Читать книгу Der achte Beauftragte - Renato Baretic - Страница 5
Оглавление»Tolle Kumpels hast du!« Dieser Satz war das erste, was Siniša Mesnjak bei seiner Rückkehr unter die Lebenden hörte.
Neben dem Bett in dem kleinen, aber angesichts der Umbruchszeiten im Land ziemlich luxuriösen Krankenhauszimmer saß Željka, seine Kollegin aus dem Parteisekretariat. Genau genommen war Željka nicht nur seine Parteikollegin, sondern mit ziemlicher Regelmäßigkeit auch ein – wie er es für sich selbst gern definierte – »Kollektor für überschüssige Energie«. Manchmal ahnte sie, dass sie für ihn nur das war und nicht mehr, und das war nicht leicht für sie. Während sie ihm jetzt in nicht eben gewählten Worten erklärte, was eigentlich geschehen war, zupfte er unter dem Laken an seinen Schamhaaren herum, um wach zu werden, um diesen Schrecken in einen gewöhnlichen Albtraum zu verwandeln, ähnlich jenem, den er immer wieder träumte und in dem ihn irgendwelche Zöllner bei dem Versuch ertappten, hinter dem Lenkrad eines Riesenschleppers acht Tonnen Schmelzkäse aus Ungarn einzuschmuggeln.
Siniša mied – nicht gerade typisch für einen aufstrebenden Politiker – die Medien, wo er nur konnte. Er verglich sie meist mit der Schaufel eines Totengräbers: Sie heben dich ein bisschen an, nur um dich daraufhin mit einem gezielten Schlag zwei Meter unter die Erde zu rammen. Doch wie sehr er die Medien auch mied, sie wollten ihn nicht meiden.
Vier Tage vor den außerordentlichen Wahlen zum Zagreber Stadtparlament war auf der Titelseite einer rechts-orientierten Boulevardzeitung eine schockierende Collage erschienen: Auf dem größten Foto sah man, wie ein Polizist den bewusstlosen Siniša vom Fahrersitz seines Dienstwagens zog, während auf den kleineren Fotos zwei weitere Polizisten den bekanntesten Befürworter der Legalisierung leichter Drogen sowie eine halbnackte, kaum volljährige anonyme Blondine, »von der man begründet annimmt, dass sie eine Prostituierte weißrussischer Herkunft ist«, aus demselben Auto zerrten. Genauso wie Siniša schienen auch diese beiden um sich herum nichts wahrzunehmen. »Wohin gehst du, Zagreb?!«, stand als Überschrift über dem Artikel, und in einem kurzen Text wurde erklärt, dass »unser Nachtreporter bei seiner Heimfahrt von der skandalösen Modeschau (siehe Seite 16) auf dem Parkplatz in Gajnice den Dienstwagen des angeblich angesehenen jungen Politikers erkannte, der sich in äußerst suspekter Gesellschaft befand. Nachdem er festgestellt hatte, in welchem Zustand Siniša M. (33 Jahre) und seine Beifahrer waren, rief er sofort die Polizei und die Ambulanz herbei, ohne dabei seine journalistische Professionalität zu vergessen.« Neben diesem Text stach eine schwarze Spalte hervor, die die Überschrift trug: »Er liebt all das, was junge Leute lieben?!« Unter dieser Überschrift stand ein Kommentar des Chefredakteurs, der die bisherige politische Karriere von Siniša Mesnjak beschrieb, »dieses Hoffnungsträgers der regierenden Dreierkoalition, dieses billigen Illusionisten, der es – so hoffen wir – nur für kurze Zeit geschafft hat, junge kroatische Wähler zu betrügen und zu verführen. Indem er mit ihrer jugendlichen Revolte und ihrer Ungeduld kokettierte, gelang es ihm, diese jungen Menschen auf die Seite seiner verblühenden Partei und noch verwelkteren Koalition zu ziehen, um sich gleich nach der Eroberung der Macht entspannen zu können und – wie wir hier sehen – sein wahres Gesicht zu zeigen: das Gesicht eines Drogensüchtigen und verlotterten Individuums. Sollten die Bürger der Hauptstadt aller Kroaten bei den Kommunalwahlen am Sonntag tatsächlich Mesnjak und seine Kumpanen aus Partei und Koalition wählen (davon überzeugt, dass von denen nur Mesnjak abartige Neigungen hat – dass wir nicht lachen!), dann bleibt uns allen wirklich nur noch der Aufschrei: Wohin gehst du, Zagreb?!«
Er mochte an seinen Schamhaaren herumzupfen, wie er wollte – die Wirklichkeit sah so aus: Nach den Tageszeitungen von heute zeigte ihm Željka die Abendausgaben der morgigen Zeitungen, die ohne Ausnahme auf den Titelseiten über den Ausbruch des Premierministers auf der außerordentlichen Pressekonferenz berichteten: »Eine Falle der nachrichtendienstlichen Unterwelt!«
»Der Chef sagt, dass du dein Handy und alle Telefone ausschalten sollst, keine Aussagen machen und dich bei niemandem melden, nicht mal bei ihm. Nach dem Motto: Don’t call us, we call you. Bis auf Weiteres bin ich für dich zuständig, und wir haben zwei Bodyguards zugeteilt bekommen, um die Journalisten fernzuhalten«, schloss Željka, faltete die Zeitungen zusammen und warf sie auf den Boden.
Am nächsten Tag wurde Siniša heimlich von der Intensivstation in die Lungenabteilung verlegt und von dort am Nachmittag in einen unscheinbaren Golf verfrachtet, mit dem man ihn nach Dubrava brachte, in ein kleines gepflegtes Häuschen; dass es sich im Immobilienbestand der Partei befand, hatte er bisher nicht gewusst. Am Sonntag, dem Wahltag, übergab er sich siebenmal, das letzte Mal eine halbe Stunde nach Mitternacht, als im Fernsehen verkündet wurde, dass seine Partei weniger Stimmen bekommen hatte, als selbst die pessimistischsten Prognosen vorausgesagt hatten.
Am Montagmorgen, während Željka noch tief in dem aufgeklappten Sessel schlief, immer noch in der Kleidung von gestern Abend, zog Siniša sich leise an. Er beabsichtigte, in die Parteizentrale zu gehen, um dort alles aufzuklären und weitere Schritte auf kommunaler und staatlicher Ebene vorzuschlagen. Im Hof des Nachbarhauses krähte ein Hahn wie auch schon an den vorherigen drei Tagen – laut und verzweifelt, als wäre es sein letztes Mal. Kurz bevor Siniša die Türklinke berührte, jagte ihm eine Stimme aus der Küche einen Schreck ein:
»Herr Mesnjak, wir haben schon genug Probleme. Sowohl Sie als auch ich.«
Ein großer, dünner Typ mit zerfurchtem Gesicht lehnte mit seinem Hintern an der Spüle, sah ihn irgendwie mitleidig an und reichte ihm einen länglichen Umschlag mit dem Logo der Partei.
»Das ist für Sie, vom Chef.«
»Halt die Füße still. Beweg dich nicht vom Fleck und warte, bis ich mich melde. Und jetzt gib Zvonko diesen Zettel brav zurück«, so lautete die Nachricht, die zweifellos vom Premierminister persönlich geschrieben worden war. Wie hypnotisiert gab Siniša dem Dünnen, der schon mit aufgeklapptem Zippo darauf gewartet hatte, den Zettel zurück. Der Typ stand unbeweglich da, bis das Feuer seine Finger erreichte, legte dann das verkohlte Papier in die Spüle und drehte den Wasserhahn energisch auf.
