht und sich zu gegebener Zeit auf die Lauer gelegt, um einen Blick auf die geheimnisvolle Besucherin zu werfen. In der Dunkelheit vermochte er nur vage Details zu erkennen – durchschnittliche Größe, langes Haar, wohlproportioniert. Diese Beschreibung passte auf viele Frauen. Und so ging das Rätseln weiter.

Sir Edward hatte inzwischen einige Mal kräftig durchgeatmet, sich aus dem Arbeitssessel erhoben und trat nun durch die vom Butler offen gehaltene Tür.

»Danke, Frederic, sehr freundlich«, sagte er. »Für heute Abend ist auch alles bereit? Weiß man in der Küche Bescheid, dass der Avvocato mit uns speisen wird?«

»Sehr wohl, Sir! Marie hat alles geplant. Sie hat sich eine wahrlich kulinarische Reise einfallen lassen für heute Abend. Darin ist sie eine Künstlerin.«

Der Name Marie verursachte Sir Edward wie stets einen kleinen, angenehmen Kitzel und er bestätigte: »Ja, das ist sie.«

Beim Genuss eines köstlich-leichten Salates mit Hühnerstreifen blätterte er in den Seiten der Financial Times und schmunzelte wiederum, als er den Höhenflug der Aktien betrachtete, die er zu einem wesentlich niedrigeren Kurs gekauft hatte.

Sein Blick glitt nach draußen: Während noch gestern ein Sturm über den Golf von Neapel zog, sandte die Sonne heute ihre wärmenden Strahlen herab. Die kleinen, unbedeutenden Schneeflächen innerhalb der Gartenanlage waren verschwunden und im Wintergarten herrschte wohlige Wärme trotz ausgeschalteter Heizung.

Lord Lindsay sah dem Butler zu, der damit beschäftigt war, das Geschirr abzuräumen. »Ich unternehme jetzt einen Rundgang im Garten«, sagte er. »Dann werde ich mich noch eine kleine Weile zurückziehen. Gegen sechzehn Uhr möchte ich gern den Tee serviert haben. Könnten Sie das veranlassen, Frederic?«

»Selbstverständlich, Sir.«

Auch Frederic würde sich ein Nickerchen gönnen. Mit Unbehagen dachte er daran, dass heute Abend wieder dieser ungehobelte Malcolm Mortimer erschien. Man musste keine besondere Menschenkenntnis besitzen, um festzustellen, dass dieser Mann sich am besten darauf verstand, Schwierigkeiten zu machen.

In der Küche lief alles auf Hochtouren. Marie übertraf sich diesmal selbst. Wie bei solchen Anlässen üblich, gab es kleine Menükärtchen, die auf dem Tisch stehen würden.

›Fischcarpaccio – Soup de poisson – Hummerspieße – Pavlova‹

Es handelte sich um Speisen aus internationalen Küchen und Pavlova war eine Süßspeise aus Neuseeland: Ein Baiser-Traum mit Schlagsahne und Erdbeeren. An wen hatte Marie wohl gedacht, als sie dieses Nationalgericht der Kiwis, wie die Bewohner Neuseelands scherzhaft bezeichnet wurden, zauberte? Frederic lief das Wasser im Mund zusammen. Wusste er doch, dass es die gleichen Köstlichkeiten auch für die Angestellten gab. Darauf bestand der Lord: Sein Personal sollte die gleichen Annehmlichkeiten haben, wenn es ihn und seine Gäste bei solchen Festen bediente.

***

Der Avvocato traf als erster Gast ein. Lord Lindsay hatte ihn gebeten, etwas früher zu kommen. Die beiden Herren standen im Salon und diskutierten bei einem Aperitivo über die aktuellen Ereignisse, heute insbesondere über die Entführung des Sohnes von Gianna Garibaldi, der Besitzerin einer großen Boutique in Neapel. Nur wenig war davon an die Öffentlichkeit gedrungen. Aber der Avvocato besaß Informationsquellen an einflussreicher Stelle. Entführung gehörte eigentlich nicht zu den Geschäften der Camorra, und der Name Gianna Garibaldi war nie mit der ›Ehrenwerten Gesellschaft‹ in Zusammenhang gebracht worden. Es wurde gemunkelt … der Avvocato flüsterte dem Lord etwas ins Ohr, das dieser kopfschüttelnd zur Kenntnis nahm.

Man würde sehen, wie sich die Sachlage entwickelte.

Das Gespräch wandte sich dem geplanten Film zu. Der Rechtsanwalt wiegte bedenklich den Kopf. »Der Regisseur wird sehr vorsichtig sein müssen, wenn er diesen Film wirklich drehen will. Sonst sitzt er bald mit Bleischuhen auf dem Meeresgrund. Ich kenne natürlich das Drehbuch nicht. Vielleicht beschönigt er ja die Taten der ›Ehrenwerten Gesellschaft‹ und …« Das Läuten am Portal hinderte ihn an weiteren Ausführungen.

Frederic öffnete und ließ die Gäste ein. Er registrierte sofort, dass Malcolm Mortimer fehlte und atmete erleichtert auf. Höflich übernahm er den Mantel Ronalds und die Jacke Karls und brachte sie in die nicht einsehbare Garderobe.

Karl blickte sich unauffällig um: Keine Spur von Marie. Aber er würde sie ja sehen, wenn sie die Speisen servierte. Doch darin irrte er.

Die Enttäuschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, als Francine geschäftig auf und ab lief und geschickt bediente. Weil er schlecht fragen konnte, womit Marie beschäftigt war, widmete er seine Aufmerksamkeit schließlich dem Tischgespräch.

Marie hätte nicht einmal eine Sekunde Zeit gehabt, die Küche zu verlassen. Jedes Gericht erforderte eine spezielle Dekorierung auf dem Teller und sie ließ es sich nicht nehmen, alles selbst zu arrangieren. Für diesen Abend hatte sie Pierre die Arbeit abgenommen, der nun mit Argusaugen über ihre Kochkünste wachte – aber nichts auszusetzen fand.