»Herr Mesnjak, lassen Sie es mich bitte wissen, wenn Sie etwas brauchen«, stieß Zvonko durch die Zähne und tat freundlich.
»Sagen Sie mal, was bin ich hier denn eigentlich? Eine verdammte Geisel oder was?«, versuchte Siniša es auf die harte Tour.
»Nein, Herr Mesnjak, aber wenn das ihr Wunsch ist, so sagen Sie es nur, ich bin hier, um alle ihre Wünsche zu erfüllen.«
Die harte Tour schien hier nicht zu fruchten.
»Ich brauche einen Collegeblock und drei feine Filzstifte, rot, blau und schwarz.«
»Ist bereits in ihrem Nachtschränkchen. Es ist auch ein grüner dabei.«
»Danke.« Sinišas Stimme nahm einen dienstlichen Ton an. Auf dem Weg zum Zimmer blieb er plötzlich stehen, lächelte hämisch und drehte sich um. »Und ich möchte Ćevapčići von Rahman aus Podsused.«
»Große oder kleine Portion?«, erwiderte Zvonko, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als Ćevapčići zu grillen.
»Äh … Zweimal die große.«
»Zwiebeln? Ajvar?«
Hätte an diesem Morgen jemand den am eindeutigsten geschlagenen Menschen auf der Welt gesucht, er hätte ihn in Dubrava gefunden, vor einem ausgeklappten Sessel, von dem sich gerade eine verschlafene junge Frau in zerknitterter Kleidung erhob, die Spitze einer Haarsträhne aus dem Mundwinkel zog und fragte:
»Geht es dir gut?«
Ein Flur, eine weiße Tür und ein Sessel davor. Eine weiße Tür. In seinen jüngeren Jahren, als Siniša sich noch für das Theater und schöne Worte begeistern konnte und sogar Gedichte schrieb, war eine weiße Tür am Ende eines Flurs eines seiner häufigsten Motive gewesen. Die weiße Tür, die die Welt verschließt, die weiße Tür, hinter der sich richtige und falsche Diagnosen verstecken, Urteile, Intrigen, Ermittlungen …
Die nächste Botschaft des Premierministers war erst am Freitagmorgen gekommen:
»Morgen, 12 Uhr, Zentrale. Gib Zvonko den Zettel zurück.«
Vor dieser weißen Tür in diesem Flur hatte er unzählige Male gesessen und gewartet, aber noch nie so mutlos und mit derart angeschlagenem Selbstbewusstsein. Er war – ohne wirklich schuldig zu sein – für die Wahlniederlage der Partei in der Hauptstadt verantwortlich; das war klar. Eine ganze Woche lang waren ihm die entscheidenden Informationen vorenthalten worden, ihn erreichten nur die Meldungen aus Zeitungen und Fernsehen, und die mussten keineswegs stimmen. Sie waren zumindest teilweise völlig falsch. Was der Premierminister nun wusste, dachte und beabsichtigte, ahnte Siniša nicht im geringsten. Immer wieder wischte er seine verschwitzten Handflächen an den Sessellehnen ab.
Der Premierminister empfing ihn über alle Erwartungen herzlich, und das war das schlechteste aller möglichen Zeichen. Er stand neben dem Tisch in seinem Büro, reichte Siniša die Hand und umarmte ihn.
»Na, altes Haus, ein Scheiß-Pech aber auch! Wie haben es diese Arschlöcher geschafft, dich über den Tisch zu ziehen? Zu ziehen?«
»Chef … Ich …«, begann Siniša, noch während er vom Premierminister umarmt wurde, die Rede, die er sich zurecht gelegt hatte.
»Lass nur. Lass nur … Setz dich! Willst du was trinken? Was trinken?«
Der Premierminister hatte einen merkwürdigen Sprachtick. Er wiederholte nach beinahe jedem Satz die letzten paar Worte. Als er an die Spitze der Regierung gekommen war und einen Sprecher einstellte, hatte Siniša diesem jungen Mann nahe gelegt, den Chef diskret, also mit äußerster Vorsicht, auf dieses Detail hinzuweisen, das zu dem Zeitpunkt schon zur Zielscheibe für alle Satiriker des Landes geworden war. Dem armen Jüngling, ansonsten Träger eines frisch erworbenen PR-Diploms von der Universität Lund, war nach einem Monat gekündigt worden und er war zu seinem Papa nach Schweden zurückgekehrt. Schweden zurückgekehrt.
»Nein danke, ich wollte nur sagen, dass ich …« Siniša versuchte, wieder zum Thema zu kommen.
»Lass gut sein, nicht nötig«, schnitt ihm der Premierminister tröstend das Wort ab und steckte dabei sein Poloshirt in die Hose. Er hatte es offensichtlich gerade erworben, für den Fall, dass man am Wochenende ein Interview mit ihm machen wollte.
»Ich weiß alles, mir ist alles klar. Wir arbeiten bereits die ganze Woche daran und haben schon zwei, drei Typen ausgemacht, die die Falle gestellt haben. Gestellt haben. Diese Bande versucht schon die ganze Zeit, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Hör mal, ich bin schon seit der Kinderkrippe in diesem Geschäft, und ich könnte mir in den Arsch beißen, weil ich dich nicht gewarnt habe. Man isst nur zu Hause, man trinkt nur zu Hause, und draußen höchstens ein Schlückchen aus Höflichkeit, auch wenn es Wasser aus der Wasserleitung ist, die du gerade feierlich in Betrieb genommen hast! Genommen hast!«
»Chef, es war nur ein Mineralwasser in einem großen Glas …«
»Ich weiß, mit viel Eis und drei Scheiben Zitrone. Damit dir der Geschmack nicht verdächtig vorkommt, bis du zumindest die Hälfte getrunken hast. Wir haben ermittelt und alles herausbekommen, du brauchst mir gar nichts zu erzählen. Zu erzählen. Und diese Kleine, die sie dir dann später auf den Rücksitz geschoben haben, nackt und vollgedröhnt bis zum Anschlag, hat die Kellnerin gespielt. Alles war bis ins kleinste Detail durchgeplant. Wir konnten im letzten Moment verhindern, dass diese Bande sie am nächsten Tag nach Weißrussland deportierte. Weißrussland deportierte.«
Siniša sah ein, dass es für ihn am besten war, zu schweigen. Seine Mutmaßungen und späteren Notizen deckten sich bisher perfekt mit den Worten des Premierministers. Dass der Nachrichtendienst anständig gearbeitet hatte, war offensichtlich. Der Premierminister starrte schweigend aus dem Fenster und versuchte weiterhin, sein Poloshirt unter den Hosenbund zu schieben, obwohl das gar nicht nötig war.