»Ach, Marie, die Männer wissen gar nischt, was sie loben sollen, weil es sie so gut schmeckt.« Francine verdrehte theatralisch die Augen. Mit jedem neuen Gang, den sie servierte, bekam sie ein Lob an die Köchin mit. Auch der Lord war von der heutigen Kreation begeistert. Er hatte es ja schon immer gewusst, diese Frau war in jeder Beziehung eine Perle.

Erst das Dessert servierte Marie selbst. Schließlich hatte sie ja über das Internet herausgefunden, was es in Neuseeland an kulinarischen Besonderheiten gab. Die Erdbeeren, die sie im mercato erstanden hatte, leuchteten glänzend rot aus der geschlagenen Sahne und die luftigen Baisers lockten jeden Gourmet.

Auch Karls Augen glänzten, als Marie das Esszimmer betrat. Er drückte seine Hände fest auf die Tischplatte. Gern wäre er aufgesprungen und hätte ihr geholfen. Er erkannte sofort, was hier serviert wurde. Das konnte kein Zufall sein! Aber er musste es sicher wissen. Als Marie ihm die Pavlova mit freundlichem Lächeln vorsetzte, fragte er: »Kennt man diese Nachspeise auch hier in Italien?«

»Nein, Mister Landmann«, antwortete Marie wahrheitsgemäß. »Das Internet hat mir verraten, was es auf der anderen Seite der Erdkugel für wunderbare Süßspeisen gibt. Guten Appetit, die Herren!« Und dann verließ sie mit Frederic das Zimmer.

Sir Edward beobachtete den Neuseeländer verstohlen. Dessen Blicke galten eindeutig nicht dem Rücken des Butlers, sondern der ansehnliche Kehrseite Maries. Nun war er also nicht mehr allein mit der Erkenntnis, dass Marie etwas Besonderes war.

Genussvoll schloss Karl die Augen, als er den letzten Happen des Desserts im Mund zergehen ließ – Heimat! Und Marie hatte sich diese Mühe eindeutig für ihn gemacht.

Sir Edward schlug vor, die näheren Details des Vertrages und der Dreharbeiten im Wintergarten durchzusprechen. Bislang war die Abwesenheit Malcolm Mortimers mit keinem Wort erwähnt worden. Erst als sie in den bequemen Korbsesseln Platz genommen hatten, erkundigte sich der Lord: »Wo ist denn Ihr Staatsanwalt? Ich hoffe, er lässt Sie während der Dreharbeiten nicht auch im Stich?«

Ronald wog seine Antwort sorgfältig ab. Es machte ja kein gutes Bild, die wahren Hintergründe zu benennen. »Mister Mortimer hat es vorgezogen, in einem anderen Film mitzuwirken, um näher bei seiner Familie zu sein.«

Die darauf folgende Bemerkung des Lords ließ die Anwesenden aufhorchen. »Nun, das ist eine gute Entscheidung, die sich gewiss nicht zu Ihrem Nachteil auswirken wird.« Es klang fast, als fiele das Ausscheiden Mortimers als Plus für eine positive Entscheidung des Lords in die Waagschale.

In den nächsten Stunden herrschte intensive Arbeitsatmosphäre: Beschäftigt mit Vertragsklauseln, Drehbuchinterpretationen und technischen Details, ließen sich die Männer auch nicht stören, als ihnen Francine Käsegebäck servierte und Frederic dafür sorgte, dass die Getränke nicht ausgingen.

Mitternacht war schneller erreicht als die Männer dachten. Erstaunt blickten sie einander an, als die antike Pendeluhr zwölf Mal schlug – das Läuten von Big Ben erklang. Eine Hommage des Lords an seine Heimat?

Sir Edward nahm als erster den Gesprächsfaden wieder auf: »Mir scheint, dieses Thema war wirklich abendfüllend. Fürs erste ist es wohl genug. Mister Graham, der Vertrag ist Ihnen sicher. Über gewisse Details haben wir gesprochen. Falls es noch Unklarheiten Ihrerseits geben sollte, wenden Sie sich an Avvocato Girardi.«

Der Anwalt reichte Ronald daraufhin seine Karte. Auch er war zufrieden. Ohne größere Schwierigkeiten hatte er den Vertrag so gestaltet, dass dem Lord keinerlei Kleingedrucktes zum Verhängnis werden konnte. Zudem schien dieser Ronald Graham ein angenehmer Geschäftspartner zu sein. Vielleicht lag es ihm nicht, Verträge zu formulieren, aber aufs Verhandeln verstand er sich.

Was das Projekt selbst betraf, nun, die Durchführung konnte schwierig werden, aber Girardi fand das Drehbuch interessant und er versprach, seine Beziehungen spielen zu lassen. Dieser Umstand würden Ronald Türen öffnen, die ihm sonst sicher verschlossen geblieben wären. Ein weiterer positiver Aspekt in diesem Projekt war der Schauspieler Landmann, der verschiedene gute Ideen eingebracht hatte. Ja, der Film hatte eine Chance! Girardi würde ein Treffen mit Don Carlos bewerkstelligen, keine leichte Aufgabe, aber ohne Zustimmung des unumstrittenen Hausherrn von Neapel würde niemand wagen, eine Statistenrolle im Film anzunehmen.

Nicht einmal der Bürgermeister, in Wahrheit nur eine Marionette, vermochte die Machtstellung des Padrone zu überbieten.

»Sir Edward, da wäre noch etwas, eine Bitte …« Ronald hielt zögernd inne.

Überrascht blickte der Lord auf. Was gab es, was jetzt noch besprochen werden musste? »Ich höre, Mister Graham!«

»Wäre es möglich, Ihre Angestellte, Signora Marie als Sprachmittlerin zu gewinnen?« Ronald war stolz, dass er sich signora gemerkt hatte.

Das Erstaunen des Lords wich unverhohlener Belustigung. »Warum gerade Marie?«

Wahrheitsgemäß bekannte Ronald: »Ich wüsste keine Alternative. Und wie es scheint, spricht Marie die Sprache dieses Landes sehr gut. Sie ist … schlagfertig …, energisch und hat dennoch einen guten Draht zu den Leuten, zumindest hatte ich gestern diesen Eindruck, als wir ihr am Hafen begegneten.« Gut, dass der Lord nicht ahnte, woran Graham bei ›schlagfertig‹ wirklich gedacht hatte!

Sir Edward Blick streifte Karl Landmann, durchaus nicht so zufällig wie es schien. Oh! Es würde sich unter Umständen eine äußerst prickelnde Situation ergeben, vorausgesetzt, Marie sagte Ja zu Grahams Anliegen.

»Fragen Sie Marie. Es liegt ganz bei ihr«, sagte der Lord scheinbar gelassen. »Solange ihre …«, er stockte, setzte aber gleich fort, »… Arbeit für mich nicht darunter leidet, will ich ihr die Möglichkeit nicht versagen, einen Blick in die Welt des Films zu werfen. Morgen, wenn Sie den Platz für die Trailer besichtigen, wird sich bestimmt eine Gelegenheit bieten, mit ihr zu reden.«

Die Gedanken Sir Lindsays schweiften zum Wochenende … und zu Marie.

Abschließend betonte der Lord daher noch einmal mit großem Nachdruck, dass er von Samstagabend bis Montag früh von den Filmleuten keinen sehen oder hören wolle. »Sofern diese Anordnung auch nur ein einziges Mal missachtet wird, müssen Sie Ihren Film woanders drehen.« Die Stimme Sir Edwards ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er es ernst meinte.

»Selbstverständlich halten wir uns an die Abmachung«, versprach Ronald eilig. »Meine Leute werden ebenfalls froh sein, dass ich ihnen hin und wieder Ruhe gönne.«

Graham zerbrach sich jedoch insgeheim den Kopf, was an diesem Ruhetag für den Lord so wichtig sein konnte. Hatte es etwas mit Glaubensangelegenheiten zu tun? Sehr unwahrscheinlich. Vielleicht würde er es mit der Zeit herausfinden. Im Augenblick war es nicht weiter von Interesse und deshalb leitete er das Ende der Zusammenkunft ein: »Eure Lordschaft, wir danken Ihnen für Ihre Gastfreundschaft und vor allem für die großzügige Unterstützung unseres Filmprojektes.« Dann wandte sich an den Rechtsanwalt: »Auch Ihnen herzlichen Dank, Avvocato. Sie lassen es mich bitte wissen, ob Sie einen Termin bei Don Carlos erwirken konnten.«

Signore Girardi neigte bejahend den Kopf.

Hände wurden geschüttelt und ein wie aus dem Nichts erscheinender Frederic hielt Mäntel und Jacke der beiden Herren bereit, die nun zurück ins Rex fahren würden. Vor dem Portal wartete ein Taxi mit laufendem Motor auf Ronald und Karl. Beide bedankten sich für diese vorausschauende Geste überschwänglich. Lächelnd honorierte Frederic das Loblied und freute sich, dass man seine Umsicht würdigte.

Karl begrub seine Hoffnung, Marie noch einmal zu Gesicht zu bekommen.

Frederic, der neben dem sechsten auch einen siebten Sinn zu besitzen schien, bemerkte entschuldigend: »Es war ein anstrengender Tag für die Damen, die das Essen zubereitet haben. Sie schlafen bereits.«

Karls Wangen brannten und er war froh, dass dies in der Dunkelheit niemand bemerkte. Ronald allerdings grinste in sich hinein. Na, das würde etwas werden, falls Marie einwilligte, sich als Sprachmittlerin zu betätigen und außerdem die ihr zugedachte Rolle zu übernehmen. Sollte sie gar bei dem Treffen mit Don Carlos Berlotta auf den Padrone den gleichen Eindruck machen, wie auf den guten Karl, konnte ja fast nichts schiefgehen.

Im Wagen sprach Karl kein Wort. Ehe er ins Taxi gestiegen war, hatte er die dunkle Fassade des Hauses gemustert. In der geringen Helligkeit, die die Außenleuchten der Anlage hergaben, hatte es den Anschein, als bewege sich hinter dem Fenster oberhalb des Portals erst der Vorhang und dann ein Schatten. Himmel – sah er schon Gespenster? In Zukunft würde er sich zurückhalten, wenn es um Marie ging – falls ihm das gelang.

Auch jetzt zwang er sich, an etwas anderes zu denken und rief sich das Telefongespräch mit Victor ins Gedächtnis.

Er hatte den Freund beim Malen erreicht. ›Inspiration des Wassers‹, nannte er sein neuestes Werk. Das Telefonat hatte sich eine ganze Weile hingezogen, denn schließlich musste er Victor den Inhalt des Drehbuchs in möglichst kurzer Form nahebringen.

›Du sollst die Rolle eines Staatsanwalts übernehmen, eine lebensgefährliche Aufgabe, glaub' mir'‹, hatte er gelockt und dass Victor sich nebenbei noch für sein neues Bild inspirieren lassen könne, weil er hier ein ganzes Meer dafür zur Verfügung habe.

Letztendlich waren sie so verblieben, wie Karl es erwartet hatte: Victor würde sich mit Ronald in Verbindung setzen.

***

Victor stand vor der Leinwand, auf die er soeben die ersten Farbtupfer gesetzt hatte. Seine abgetragenen Jeans waren mit Farbe bekleckst, ebenso das Hemd.

Von Zeit zu Zeit zog er sich in sein Atelier zurück, besann sich auf die eigentlichen Werte des Lebens und genoss es, seinen Gefühlen mittels Farbe freien Lauf zu lassen.

Ohne Schuhe lief er dann in seiner Malerwerkstatt umher, damit seine Füße die Kraft des Bodens aufnahmen und sie in seine sensiblen Hände hinaufschickten. Dann konnte es geschehen, dass er stundenlang nicht von seiner Staffelei wich, bis er urplötzlich den Pinsel sinken ließ, als werde ein Lichtschalter ausgedreht – das Werk war vollendet.

Während er mit geschlossenen Augen und angespanntem Sinn in sich hineinlauschte und die Idee für sein neues Werk reifen ließ, läutete schrill das Telefon.

Nein, er würde den Hörer nicht abheben! Aber der helle, sich unaufhörlich wiederholende Ton, zerstörte die Kraft der Inspiration. Seufzend meldete er sich.