»Hör mir genau zu, ich spreche ganz offen mit dir, offen mit dir«, meldete er sich nach einer halben Minute wieder. »Wenn ich in irgendjemandem meinen Nachfolger gesehen habe – oder, wie soll ich sagen, einen Politiker für das neue Kroatien, das uns eine Verpflichtung ist, vor allem, wenn es uns wirklich ernst ist damit … Hör mal, warum verziehst du denn sofort das Gesicht, ich sehe all das doch immer noch in dir … Aber jetzt haben sie dich ernsthaft am Arsch. Du hast nicht aufgepasst, nicht aufgepasst. Und ich bin genauso daran schuld wie du. Wenn du wüsstest, was ich in diesen sieben Tagen alles getan habe, um das Ganze halbwegs ins Reine zu bringen, ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, wenn du das alles wüsstest, würden dir die Tränen kommen, Tränen kommen.«
»Herr Vorsitzender …«
»Langsam, langsam. Langsam … Bei den Kommunalwahlen haben wir die Arschkarte gezogen, das ist dir vermutlich bekannt, und jetzt muss ich mich mit diesem halbtauben Säufer um die Koalition streiten, Koalition str…«
»Herr Vorsitzender, wenn ich auf irgendeine Weise, irgendeine Weise …«
»Mein Gott, kannst du nicht mal den Mund halten? Jetzt machst du dich auch noch über mich lustig! Ich weiß, dass du seit sieben Tagen schweigst und mir jetzt am liebsten alles in fünf Minuten erklären würdest, aber zeig mal ein wenig Respekt, wenig Respekt. Seit drei Tagen überlege ich mir schon, was ich dir sagen soll, lass mich also bitteschön endlich aussprechen, endlich aussprechen.«
Siniša nickte schweigend und starrte ein Tischbein an.
»Du bist gut, du hast Talent und eine Zukunft in der Politik, und ich will dich nicht verlieren«, fuhr der Premierminister bedächtig fort. »Ich will dich nicht in ein paar Jahren zum Gegner haben, und es ist mir daran gelegen, dass du mein Mitarbeiter bleibst. Und ein Verbündeter. Aber wir müssen dich für eine gewisse Zeit aus dem Verkehr ziehen, Verkehr ziehen. Nur so lange, bis sich dieser Schlamassel etwas gelegt hat, damit wir dich sauber bekommen und diese Scheiße von dir abwaschen können.«
All das hatte Siniša schon erwartet. Er hatte es ja gewusst. Er hatte sich auf diese Worte eingestellt und war bereit, sich dem Willen des Premierministers zu beugen. Doch jetzt folgte am Ende einer Geraden eine Kurve, hinter der etwas auf ihn lauerte. Aber was? Eine Stelle als Aushilfsarchivar im lexikografischen Institut? Als Sekretär im Landwirtschaftsministerium? Als Referent für – die horizontalen Signalsysteme im Verkehrswesen?!
»Hast du schon mal von Drittchen gehört?«
So scharf hätte die Kurve nicht zu sein brauchen.
»Drittchen? Sie meinen die Insel?«
»Die Insel, die Insel.«
»Keine Ahnung … Kenne ich nur aus Kreuzworträtseln. Zwölfte Reihe waagerecht, neun Buchstaben: ›Unsere am weitesten vor der Küste gelegene besiedelte Insel‹. Mehr nicht.«
Noch bevor der immer noch aus dem Fenster starrende Premierminister weitersprach, begriff Siniša, dass nichts Gutes zu erwarten war.
»Nächsten Montag fährst du dorthin. Übermorgen wird dich die Regierung zu ihrem Beauftragten ernennen, und ich möchte, dass du all dein organisatorisches Potenzial, das ja unbestritten ist, bei der Organisation der lokalen Verwaltung und Selbstverwaltung zum Einsatz bringst. Einsatz bringst.«
»Auf der Insel?! Herr Vorsitzender, ich habe nie …«
»Siniša, es gibt wirklich keine andere Lösung. Unser Mandat läuft noch zwei Jahre, dann sind Wahlen, und bis wir die hinter uns haben, müssen wir dich von der Bildfläche verschwinden lassen. Damit man die Sache vergisst, versteht du? Und dann, und dann kommt deine Zeit, deine Zeit. Aber du bist natürlich ein freier Mensch, du kannst die Partei verlassen und alleine sehen, wie du zurecht kommst, aber ich habe dir ja offen gesagt, dass ich dich brauche und dass ich will, dass du in dieser Partei und in der Politik bleibst, in der Politik bleibst. Ich schreibe dich nicht ab, verstehst du, ganz im Gegenteil, aber ich sehe, dass du ein wenig Ruhe brauchst und noch ein paar Erfahrungen sammeln musst. Und dafür ist Drittchen wie geschaffen, wie geschaffen.«
»Entschuldigen Sie, Chef, aber Sie haben da etwas von zwei Jahren gesagt. Von zwei Jah…«
Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, gefror ihm das Blut in jedem Äderchen. Aber statt ihm wieder vorzuwerfen, ihn verspotten zu wollen, blickte der Premierminister ihn an wie ein Vater seinen Sohn.
»Genau. Und?«
»Ich meine, wenn ich das da unten auf Drittchen erledigt habe, es geht da ja um ein, zwei, höchstens drei Monate, was dann? Was werde ich dann tun?«
Der Premierminister blickte nicht mehr milde auf ihn wie ein Vater auf seinen Sohn. Er blickte noch milder auf ihn – wie ein Großvater auf seinen Enkel. Er nahm eine dünne, sichtbar abgegriffene Mappe von einem Beistelltischchen und reichte sie Siniša mit einer langsamen Bewegung. Auf der Umschlagseite stand in ziemlich verblassten Buchstaben »Drittchen«.
Željka lag auf dem Rücken und starrte an die Zimmerdecke. Sie versuchte, sich an den Titel des Films – oder war es eine Fernsehserie gewesen? – zu erinnern, in dem ein Paar sich liebt und das Männchen ständig das Weibchen anbettelt, etwas zu sagen. Sie kann nicht, ihr ist nicht nach Sprechen zumute, sie würde gern einfach nur das tun, weswegen sie hier ist, nackt und verschwitzt, aber er besteht darauf. Und als er zum fünfhundertsten Mal seinen Wunsch wiederholt, sprudelt es aus ihr heraus: »Deine Zimmerdecke ist wunderschön«!, und da kommt das Männchen. Nur aufgrund ihrer Stimme, die er mit viel Mühe aus ihr hervorgelockt hat.