Es war Karl! Seine Stimme hallte ein wenig wider. Überrascht vernahm Victor, wo der Freund sich derzeit aufhielt. Und schon bald setzte er sich auf den einzigen Stuhl des Ateliers, als er begriff, dass man ihm die Rolle als Staatsanwalt in einem Mafia-Thriller anbot. Nein, im Moment habe er kein Angebot für einen Film, versicherte er. Allerdings sei er froh, nach den letzten Dreharbeiten eine kleine Auszeit nehmen zu können. Ein wenig Zeit für sich selbst, brauche jeder mal, ehe man wieder von einem Termin zum nächsten hetze. Und er erzählte von der Idee für ein neues Bild, die langsam Gestalt gewinne. Karl wollte das nicht gelten lassen, drängte ihn, das Angebot nicht auszuschlagen.

Die Aussicht, einen Blick in die Wiege der Mafia zu werfen, reizte Victor tatsächlich. Dass eine kriminell organisierte Gesellschaftsschicht einen ganzen Landstrich zu beherrschen vermochte, ohne dass der Staat etwas dagegen unternahm, war schon ein Phänomen! Doch ehe er sich in dieses Filmprojekt einbrachte, würde er ein paar grundsätzliche Erkundigungen einziehen.

»Es ist schön, Karl, dass du an mich gedacht hast«, sagte er nun. »Meine Neugier ist bereits geweckt. Ich werde ein oder zwei Tage darüber nachdenken und dann Ronald Graham anrufen. Gib mir seine Nummer.« Damit war das Thema für Victor vorerst abgeschlossen und er erkundigte sich: »Was gibt es Neues bei dir?«

Karl erzählte ihm, was er bislang in Neapel erlebt hatte und so ganz nebenbei fiel auch ein paar Mal der Name Marie. Victor kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass sich da offenbar etwas anbahnte. So sehr ihn männliche Neugier auch trieb, er hielt sich mit Fragen zurück. Eile mit Weile! Und so beendete er das Gespräch, mit der Versicherung, er müsse jetzt natürlich einige Dinge klären. »Ich melde mich, so schnell wie möglich. Und halte dich von Frauen fern, Karl! Das schwächt die Schaffenskraft.«

Er lachte ungeniert in den Hörer hinein und legte auf.

Mit der ›Inspiration des Wassers‹ war es vorbei. Victor wusch die Pinsel sorgfältig aus und legte sie beiseite. Erst einmal galt es zu prüfen, wie die Annahme des Engagements zeitlich zu managen war. Seine bereits festliegende Bilderausstellung mit gekoppelter Vorlesung wollte er nicht absagen: Zu lange war dieser Termin mit der entsprechenden Galerie ausgehandelt worden. Und die geduldig wartenden Fans wollte Victor keinesfalls enttäuschen. In der Öffentlichkeit machte er sich nämlich eher rar, daher musste dieser Event in jedem Fall stattfinden.

***

Karl hatte keine Gespenster gesehen! Marie lag im ersten noch leichten Schlaf, als die Geräusche, die der Aufbruch der Besucher verursachte, sie weckten. Ein wenig benommen war sie zum Fenster gehuscht, hatte den Vorhang zur Seite geschoben und erkannt: Unten stand ein Taxi. Seine abgeblendeten Scheinwerfer warfen Licht auf die gepflasterte Zufahrt. Frederic begleitete soeben zwei Männer die Portaltreppe hinunter. Einer der Gäste drehte sich um, ehe er ins Taxi stieg und blickte herauf.

Mit klopfendem Herzen war sie rasch einen Schritt zurückgewichen und hatte den Vorhang fallen lassen. Ob Karl Landmann sie erkannt hatte? Sie vernahm das Geräusch zuschlagender Autotüren und wagte sich noch einmal ans Fenster. »Gute Nacht«, murmelte sie. Der Gruß galt dem Mann, der gestern ihr Gefühlsleben, das sie fest im Griff zu haben glaubte, in nur wenigen Minuten ziemlich durcheinandergebracht hatte.

Rasch sprang Marie wieder ins Bett. Der Fliesenboden war kalt und eine Erkältung wollte sie nicht heraufbeschwören. Der gestrige Regentag hatte ihr ohnehin einiges abverlangt.

Sie schmiegte sich in die Kissen und ließ die gestrigen Erlebnisse noch einmal Revue passieren. Der vermehrte Pulsschlag, den die Erinnerung hervorrief, bestätigte ihr, dass es gut gewesen war, heute Abend einem längeren Zusammentreffen mit dem Neuseeländer ausgewichen zu sein. Der Küchendienst hatte ihr eine wunderbare Ausrede geliefert. Pierre hätte ohne Zweifel so gut wie sie die Dekoration der Speisen übernehmen können.

Schließlich hatte sie der Versuchung, sich zu zeigen, doch nachgegeben. Karl Landmanns Blick war unbeschreiblich gewesen, als sie die Pavlova servierte: Ungläubiges Staunen? Dankbarkeit? Zuneigung? Marie hatte seine Blicke nicht zu deuten vermocht. Jedenfalls aber schien ihr, als seien sie beide allein im Raum gewesen. Sie seufzte: Wer hätte gedacht, dass sie in ihrem Alter noch einmal wie ein junges Mädchen empfinden werde? Sie drehte sich auf die andere Seite und versuchte einzuschlafen.

***

Karl und Ronald trennten sich mit einem eher gemurmelten ›Gute Nacht‹ auf dem Korridor. Das Bedürfnis zu reden war gedeckt. Morgen – das hieß eigentlich heute – wollten sie den Platz begutachten, an dem man die Trailer aufstellen konnte. Ein paar Stunden Schlaf mussten also genügen.

›Ob Ronald morgen mit Marie sprechen wird?‹, dachte Karl. ›Ich sollte ihn vielleicht daran erinnern.‹ Er trat einen Schritt in den Korridor zurück und sagte halblaut: »Es geht ja morgen auch um die Besetzung der Geliebten …« Weiter kam er nicht.

Ronald – die Hand am Türknauf, die Augen vor Müdigkeit fast geschlossen – gähnte herzhaft und nuschelte: »Kannst du an nichts anderes denken? Hau dich ins Bett.«

Auf Karls Stirn erschien eine steile Falte, er ärgerte sich maßlos über sich selbst. »Also dann, bis zum Frühstück«, murmelte er.

Ronald hatte die Tür schon geschlossen.

Karl warf sich fast angezogen aufs Bett und schlief wider Erwarten sofort ein.

Weil er vergessen hatte, die Vorhänge zuzuziehen, lachte ihm Stunden später eine strahlende Morgensonne direkt ins Gesicht. Schlaftrunken richtete er sich auf und stellte fest, dass er nicht mal das Hemd ausgezogen hatte. Das holte er nun nach und trat hinaus auf den kleinen Balkon. Keine Spur von Wind, doch der kalte Schauer, der ihm über den nackten Oberkörper lief, erinnerte ihn deutlich daran, dass es noch Winter war und die Sonnenstrahlen die Wärme nur vorgaukelten. Rasch trat er ins Zimmer zurück und verschwand im Bad.

Trotz kurzer Nacht erschien er erfrischt und beschwingt als Erster zum Frühstück.

Ronald schien noch zu schlafen. Karl bediente sich ausgiebig am Buffet und stellte schnell fest, dass ihm der Espresso in der Bar besser geschmeckt hatte, als der allgemein bekannte Kaffee, den er hier serviert bekam.

Ronald erschien mit einem säuerlichen Ausdruck im Gesicht im Speisesaal. In der Hand hielt er ein Blatt Papier. Karl dachte im ersten Anflug, es handle sich um eine schlechte Nachricht in Bezug auf Victor. Aber es war ein Rechnungsbeleg, den Graham dem Ahnungslosen in die Hand drückte.

»Sein Abschiedsgeschenk«, knurrte er. »Der muss die ganze Bar geleert haben.«

Oh, oh! Es ging um Malcolm. Tatsächlich hatte der als letzten Gruß eine gesalzene Rechnung hinterlassen.

»Mögen die Promille seinen Heimflug begleiten!«, spottete Karl. »Aufs Saufen versteht er sich jedenfalls.« Es gelang ihm, Ronald zum Grinsen zu bringen.

Der langte nun nach den frischen Croissants und als sei ihm heute Morgen nichts Unliebsames über den Weg gelaufen, meinte er: »Das Wetter lass' ich mir gefallen. Wir werden gleich nach dem Frühstück losfahren und …«, da klingelte sein Handy.

Mit der angezeigten Nummer konnte Graham nichts anfangen, deshalb meldete er sich förmlich mit vollem Namen. Ein frohes Lächeln erschien bald darauf auf seinem Gesicht.

Aber aus Ronalds Antworten, wie »das ist sehr freundlich« ... »ja, um vierzehn Uhr« ... »Danke und Auf Wiederhören«, war es Karl nicht möglich zu erraten, wer anrief.

Um Victor konnte es sich nicht handeln, der hatte um Bedenkzeit gebeten.

»Wir werden abgeholt«, klärte der Regisseur ihn auf. »Marie muss zum Arzt und kommt anschließend …«

Karl unterbrach ihn besorgt. »Marie ist beim Arzt? Weshalb? Was ist passiert?«

»Das weiß ich doch nicht!« Ronald hob die Schultern. »Es wird schon nichts Ernstes sein, wenn sie selbst Auto fährt. Ich sitze übrigens gern auf der Rückbank.« Er lächelte spöttisch.

Karl überhörte die Spitze. Seine Gedanken waren bei Marie. Er rief sich ins Gedächtnis, wie sie vorgestern klitschnass ins Auto gestiegen war. Danach hatte sie ihn und Ronald ins Hotel gebracht und war anschließend doch noch zum mercato gefahren. Woher kamen sonst die Erdbeeren? Das war es – sie hatte sich eine Erkältung zugezogen! Die Aussicht, nun erneut neben ihr im Wagen zu sitzen, verursachte ihm ein angenehmes Kribbeln. Aber er blickte nicht auf, denn er war sicher, Ronald beobachtete ihn.

Bis sie abgeholt wurden, verblieben ihnen noch gut dreieinhalb Stunden Zeit, die es irgendwie zu vertreiben galt. Sie setzten sich in die Lobby. Ronald studierte seine Unterlagen und Karl langweilte sich. Hin und wieder blickte er auf die Armbanduhr – viel zu oft.

Ronald schlug vor: »Ehe deine Uhr vom Stieren Löcher kriegt, solltest du besser in deiner Rolle schmökern, meinst du nicht? Vielleicht gibt es da einige Stellen, die wir – der Originalität halber – in Italienisch sprechen sollten. Such sie, streich sie an und wir fragen Marie, ob sie uns – das heißt also dir – die Passagen übersetzt.« Ronald grinste unverschämt.

»Gute Idee«, murmelte Karl. Ihm wurde einmal mehr klar, dass er sich zusammenreißen musste, wollte er nicht während der gesamten Dreharbeiten wegen seiner Schwärmerei für Marie aufgezogen werden. Und wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war – er benahm sich tatsächlich wie ein Kerl in der Pubertät. Nur, wie hieß es so schön: Vieles ist leichter gesagt als getan. »Ich verzieh mich dann mal auf mein Zimmer«, erklärte er und stand auf. »So was kann ich nicht in der Lobby erledigen.«

Ronald nickte abwesend. Er war in Gedanken mit irgendeiner günstigen Kameraeinstellung beschäftigt.

Seufzend ließ Karl sich im Zimmer aufs Bett fallen und vertiefte sich in sein Skript. Je mehr er sich in die Rolle hineinversetzte, desto mehr wurde er gefesselt und fand Szenen, die bei Verwendung italienischen Floskeln tatsächlich mehr Lokalkolorit erhielten.

Als das Zimmertelefon läutete, verwunderte ihn dies im ersten Augenblick, doch ein Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk genügte – es war schon viertel vor zwei. »Wir treffen uns vor dem Hotel. Ich hab' noch was für dich«, grummelte Ronald ins Telefon und legte auf, ehe Karl fragen konnte, worum es sich handelte.

Die Sonne lachte noch immer freundlich vom Himmel. Eilig zog er seine Jeans an und schnappte sich nach kurzem Luftschnuppern auf dem Balkon einen dicken Sweater. Diese Bekleidung genügte.