Siniša war vor einer guten halben Stunde gekommen. Nachdem er nun wieder Atem geschöpft hatte, starrte auch er an die Zimmerdecke. Aber er schwieg nicht wie Željka, sondern erzählte, erzählte, erzählte …
»… und am Schluss hat er mir nicht einmal gesagt, welche Affen das waren, keine Vornamen, keine Nachnamen, Null, absolut nichts, er schmeißt mich einfach auf diese Insel, soll er sich doch samt der Insel und all ihren Bewohnern ins Knie ficken, und erst als ich ihm sagte: okay, okay, ich gehe, kein Problem, sagte er zu mir: Ich verrate dir das bestgehütete kroatische Geheimnis. Schieb dir dein Geheimnis sonstwo hin, habe ich gedacht, und er sagte, dass die ehemaligen Regierungen dort unten in zehn Jahren sieben Beauftragte verschlissen haben und keiner etwas erreicht hat. Die Idioten dort wollen keine Regierung, weder eine eigene noch eine fremde. Sie wollen gar nichts, und wir gehen ihnen alle am Arsch vorbei, und jetzt soll ich mich mit ihnen herumschlagen. Und bei ihnen Parteien, Wahlen und eine Regierung einführen. Ich bin sicher, das dauert höchstens drei Monate und fertig, aber wieso – verdammt noch mal – hat das in zehn Jahren niemand hinbekommen? Ich kapier das nicht, da muss es einen ziemlich beschissenen Haken geben. Aber was soll’s, Strafe ist Strafe, und da muss ich jetzt durch. Aber was, wenn ich das in drei, vier Monaten oder, sagen wir mal, in einem halben Jahr erledigt habe? Das ist ihm dann hundertprozentig zu schnell. Und was jubelt er mir dann unter? Eine Aushilfsstelle in der Abteilung für Feuerwehrwesen, irgend so etwas? Koordinator für Südfrüchte, verdammte Kacke. Wie dämlich ich bin, saudämlich. Einen Hektoliter Mineralwasser hat mir diese Nutte gebracht, und darin schwamm die halbe afrikanische Zitronenernte … Ich Idiot! Aber stell dir mal vor, was passiert, wenn ich es nicht schaffe, wenn mich diese Dalmatiner so richtig hochgehen lassen, nach Strich und Faden verarschen, weißt du, was ich meine, so dass ich mich am Ende noch schäme, zurückzukommen? Das kann ja auch passieren, ach du Scheiße, die haben schon sieben arme Schweine in den Wahnsinn getrieben, stell dir mal vor, ich habe nur drei davon ans Telefon bekommen, aber keiner will auch nur ein Wort sagen, und der siebte ist ohnehin völlig abgetaucht. Er hat keine Familie, niemanden, kapierst du, genau wie ich, und keiner weiß, wohin er von diesem Drittchen, Frittchen, Flittchen – wie heißt es noch mal – gegangen ist. Vielleicht haben sie den Typen erschlagen und ins Meer geworfen …«
Siniša schwieg ein paar Sekunden lang, in seine Sorgen versunken, und drehte sich dann zu Željka um:
»Was denkst du darüber, mein kleiner Zypressenzapfen?«
»Deine Zimmerdecke ist schön«, sprudelte es in derselben Sekunde aus ihr heraus, so als hätte sie nur auf diesen Augenblick gewartet.
»Wie bitte?! Zimmerdecke?!? Ich … Ich … Hör mal zu, in fünf Tagen fahre ich an den Turbo-Arsch der Welt! Auf eine Insel, auf der es keinen Fischfang, keine Viehzucht, keinen Weinbau gibt, rein gar nichts gibt es dort! Nur eine Truppe von Idioten, die ich dressieren soll! Und du bewunderst meine Zimmerdecke! Eine beschissene Zimmerdecke. Eine weiße Zimmerdecke, eine gewöhnliche, beschissene weiße Zimmerdecke. Du bist total im Eimer, hundertmal mehr als ich! Dich hätte er mal dorthin schicken sollen und nicht mich!«
Siniša hatte noch nie eine kleinere Fähre gesehen, schon gar nicht von innen. Auf der Ladefläche hätte man vielleicht fünfzehn Autos zusammenquetschen können, aber dann hätte es niemand geschafft, auszusteigen. Zvonko, der Ćevapčići-Experte aus Dubrava, hatte ihn schweigend in einem Audi mit Klimaanlage zur Küste gefahren. Er hatte alle vier Taschen auf die Fähre getragen und sie auf der Kommandobrücke untergebracht, und am Schluss hatte er den Schicki-Micki-Regenschirm des Premierministers aus dem Gepäckraum genommen und ihn Siniša großzügig angeboten, da ein feiner, schräg fallender und stechender Regen sie überraschte, als sie aus dem Auto stiegen.
»Nehmen Sie ihn ruhig«, sagte er. »Der Chef wird sich nicht ärgern, er wird es nicht einmal erfahren. Wir haben immer zwei dabei, für den Fall, dass er – oder wir – den einen irgendwo vergessen.«
Und während Siniša an der Hülle des Regenschirms herumfummelte, reichte ihm Zvonko die Hand:
»Tja, also … Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.«
»Ja. Ich auch«, flüsterte Siniša ironisch.
Als er die engen, steilen, grünen Stufen bis zum oberen Deck emporgestiegen war, blickte er zur Küste zurück und sah Zvonko, der seine Hände zu einer Trompete vor den Mund gelegt hatte:
»Zuerst kommt Erstchen, und dann, wenn Sie in Zweitchen anlegen, wartet ein gewisser Toni auf Sie! Er fährt Sie mit einem Boot nach Drittchen!«
Das stumpfe Gesicht unter dem karierten Regenschirm nickte stumm, auf und ab, auf und ab, bis der dunkelblaue Audi den Fährhafen verlassen hatte und hinter der ersten Kurve in Richtung Zagreb verschwunden war. Auf dem oberen Deck, das durch eine wurmstichige Tür von der Kommandobrücke getrennt war, standen eine kurze Theke und daneben zwei Tische, an denen sechs Männer und ein Großmütterchen in Schwarz saßen. Wer weiß, vielleicht hatten sie vorher auch schon geschwiegen, aber von dem Augenblick an, in dem Siniša an Bord gekommen war, sagten sie kein Wort mehr, bis sie Zweitchen erreicht hatten – immerhin eine Fahrt von viereinhalb Stunden. Alle bis auf einen schnauzbärtigen Mann, der sich mit einer unerwartet hohen Stimme zu Wort meldete, nachdem Siniša schon beinahe eine halbe Stunde an der Theke gestanden und sich immer wieder vorgebeugt hatte, um zu sehen, ob jemand da war:
»Wollnse wat?«, fragte er und schob sich durch eine schmale Tür hinter die Theke.
Sinišas Augenbrauen krümmten sich zu zwei behaarten Fragenzeichen.
»Wollnse wat drinken?«, versuchte es der Schnurrbärtige noch einmal. Und dann sagte er, nachdem er sich kurz geräuspert hatte, steif und pompös wie ein Oberkellner:
»Wollen sich der Herr vielleicht ein Glas seines Lieblingsgetränks genehmigen?«
»Ähhh… Ein Bier, wenn Sie haben.«
»Wen – si – ha – ben, dat is wohl wat Japanisches, dat hammer nich. Wir ham nur hiesiges: Heniken, Gezer, Gines, Klikeni, Milwoki, Bravarija …«
»Guinness? Hier? Bei ihnen?«
»Fragense ruhig mal draußen nach, obs da wat gibt!«
»Schon gut, schon gut, ein Guinness bitte.«
Der Schnurrbärtige holte drei Fläschchen echtes Guinness aus dem Kühlschrank und stellte sie auf die Theke, dazu ein Glas und einen Flaschenöffner.
»Schaffenses selber? Wennse Nachschub wolln, sagense Bescheid.«
Sprachs und ging. Zurück an den Tisch mit dem Großmütterchen. Schweigen. Auch Siniša schwieg. Er tat so, als würde er die anderen nicht beachten, aber in dem ziemlich dunklen Spiegel mit der verblassten Werbeinschrift »Trink mit Maß ein gutes Glas!« konnte er ihre Gesichter beobachten. Versteinerte Hochzeitsgäste, das war das einzige, was ihm dazu einfiel. Er wünschte, Željka wäre hier, damit er sie ihr zeigen könnte, der dummen Kuh, oder wenigstens beschreiben. Als er das dritte Fläschchen öffnete, stand der Schnurrbärtige von allein auf, holte drei weitere Flaschen aus dem Kühlschrank, stellte sie auf die Theke und nickte stumm mit dem Kopf. Dann kehrte er wieder an seinen Tisch zurück. Nach beinahe drei Stunden Fahrt spürte Siniša, wie seine Fußsohlen brannten und seine Waden schmerzten, aber die einzige Stelle, an die er sich hätte setzen können, lag im Rücken der Oma in Schwarz, an dem Tisch mit den restlichen drei Schweigenden. Und dort wollte er nicht sitzen. Hätte er gewusst, ob einer von ihnen von Drittchen kam, hätte er vielleicht ein Gespräch begonnen, aber so … Noch in Zagreb hatte er versucht, sich psychisch auf die zu erwartende Ablehnung und Ignoranz der lokalen Bevölkerung vorzubereiten. Seine Vorbereitungen waren gründlich gewesen und er hätte sie bei diesem Bier noch vertiefen können, aber nicht einmal nach dem vierten Guinness, nachdem sie ohne einen einzigen weiteren Passagier von Erstchen abgelegt und vermutlich in Richtung Zweitchen unterwegs waren, hatte er eine Idee, wie er diese Wehrmauer durchbrechen sollte. Er konnte einfach nicht Zugänglichkeit und lockeres Verhalten vortäuschen und mit diesen versteinerten Hochzeitsgästen ins Gespräch kommen. Eigentlich hatte er ja mit ihnen auch nichts zu schaffen. Seine Aufgabe war es, irgendwie zu diesem Drittchen zu kommen und bis Weihnachten – so gebe Gott – mit kühlem Kopf und in aller Ruhe diese verfluchten Wahlen zu organisieren. Und dann ab nach Hause. Eigentlich auch zurück zu Željka, aber … Lieber Gott, wer weiß, wie die Zimmerdecken auf dieser beschissenen Insel aussehen? Schwarz, verschimmelt, feucht, mit zitternden, weiß schimmernden Wassertröpfchen, die über dem Bett hängen, bis sie sich ablösen und auf die kalte Bettdecke fallen. Vielleicht könnte er wenigstens ein wenig mit dem Kapitän sprechen? So tun, als bräuchte er irgendetwas aus einer seiner Taschen, und dann langsam mit dem Herbstwetter anfangen, dann die gegenseitige Vorstellung, dann ein bisschen über seine Arbeit und dann … Aber was sollte er eigentlich mit dem Kapitän? Der war ja vielleicht nicht einmal von hier, vielleicht arbeitete er nur für die Fährgesellschaft.
Die traurige Schiffssirene und die plötzlich abflauende Vibration unter den Füßen rissen ihn aus seinen Gedanken. Er trennte sich von der Theke, machte einen Schritt vorwärts, stolperte und wäre beinahe gefallen. Der Schnurrbärtige lächelte ihn mit dem rechten Mundwinkel an. Siniša wollte nach seinem Geldbeutel greifen, aber der Kellner, der nun aufgestanden war, winkte ab.
»Nehmse noch des sechste«, sagte er und reichte ihm das letzte noch nicht geöffnete Fläschchen Guinness, das noch auf der Theke stand. »Da, wohin se gehn, trinkense nur das Stralische.«
»Wie bitte?«
»Nur das Stralische, Fister, Fuster, Foster, oder wie heißes noch gleich.«
Sinišas Blick zwang den Schurrbärtigen erneut, sein Vokabular aus dem Hotel Esplanade zu bemühen. Er hatte es dort seinerzeit bis auf den Posten eines Aushilfscroupiers gebracht, aber dann war seine Karriere leider jäh unterbrochen worden.
»Bier aus Australien, mein Herr, dort, wohin Sie fahren, wird nur das australische Bier getrunken«, erklärte er, wobei er das Wort »australisch« mit besonderem Spott betonte.
Sinišas linke Augenbraue ging von einem Fragezeichen in ein behaartes Ausrufezeichen über, während sein Kopf reflexartig nickte, als wäre ihm nun alles klar.
»Ich helf Ihnen mit dem Gepäck«, fügte der Kellner hinzu und verschwand hinter der Theke.
»Lassen Sie nur, das ist nicht nötig«, versuchte Siniša ihn abzuhalten, aber in diesem Moment legten sich die kalten, dunklen, knochigen Finger des Großmütterchens in Schwarz zärtlich auf seinen Handrücken.
Sie sah ihm direkt in die Augen, schweigend, mitleidig und besorgt, aber dennoch irgendwie streng, so wie Mütter ihre Söhne anschauen, wenn diese in den Krieg ziehen. Er erinnerte sich an seine Tante und empfand für einen Augenblick schreckliche Gewissensbisse, weil er vor seiner Abreise nicht an ihrem Grab gewesen war, weder an ihrem noch an dem seiner Eltern. Und dann drehte das Großmütterchen seine Hand um, legte einen Rosenkranz in seine Handfläche und bog seine Finger zu einer geschlossenen Faust. Daraufhin ging sie, ohne ein Wort zu sagen, mit schwachen, langsamen Schritten in Richtung Ausgang, wobei sie sich ununterbrochen bekreuzigte. Siniša betrachtete den schwarzen Rosenkranz aus Plastik in seiner einen Hand und die geschlossene Bierflasche in der anderen, verstaute beide Gegenstände in den Jackentaschen, zuckte verwirrt mit den Schultern und sah sich um. Alle anderen waren schon von Bord gegangen, und jetzt ging auch er. Draußen regnete es in Strömen, und die Windböen wirbelten Regenschauer herum. Er ging noch einmal zurück, um den Regenschirm zu holen, aber er fand ihn nicht mehr. Niemand war mehr auf der Kommandobrücke, und auch sein Gepäck war nicht da. Er fluchte leise vor sich hin, knöpfte sich die Jacke zu, stellte den Kragen auf und betrat vorsichtig das Deck. Durch den Regenschauer hindurch konnte man den größten Ort auf der Insel Zweitchen kaum erahnen. Auf der Mole stand nur ein knochiger Typ in einer abgenutzten Öljacke und einer Hose mit zu kurzen Beinen der breit und fröhlich herüberwinkte und zu dessen Füßen Sinišas Taschen vom Regen durchtränkt wurden. In der linken Hand hielt er den aufgespannten Schirm des Premierministers und in der rechten ein Poster, auf dem mit großen Buchstaben geschrieben stand: »Beauftragter!«; darunter stand mit kleinen Buchstaben: »Tonino → Boot → Drittchen!«
Ohne Absicht, vollkommen instinktiv, umklammerte Siniša das Bier und den Rosenkranz in seinen Jackentaschen, bevor er weiter über über das Fallreep von Bord stieg.
Es regnete immer stärker, und der Beauftragte zwängte sich sofort in die kleine Kajüte. Sie war so klein wie unbequem, strahlte jedoch auf Anhieb eine asketische Bodenständigkeit aus. Ganz genauso würde sich eine Landratte eine Kajüte auf ihrem eigenen Boot vorstellen.
»Sie haben da ein schönes Boot!«, rief Siniša Tonino zu, und der antwortete vom Heck aus mit einem breiten Lächeln, einem lauten »Danke« und einer Geste, die soviel wie »Nur einen Moment, ich bin sofort bei Ihnen« bedeuten sollte.