Ronald stand vor dem Portal und wandte ihm den Rücken zu.

»Was hast du für mich?«, fragte er und tippte ihm auf die Schulter.

Der Regisseur zuckte zusammen. »Erschrick einen alten Mann nicht so«, protestierte er und fügte dann lächelnd hinzu: »Gute Nachrichten.«

»Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.«

»Dein Freund Victor hat die Rolle angenommen.«

Ronald gab den Anruf wieder, den er bekommen hatte. »Victor muss noch einige Termine wahrnehmen, aber ich soll ihm das Drehbuch zuschicken. Rechtzeitig zu Drehbeginn wird er hier sein.« Graham strahlte gute Laune aus. Die Besetzung der Hauptpersonen war wieder komplett. Wenn auch Marie noch zusagte …

Aber durfte man wirklich so viel Glück an einem Tag verlangen?

Ein schwarzer Wagen bog in die Hotelauffahrt ein. Karl erkannte die Fahrerin des Wagens und … sein Puls erhöhte sich. »Solltest nicht besser du vorn sitzen?«, wandte er sich an Ronald. »Das ist die Gelegenheit, Marie zu fragen, ob sie für uns übersetzen und gegebenenfalls die kleine Rolle übernehmen würde.«

Ronald ging sofort auf das Angebot ein. »Keine schlechte Idee. Du siehst Marie noch oft genug, falls sie zusagt.« Er klopfte Karl kumpelhaft auf die Schulter.

***

Marie hatte es gern übernommen, die beiden Männer vom Hotel abzuholen. Es war für sie nicht wirklich ein Umweg. Der medico führte die Praxis in seiner Privatvilla am Meer. Von dort zum Hotel war es mit dem Auto nur ein Katzensprung. Sie würde die Männer auch in dem Glauben lassen, sie sei wegen einer Erkältung in Behandlung. Tatsächlich hatte Sir Edward sie damit beauftragt, ihm ein spezielles Medikament von Medico Vicenzo zu besorgen. Es gab nun mal Dinge, die wollte der Lord nur Marie anvertrauen. Dazu gehörte das Abholen eines Potenzmittels.

Es geschah durchaus nicht zum ersten Mal. Daher lächelte sie auch jedes Mal wissend, wenn der Lord sie in sein Arbeitszimmer bat und sich zwischen ihnen ein nur von Fall zu Fall leicht abgewandeltes Ritual vollzog.

»Marie, hättest du die Freundlichkeit, von Medico Vicenzo etwas abzuholen?«, fragte Sir Edward in seiner steifen Art. »Du weißt, es ist nicht unbedingt etwas, das die gesamte Belegschaft wissen muss.« Hier, in diesem Zimmer, in dem sie allein waren, sprach der Lord Marie mit einem vertraulich klingenden Du an, während er in der Öffentlichkeit und in Gegenwart des übrigen Personals selbstverständlich das höfliche Sie benutzte.

»Aber sicher, Sir Edward«, war die Antwort, die er erwartete. Allerdings pflegte Marie trotz der verschlossenen Tür das Sie beizubehalten, was er mit einem Schmunzeln registrierte.

Diesmal lautete die Abwandlung von seiner Seite: »Vielleicht solltest du dich ja auch untersuchen lassen. Frederic teilte mir mit, dass du am Dienstag ein bisschen viel Regen abbekommen hast und seither ein wenig blass zu sein scheinst. Das Wochenende steht bevor und ich denke, da solltest du gesund sein.«

»So ist es, Sir Edward«, hatte sie mit einem Lächeln zugestimmt und den Geldschein entgegengenommen, den sie an den medico weiterreichen sollte. Überrascht war sie dann nur gewesen, als der Lord sie noch einmal zurückrief und ihr auftrug, auf dem Rückweg die beiden ›Herren vom Film‹ abzuholen. »Wir beabsichtigen, uns das Gelände anzusehen, in dem sie die Trailer aufstellen werden. Verständige mich telefonisch, sobald du die untere Einfahrt erreicht hast. Wir treffen uns dort. Danach können die Herren, wenn es ihnen genehm ist, noch auf einen Fünf-Uhr-Tee bleiben. Dieser Karl Landmann gefällt mir ausnehmend. Ich beabsichtige, mit ihm ein wenig über Neuseeland zu plaudern.«

»Selbstverständlich, Sir Edward, kein Problem«, hatte sie freundlich geantwortet. »Frederic muss den Herren nur Bescheid geben.«

Marie brauchte nicht lange beim medico. Vorsorglich kontrollierte der Arzt ihren Gesundheitszustand, doch bis auf einen leicht geröteten Hals fehlte ihr nichts. Patienten wie sie machten den medico nicht reich. Er verschrieb Marie etwas zum Gurgeln und riet ihr, kürzer zu treten, obwohl er wusste, dass sie diesen Rat nicht befolgen werde. Die Medikamente für den Lord lagen bereit, wurden kommentarlos an die Frau ausgehändigt und schon stieg sie wieder in den Wagen und fuhr davon.

Es war fast zwei Uhr nachmittags, als sie den Gästeparkplatz vor dem Rex ansteuerte. Die Männer standen wartend neben dem Hotelportal. Maries Herz klopfte ein wenig heftiger als sonst. Sie kurbelte die Seitenscheibe herunter und rief ihnen ein fröhliches buongiorno zu. »Steigen Sie ein, ich fahre Sie zu dem Platz, den Sie mit Sir Edward besichtigen wollen.«

Karl hatte Mühe, seine langen Beine im Fond unterzubringen. Maries eigenes Auto war nun mal keine Limousine, sondern ein Kleinwagen. Ronald machte zudem keine Anstalten, seinen Sitz ein wenig nach vorn zu schieben. Maries Sitz war wesentlich weiter vorn eingerastet. Vorsichtig schob Karl sich hinter sie. Hier stießen seine Knie wenigstens nicht an den Vordersitz.

Marie trug das Haar wie immer hochgesteckt und Karl starrte auf die samtig weiche Haut des Halses, auf dem sich feine Härchen kringelten. Er verschlang die Hände ineinander, um nicht in Versuchung zu geraten, die sanfte Linie ihres Halses nachziehen. Wo waren seine guten Vorsätze geblieben? Er musste sie draußen vor dem Wagen verloren haben.