Tonino hielt das Steuerruder zärtlich zwischen Zeigefinger und Daumen. Den Blick über Kajüte und Bug hinweg nach vorne gerichtet, manövrierte er das Boot langsam aus dem sich dahinziehenden Hafen. Auf dem offenen Meer kam das Boot bei der ersten Welle ins Schwanken, und Tonino griff nach einem Tau und wickelte es um zwei hölzerne Pfosten, um das Steuerruder zu fixieren. Er zog seinen Nordwester aus und hängte ihn neben der Kajütentür auf. Dann setzte er sich Siniša gegenüber:
»Autopilot, haha … Jetzt haben wir endlich Gelegenheit, uns kennenzulernen und uns zu unterhalten, wie es sich gehört. Ihnen gefällt mein Boot?«
»Ja, es ist wirklich … Es ist eine Pasara, nicht wahr?«
»Hm, nicht wirklich. Das sind doch eher Leute, aber zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Auf Drittchen haben wir sowieso für alles andere Namen. Gajeta, Gejeton, Gajetona, Gajetin … Die ›Adelina‹ ist – sagen wir mal – eine Gajetona.«
»Wer?«
»Die ›Adelina‹, dieses Boot hier. Eine Gajetona.«
»Aha!«
Sie schwiegen eine Zeitlang, und dann setzte Siniša diplomatisch an:
»Darf ich Sie etwas fragen, was eigentlich – vielleicht – eher privater Natur ist? Sagen wir mal so – ohne jeden Hintergedanken?«
»Selbstverständlich, schießen Sie los!«, erwiderte Tonino bereitwillig und vergnügt.
»Wie soll ich es ausdrücken, ohne Sie zu beleidigen?«
»Um Gottes Willen, tun Sie sich keinen Zwang an, fragen Sie nur. Sie sind schließlich der Vertreter der Regierung, oder etwa nicht?«
Sinišas Gesicht verdüsterte sich. Diese dalmatinischen Schlitzohren wollen aber auch immer provozieren.
»Vergessen Sie es, ich entschuldige mich, ist wahrscheinlich noch ein bisschen zu früh dafür. Sagen Sie, wie weit ist es noch bis nach Drittchen?«
Tonino sah auf die Uhr, die an der Kajütentür hing. Es war gegen ein Uhr mittags, aber diese Uhr zeigte zehn nach sieben. Sie war nicht stehengeblieben, sondern tickte sich ordentlich durch ihre eigene private Zeitzone.
»Wenn sich das Meer und die Wettersituation nicht ernsthaft verändern, würde ich sagen: nicht länger als vier Stunden.«
»Wie bitte? Vier … Vier?!«, verschluckte sich Siniša.
»Leider ist Drittchen nicht direkt hier um die Ecke, und auch die ›Adelina‹ steht nicht mehr in der Blüte ihrer Jugend, aber dafür ist sie unsinkbar. Machen Sie sich keine Sorgen, es geht schnell vorbei.«
»Vier Stunden … Und zwar vier Stunden von Zweitchen! Na gut, also: Haben Sie sich je danach erkundigt, warum es denen in Zagreb so wichtig ist, an diesem Arsch der Welt – verzeihen Sie bitte den Ausdruck – irgendeine staatliche Struktur aufzubauen?«
»Ich befürchte, sehr geehrter Herr Beauftragter, dass das eine Frage ist, die Ihnen in der auf Sie zukommenden Periode sehr häufig gestellt werden wird …«
»Hören Sie mal, Tonino … Können wir uns nicht duzen? … Ausgezeichnet. Also frage ich dich jetzt, ich frage dich jetzt doch, was ich vorhin schon fragen wollte. Darf ich?«
»Natürlich.«
»Okay, also dann … Gerade heraus: Wieso sprichst du eigentlich so? Ich meine, ich habe schon einige Inseln besucht, ich habe dreihundert verschiedene Dialekte gehört und sogar zwei oder drei verstanden, und auch gerade auf der Fähre habe ich den Leuten zugehört, auch wenn sie nur wenig gesprochen haben …«
»Ach, die kamen von Erstchen oder von Zweitchen …«
»Egal, woher sie kamen, sie sprachen in einem eigenen Dialekt, in einer eigenen Sprache, was weiß ich. Aber du – wie soll ich sagen – du sprichst, als wärst du mindestens Minister. Sprecht ihr alle so auf Drittchen?«
»Ich bemühe mich. Es gilt, sich ein Leben lang Mühe zu geben«, antwortete Tonino, schrecklich stolz darauf, dass er die kroatische Hochsprache so sauber und korrekt beherrschte.
»Und wie halten es die anderen dort?«
»Wie soll man das erklären … Also ich bin der Meinung, das für dich ein Dolmetscher unentbehrlich sein wird. Vielmehr noch, er wird dir vonnöten sein.«
Das unerwartete Angebot hing in der Luft, als wäre es an der Kajütendecke befestigt, an der es im unregelmäßigen Rhythmus der hohen Wellen herumbaumelte. Siniša stellte sich das säuerliche Gesicht des Premierministers vor, wie er das Telegramm las: »Benötige dringend einen Dolmetscher für Drittchensisch – Stop – nicht ohne Honorar – Stop – Beauftragter Siniša«. Das wäre was! Denen werde ich es noch zeigen, die werden alle tipptopp sprechen, niemand hier wird mich verarschen, beschloss Siniša für sich. Die werden mir noch alle hübsch die Wahlgesetze herunterbeten!
»Um das Honorar brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, warf Tonino ein Steinchen in Sinišas Gedankenfluss. »Das wurde schon während der Amtszeit des dritten Beauftragten geregelt. Jeden Monat wird eine bestimmte Summe auf mein Girokonto überwiesen, nicht besonders viel, aber immerhin. Und obwohl es schon lange keinen Beauftragten mehr gab, schickt mir die Regierung regelmäßig mein Geld nach Zweitchen. Auch wenn du mich ablehnen solltest, wird das Honorar vermutlich noch für eine bestimmte Zeit fließen.«
»Und diesen Dialekt auf Drittchen, den verstehst du problemlos?«
»Wat denkste, anch’ io bin en Drittchenser! Moun Papa is oun Drittchenser, anche la mia Mama, de Selige, war oune. Do bin io nato, do houb io oun Leif lang lebt!«, antwortete Tonino in einem Atemzug und setzte sein breites Lächeln anstelle eines Ausrufezeichens an den Schluss.
Dann stand er plötzlich auf, warf sich seinen Nordwester über die Schulter und ging zum Heck des Bootes. Er starrte nach vorne, lockerte einen Knoten, richtete das Steuerruder ein wenig nach rechts und zog den Knoten wieder fest. Siniša begann nachzudenken. Plötzlich erschien ihm seine Aufgabe, diese schreckliche Strafe für seine mangelnde Vorsicht und sündhafte Nachlässigkeit, in einem recht erträglichen Licht. Dieser fürchterliche Südwind, diese merkwürdige Insel und Tonino, für den es galt, »sich ein Leben lang Mühe zu geben« – die ganze Geschichte nahm die Gestalt eines Abenteuers an, das sich nicht jedem bot. Das konnte wunderbar werden! Ihm fiel das Bier in seiner Tasche wieder ein und er stellte es auf das Tischchen. Gerade kam Tonino in die Kajüte zurück.
»Das haben sie dir auf der Fähre gegeben, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Siniša und sah Tonino mit einem fragenden Lächeln an. »Wollen wir halbe-halbe machen?«
»Vielen Dank, aber lieber nicht. Und auch dir würde ich es nicht empfehlen.«
»Was du nicht sagst. Bist du etwa Antialkoholiker? Ein Bierhasser?«
»Nein, ganz im Gegenteil. Aber das, was sie dir da gegeben haben, ist kein Bier, sondern ein böser Zauber.«
»Wie bitte?!?«
»Und die arme Tonkica hat dir garantiert wortlos einen Rosenkranz geschenkt, nicht wahr?«
Siniša schwieg verblüfft.
»So machen sie es mit jedem Beauftragten, und dann scheitern die alle auf Drittchen, wenn schon nicht als Menschen, so doch zumindest als Politiker. Kennst du auch nur einen deiner Vorgänger, der weiterhin im öffentlichen Bereich gewirkt hat? In der Politik, der Kunst oder im Sport? Natürlich kennst du keinen, da sie alle verhext wurden! Sogar der …«
Tonino hielt inne, als hätte er zu viel gesagt. Siniša starrte ihn weiter mit leicht herunterhängendem Unterkiefer an.
»Wenn du erlaubst, würde ich um deinet- und meinetwillen das Bier und den Rosenkranz sofort ins Meer werfen. Darf ich?«
Siniša versuchte, schnell und nüchtern zu denken. Er konzentrierte sich voll und ganz auf die Situation, versuchte, ihren Ursprung rational zu ergründen, und war umso überraschter, als seine Hand ganz von alleine den Gebetskranz aus der Tasche zog, ihn auf den Tisch legte und sanft in Toninos Richtung schob.
»Ich danke dir für dein Vertrauen!«
Tonino wirkte begeistert. »Meinen aufrichtigen Dank!«, wiederholte er noch einmal, griff wieder nach seinem Nordwester und zog ihn über. Er nahm das Bier und den Rosenkranz und ging schnell zum Bug. Das Rauschen von Regen, Wind und Wellen, das sich mit dem Tuckern des Bootsmotors vermischte, erlaubte es Siniša nur, die Worte »Deifi … Hölle … Nobody … Verflixt … Amen!« zu vernehmen. Er sah, wie Tonino den Rosenkranz und die Bierflasche in etwas einwickelte, sie weit über Bord warf und dann mit der rechten Hand ein großes Kreuz in die Luft über dem Meer schlug.
»Jetzt bist du gereinigt«, sagte Tonino schwungvoll, als er in die Kajüte zurückkam. »Und außerdem bist du jetzt bereit für ein echtes Drittchen-Bier!«
Er hob die Sitzfläche der Bank, auf der er gerade noch gesessen hatte, an. In der Kiste lagen ein fest zusammengeschnürter Stapel Tageszeitungen und daneben – ordentlich aneinandergereiht – ungefähr zehn Halbliterdosen der australischen Biermarke »Foster’s«. Tonino nahm zwei Dosen heraus, blieb bei der geöffneten Bank stehen und reichte Siniša eine. Verwirrt griff Siniša danach und öffnete sie. Sein Blick aber blieb am Zeitungsstapel haften. Obenauf lag die Ausgabe der Wochenzeitung »Global« von vor zwei Wochen, und über der ganzen Titelseite prangte die Zeile: »Ehemalige Geheimdienstler – die wahren Herrscher von Zagreb?« Siniša wusste nur allzu gut, was sich hinter diesem Titel verbarg. Den Artikel hatte er in der letzten Woche mindestens zehnmal gelesen, und es schien ihm, als hätte er ihn selbst diktiert. Die Geschichte über seinen Fall, darüber, wie man ihm die Kellnerin, den Aktivisten, die Drogen und den Fotoreporter untergeschoben hatte, wirkte bis in die kleinsten Details recht subjektiv erzählt. Umso schmerzhafter wirkte der abschließende Satz: »Dank der aus Geheimdienstlern bestehenden Unterwelt ist seine aussichtsreiche Karriere in der Politik bis auf Weiteres vorbei, und es ist fragwürdig, ob Mesnjak, das Opfer dieses Quasi-Spionage-Hinterhalts, je wieder an seine Arbeit zurückkehren wird, für die er zweifelsohne viel Begabung besaß, aber leider nur einen unzureichenden Instinkt.«
Siniša berührte mit dem Rand der kalten Bierdose seine Unterlippe und zuckte zusammen.
»Danke dir, entschuldige bitte. Und was ist das hier? Sammelst du auf verschiedenen Inseln Altpapier?«
»Nein, aber … Um ehrlich zu sein: Die anderen sammeln es für mich. Die Zeitungen kommen nicht bis nach Drittchen, und auf Zweitchen lebt ein Ehepaar, bei dem ich für kurze Zeit wohnte, als ich auf die Mittelschule ging. Sie haben alle Zeitungen abonniert und heben die Wochenzeitungen für mich auf. Immer wenn ich komme, empfangen sie mich mit einem Päckchen. Da liegt das von heute, eine Dreimonatssammlung. Ich kann es kaum abwarten, das Päckchen aufzuschnüren.«
In Sinišas Kopf fügte sich endlich zumindest ein kleines Puzzle zusammen: Daher hatte Tonino also sein unglaubliches Kroatisch – aus den Zeitungen! Aus diesem fantastischen Mischmasch, in dem – wie es einst der ehemalige Kulturminister ausgedrückt hatte – »die seltenen, etwas gebildeteren Autoren im genetisch modifizierten Konzentrat aus Unbildung und Oberflächlichkeit als Additiv und Konservans fungieren«! Mein Gott, wie würde Tonino erst klingen, wenn diese Leute von Zweitchen auch ihre Tageszeitungen für ihn aufbewahrten.
Siniša trank lustvoll einen Schluck Bier, starrte die Dose an und erinnerte sich an ein Café in der Zagreber Oberstadt, wo er diese Sorte zuletzt getrunken hatte. Željka hatte gerade ihre Magisterprüfung abgelegt, sie hatte etwas unverschämt Ausgeschnittenes getragen, ohne BH darunter, und später hatte sie irgendwie wie ein Mohnstrudel geduftet … Und nun verfiel Siniša in eine romantische Schwärmerei. Binnen einer Sekunde fasste er den Entschluss, die Wahlen auf diesem vermaledeiten Drittchen in höchstens einem halben Jahr zu organisieren, komme was wolle. Diese Zeit würde für seine mentale und physische Regeneration völlig ausreichen, und vielleicht würde die Öffentlichkeit seinen Fall inzwischen sogar vergessen. Vielleicht fände man auch etwas, was ihn vollständig rehabilitieren könnte. Und er würde sechs Monate lang inmitten der Adria meditieren und sich mit den lokalen analphabetischen Schlitzohren herumschlagen. Vielleicht würde er sich ja sogar endlich daran gewöhnen, Fisch zu essen. Željka würde zweioder dreimal für ein Wochenende kommen, und in der Zwischenzeit ließe sich wohl auch irgendeine Inselbewohnerin auftun. Man musste nur vorsichtig sein. Zum hundertsten Mal während der letzten zehn Tage erinnerte er sich an »Mediterraneo«. Er passte die Filmgeschichte ein wenig seiner eigenen Situation an (Herbst und Winter, Einsamkeit und Unwirtlichkeit), und dann lehnte er den Kopf an die Kajütenwand und sank in einen Halbschlaf. Toninos Stimme schreckte ihn auf:
»Hallo, Beautrotto! Siniša!«
»Häh?!«
»Entschuldige, dass ich dich wecke, aber wenn du dich noch bei jemandem melden willst, empfehle ich, das in den nächsten zehn Minuten zu tun. Ich vermute mal, dass du im Besitz eines Mobiltelefons bist.«
»Natürlich.«
»Wir verlassen nämlich das erreichbare Gebiet.«
»Was für ein erreichbares Gebiet? Du meinst für Handys?«
»Richtig. Um genau zu sein: Es handelt sich um alle mobilen Netzwerke.«
»Bist du noch bei Trost? Es muss doch wohl ein Netz geben!«
»Natürlich gibt es ein Netz, sogar ein gutes – und zwar noch sieben oder acht Minuten lang«, erklärte Tonino, während er auf seine Uhr schaute, die auf die Zeitzone von Irkutsk eingestellt war.