***

Lord Lindsay ging in seinem Arbeitszimmer auf und ab.

Auch für ihn nahte der Sonntag. »Marie, Marie«, pochte es in seinem Kopf. Alter schützte eben nicht vor Torheit und er sehnte den Tag herbei, an dem so vieles möglich wurde, denn es gab darüber hinaus innerhalb der Woche keinen zweiten oder dritten.

Mit der Gespielin seiner körperlichen Begierden hatte er diese Abmachung getroffen: Nur samstags oder sonntags. Und es blieb zudem ihr überlassen, diese Zeit einzuteilen, wie sie es für richtig hielt. Das bedeutete, dass die Spannung bereits am Samstag bei ihm stieg: Wann würde Marie erscheinen? Frühmorgens, wenn er noch schlief? Oder mittags, wenn er sich zur Siesta zurückzog? Oder erst gegen Abend, wenn er die Hoffnung, sie zu sehen, fast aufgegeben hatte? Manchmal blieb sie einen ganzen Tag und er durfte sich mit ihr vergnügen, wann immer er konnte, ein andermal waren es nur ein paar Stunden. Einmal überließ sie es ihm, sich erotische Spiele auszudenken, dann wieder übernahm sie die Macht und er genoss es, sich verführen zu lassen. Nicht zuletzt war es auch das Geheimnisvolle, das ihre Beziehung umgab, das dem Lord Herzklopfen verursachte und sein Blut in Wallung brachte: Eine etwas anrüchige Beziehung … in seinem Alter!

Sir Edwards Jugend war nicht so verlaufen, wie man es sich landläufig bei einem Adligen vorstellte: Sohn reicher Eltern, der ein freizügiges Leben mit allen Vorteilen der finanziellen Unabhängigkeit führte.

Lady Ingrim Lindsay hatte die Erziehung des Kindes einer freundlichen französischen Gouvernante überlassen. Sie selbst bevorzugte es, in verschiedenen Wohltätigkeitsvereinen und deren Veranstaltungen als barmherzige Samariterin zu wirken und zu glänzen. Sir Geoffrey Lindsay interessierten die kitchen and cookie parties seiner Frau, wie er die Wohltätigkeitsveranstaltungen nannte, nicht im Geringsten. Das galt auch in Bezug auf die Mitglieder der Königsfamilie, mit der er tatsächlich über eine Seitenlinie verwandt war. Es hielt ihn zwar nicht davon ab, auf diese Verbindung hinzuweisen, wenn es ihm nützlich erschien, aber für den hochgewachsenen Mann zählten nur militärische Auszeichnungen. Und genau diese Vorliebe und strikte Disziplin verlangte er auch von seinem Sohn Edward. Diesen wiederum kümmerten weder militärischer Glanz noch humanitären Aktivitäten, die doch nur dazu dienten, persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen. Wirkliche Hilfe für Bedürftige leisteten weder die Mutter und schon gar nicht der Vater.

Edward lauschte als Kind lieber den Geschichten seiner Gouvernante, die ihm französische Lebensart, eben Savoir Vivre, näherbrachte und in ihm die Begeisterung für ihre Heimat weckte.

Als Jugendlicher lebte er eher zurückgezogen auf dem Landsitz seiner Eltern und widmete sich den Studien des Finanzwesens.

Weil seine Eltern es so wollten, heiratete Sir Edward mit 25 Jahren eine gewisse Lady Shannah D’Orsay. Edwards Mutter war begeistert von der Wahl des Sohnes, denn sie wurde von der sensationshungrigen Shannah bald auf jede Veranstaltung begleitet. Von der Verbindung entzückt gebärdete sich auch Sir Geoffrey, denn Shannahs Vater war oberster Befehlshaber der britischen Armee.

Ganze vier Jahre machte Sir Edward gute Miene zum ereignislosen Spiel.

Während dieser vier Jahre hatte er seine Frau einmal nackt gesehen und das auch nur, weil sie vergessen hatte, die Badtür zu verriegeln und er unbeabsichtigt in das Kabinett hineinplatzte. Ein wilder Aufschrei, wüste Beschimpfungen und ein kurzer Blick auf wohlgeformte Brüste blieben seine einzige Erinnerung an diese ›Begegnung der außergewöhnlichen Art‹.

Ihr ehelicher Beischlaf bestand darin, dass Shannah – wenn Edward sie wieder einmal daran erinnerte, dass sie verheiratet waren – den Slip auszog, den Rock hob und sich nach vorn über die Sofalehne beugte. Bei so viel Liebe war es nur verständlich, dass Edward es nicht zu Nachkommenschaft brachte. Er hatte auch den Gedanken nie zu Ende geführt, was Shannah getan hätte, wäre sie schwanger geworden.

Schon bald hatte er darauf verzichtet, sich seine Befriedigung von dieser nach seiner Meinung kalten Frau zu holen. Schließlich standen ihm als Mann auch andere Möglichkeiten zur Verfügung.

Erst nach vier Jahren freudloser Ehe kam Edward endlich dahinter, warum Shannah sich ihm entzog. Er kam von einer Vorlesung über Brokergeschäfte nach Hause, und das früher als angenommen. Gegen sechs Uhr abends betrat er das gemeinsame luxuriös eingerichtetes Haus. Aus dem Schlafzimmer seiner Frau drang unbekümmertes Kichern und lustvolles Stöhnen. Mit der Fußspitze drückte Edward die einen Spaltbreit offene Tür auf und erstarrte in der Bewegung …

Er kannte solche Bilder aus dem Etablissement, das er oft mehrmals wöchentlich besuchte: Zwei nackte Frauen balgten sich auf dem Laken. Nie hätte Edward für möglich gehalten, dass Shannah sich so hemmungslos gebärden konnte. Es war nicht einmal so, dass ihm dieses Liebesspiel nicht gefallen hätte! Er spürte im Gegenteil, dass Erregung in ihm aufstieg. Auf leisen Sohlen entfernte er sich und suchte sein eigenes Zimmer auf.