»Wie, und auf Drittchen gibt es gar keins? Okay, aber das Festnetz, ich meine die Post oder die örtliche Verwaltung …«
Tonino schloss voller Mitleid die Augen und schüttelte den Kopf. Siniša griff nach dem Handy an seinem Gürtel und starrte es an. Željka? Den Premierminister? Wen?
»Warte mal – das heißt ja, dass dieses Scheißteil überhaupt keinen Wert mehr für mich hat.«
»Noch hat es einen Wert, aber nicht mehr lange.«
»Und ich habe erst vor drei Tagen viertausend Kuna dafür hingelegt, und zwar mit Rabatt! Scheiße, das hättest du mir wirklich früher sagen können, dann hätte ich es zusammen mit dem anderen Mist ins Meer geschmissen … Wieso gibt es denn kein Netz?«
Tonino zuckte mit den Schultern.
»Wir sind sehr abgelegen, ein anderer Grund ist mir nicht bekannt.«
»Und das italienische Netz? Ich meine Roaming oder so?«
Tonino setzte einen Nie-davon-gehört-Gesichts-ausdruck auf und schüttelte erneut den Kopf. Siniša blickte auf das Display seines Handys. Das Symbol für die Signalstärke zeigte nur noch einen Balken. Er begann, schnell eine Nachricht zu schreiben. »Rette mich von hier! Ganz egal w…« Doch als er den nächsten Buchstaben schreiben wollte, merkte er, dass auch der letzte Balken nur noch ganz schwach flackerte.
»Wende das Boot!«, rief er. »Fahr ein Stück zurück!«
Tonino stürzte zum Bug, sah sich um und kam zurück.
»Das geht nicht, der Sturm wird heftiger. Es besteht die Gefahr, dass uns während des Manövers eine Welle zum Kentern bringt.«
»Red keinen Scheiß! Dreh um! Fahr rückwärts, verflucht noch mal!«
»Siniša, jetzt bin ich für dich verantwortlich. Ich darf es nicht. Stoß mich ins Meer und mach dann, was du willst, aber solange ich hier bin, steht die ›Adelina‹ unter meinem Kommando.«
Siniša drehte sich resigniert einige Male um die eigene Achse. Er wusste nicht, wohin er schauen sollte. Dann besann er sich und drückte mehrere Male hintereinander auf die Sende-Taste seines Handys, das ihm ebenso oft mit der Mitteilung »Address« antwortete. Er fummelte hektisch herum, bis er in seinem Adressverzeichnis »Zzeljka« gefunden hatte, drückte »OK« und dann wieder »Send« und starrte gebannt auf das Display. Nach einigen Sekunden erschien die Mitteilung »Message sent«. Erleichtert atmete er ein-, zwei-, dreimal aus. Für ein paar Augenblicke ließ er den Kopf entspannt hängen, aber dann schreckte er auf, als hätte ihn ein Stromschlag erwischt:
»Warte mal, das heißt also, es gibt weder Internet noch E-Mail?«
Obwohl Tonino mit dieser Situation bereits ziemlich viel Erfahrung hatte, war sie ihm immer wieder unangenehm. Mit ehrlichem Unbehagen schaute er Siniša direkt in die Augen:
»Genau.«
Siniša richtete seinen müden Blick auf eine der Reisetaschen: auf diejenige, in der sein mühsam im Landwirtschaftsministerium ergatterter Laptop verstaut war.
»Wie lange ist es noch bis zu deiner Insel?«
»Sagen wir mal zwei Stunden, vielleicht zweieinviertel Stunden.«
»Hast du hier eine Decke?«
»Natürlich.«
Siniša zog seine Jacke aus, griff sich die beiden Decken, die Tonino ihm reichte, deckte sich zu und rollte sich auf der Bank zusammen, das Gesicht zur Kajütenwand gerichtet.
»Du wirst mich gewiss anlässlich unserer Ankunft in Arkadien wecken«, murmelte er so zynisch er konnte.
»Ganz gewiss, ganz gewiss«, antwortete Tonino dienstbeflissen.
Der riesige Hai schwamm wütend im Kreis herum und warf aus seinen hervortretenden Augen wilde Blicke in alle Richtungen. Noch nie war er so hungrig und so gefährlich gewesen. Ungefähr zehn Meter über ihm schimmerte weißlich die Meeresoberfläche, doch plötzlich wurde sie von einem Etwas, das einer schwarzen Kette mit einem Anhänger ähnelte, durchstochen. Der Hai zog sich ein wenig zurück, wich zur Seite und wartete, bis der ungewöhnliche Gegenstand bis auf seine Höhe gesunken war. Als er den Rosenkranz erkannte, verwandelte ein zufriedenes Lächeln sein starres, vor Hunger verkrampftes Maul, das sich weitete und dann aufsperrte, als wolle der Hai einen Tanker und nicht nur eine Gebetskette verschlingen. Das Gesicht unseres Heilands auf dem winzigen Kruzifix war Sinišas Gesicht, die Augen in unsagbarem Schrecken weit aufgerissen …
Siniša fuhr hoch, warf die Decke von sich und setzte sich so plötzlich aufrecht, dass Tonino für einen Augenblick vor Schreck erstarrte.
»Ah, Ah … Ahaa …«, schnaubte der Regierungsbeauftragte. »Oh Mann, oh Mann, was für ein Traum … Verflucht, was für ein Traum, das kann doch nicht wahr sein ….«
»Ist schon gut, schon gut … Es ist alles in Ordnung. Gerade haben wir die Bucht von Drittchen erreicht.«
Noch immer schlaftrunken, blickte Siniša durch das von Wassertropfen trübe Bullauge. Er bemerkte keinen Unterschied, nur das Meer war jetzt bedeutend ruhiger.
»Sind wir da?«, fragte er.
»Bald, noch etwa zehn Minuten.«
»Hast du einen Spiegel? Hast du ein Klo?«
»Der Spiegel ist in der Bank unter dir und die Toilette – was soll ich sagen, ich erledige das vom Heck aus.«
»Und ein Klo hast du nicht?«
»Hier auf der ›Adelina‹ nicht. Es ist nicht nötig. Allerdings würde ich dir nicht empfehlen, das ausgerechnet jetzt zu erledigen. Es wäre ratsamer, sich noch eine halbe Stunde zu gedulden.«
Achtlos faltete Siniša die Decken zusammen, legte sie auf das Tischchen und klappte die Sitzbank auf. Der Spiegel war nicht in der Bank, sondern auf der inneren Deckelseite. Er warf dem lächelnden Tonino einen resignierten Blick zu, kniete nieder, schob seine Unterschenkel unter das befestigte Tischchen und begann, sich in diesem merkwürdigen Spiegel zu rasieren. Tonino trat auf das Heck und reduzierte das Motorengeräusch auf ein angenehmes Brummen.
Siniša klappte den Deckel mit dem Spiegel zurück, ging um das Tischchen herum, holte sich eine neue Dose »Foster’s« aus der Bank auf der gegenüberliegenden Seite und trat dann auch selbst aufs Deck.
»Do isser! De nju Beautrotto vons Drittchen! Douch de best bishero!«, rief Tonino und erreichte in drei Sprüngen den Schiffsbug.