Nun stand es fest – er würde sich scheiden lassen.

Und Shannah? Sie brach weder in Tränen aus, noch beschimpfte sie ihn, als Edward ihr unter Hinweis auf seine Beobachtung noch am selben Abend die Scheidung antrug, sondern hörte ihm ruhig zu und küsste ihn anschließend auf die Wange.

»Danke, Edward«, sagte sie mit glänzenden Augen. »Und verzeih mir, dass ich dir nicht gestanden habe, wie es um mich steht. Du verstehst – die Etikette verlangte von mir eine herkömmliche Ehe.«

Als Edward seinen Eltern den Entschluss mitteilte, sich scheiden zu lassen, drohte der Vater, ihn zu enterben. Die Mutter zerfloss in Tränen und gefiel sich in einer Ohnmacht.

Einige Monate später wurde die Scheidung ausgesprochen und noch heute erhielt Sir Edward hin und wieder eine Ansichtskarte von Shannah, die – als geschiedene Frau geachteter, denn als ledige – in die High Society aufgestiegen war und ein reiselustiges Leben führte.

Edward war damals, wegen der Scheidung von der engeren Familie mit Nichtachtung bestraft, nach Frankreich gegangen. Dort absolvierte er ein Studium im Wirtschafts- und Bankenwesen und genoss die Liebe so mancher Französin. Er kehrte erst nach mehr als achtzehn Jahren nach England zurück. Die Londoner Börse wurde seine zweite Heimat. Schon damals gelang es ihm öfter, große Gewinne einzufahren. Sein Name war jedem Banker oder Broker bald ein Begriff.

Einmal im Monat besuchte er seine mittlerweile kränklichen Eltern – Pflichten eines wohlerzogenen Sohnes! Dort musste er jedes Mal einen Vortrag über die Unzulänglichkeiten seines Lebens über sich ergehen lassen.

Zum siebzigstem Geburtstag seiner Mutter, er selbst war damals kurz vor der Fünfzig, war auch eine Lady Rosebud geladen. Sie stellte sich ihm als Cousine soundsovielten Grades der Mutter vor. Diese alte Frau war der reinste Jungbrunnen, was ihre Aktivität und ihren Frohsinn betraf. Ihr gelang es, Edward aus der Reserve zu locken und ihm ein Lachen ins Gesicht zu zaubern. Seitdem verbrachte er viele Stunden im Hause der Lady. Sie wurde ihm die Mutter, die er sich immer gewünscht hatte: Gespräche, die von ernstem Charakter waren, unterhaltsame gemeinsame Ausflüge und das Gefühl, daheim zu sein. Eines Tages vertraute Lady Rosebud ihm auch ihr gesamtes Vermögen an. Edward vermehrte es noch um einiges.

Und dann kam ein trüber Tag im Oktober!

Trübe Tage waren zwar in England keine Seltenheit, doch für Sir Edward wurde es ein besonders denkwürdiger Tag. Die Glocke schellte und ein Polizist stand vor der Haustür. »Sir Edward Lindsay?«, fragte er.

Und als der Lord dies bejahte sagte der Polizist: »Lady Rosebud Laurence schickt nach Ihnen.« Auf so förmliche Art und Weise hatte die alte Lady noch nie nach seiner Gesellschaft verlangt.

»Warum ruft sie nicht selbst an?«, fragte er verwundert.

»Sie braucht die Zeit, bis Sie eintreffen, Sir.«

Die Aussage des Mannes ließ an Unklarheit nichts zu wünschen übrig. Seine Haltung signalisierte jedoch, dass er keinesfalls ohne Sir Edward umzukehren gedachte.

Der Lord betrat das Haus einer Sterbenden!

Die Zeit reicht gerade noch aus, um Lady Rosebud Lebewohl für immer zu sagen. Bis zuletzt hielt Edward die Hände der alten Frau in den seinen und sie lächelte, als sie den letzten Atemzug tat.

Ihr Vermächtnis an ihn war dieser Landsitz in Neapel gewesen und ihr gesamtes Vermögen. »Du warst mein Kind, das ich nie haben durfte. Ich danke dir für die schöne Zeit, die du mir geschenkt hast«, hatte sie mit klarer Stimme auf dem Sterbebett gesagt.

Im wunderschönen Rosengarten des Anwesens wurde ihre Urne beigesetzt, das war Teil ihres letzten Willens gewesen. Es hatte lange gedauert, bis Edward verstand, warum sie auf dem Landsitz zur letzten Ruhe gebettet werden wollte.

Hier war die junge Lady Rosebud aufgewachsen und einmal sehr glücklich gewesen. In einem Urlaub auf Ischia hatte sie den Neapolitaner Franco Rossini, einen Musiker, kennengelernt. Sie verliebten sich ineinander und Lady Rosebud brachte eine Tochter zur Welt – Chiara. Doch ebenso wie ihre Liebe musste die junge Adelige auch das Kind verleugnen. Seit damals lebte Lady Rosebud in England. Chiara wuchs bei ihrem Vater in Neapel auf. Der Kontakt zur leiblichen Mutter bestand aus Geldsendungen oder Geschenken. Liebe bekam sie von Sophia, der Frau, die Franco Rossini heiratete, als er begriff, dass Lady Rosebud nie zurückkehren werde.

Mehr als zehn Jahre waren vergangen, seit Sir Edward sich hier niedergelassen hatte. Seit seiner unglücklich verlaufenen Ehe war er nie wieder eine feste Beziehung eingegangen. Sein Stand und nicht zuletzt sein Reichtum erlaubten es ihm, unter vielen schönen Frauen zu wählen.

Vor einigen Jahren hatte er beschlossen, sich aus Altersgründen in Liebesdingen zurückzuhalten. Und gerade da war er Marie begegnet. Ihre Jugend hatte ihn betört, die schön geschnittenen Gesichtszüge, das langen Haar, ihre langen Beine und ihr Busen, von dem er seinen Blick so ungern trennte. Erst waren es nur Gespräche gewesen, dann folgten von seiner Seite Geschenke, zuletzt hatte er ihr ein Angebot gemacht. Und sie hatte es angenommen.

Il Vesuvio - Die Ehrenwerte Gesellschaft

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