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C:My Documents/PRIVAT/Bonino und Tonkica.doc

Tonino sagt, dass es folgendermaßen gelaufen ist: Bonino Langfuß und Tonkica Jeronimić hatten sich auf den ersten Blick verliebt, an jenem weit zurück liegenden Tag, an dem sie ins Meer gesprungen war, und zwar vom Deck des kleinen Dampfers »Obilić«, nicht einmal eine Minute, nachdem dieser sich, überfüllt mit armen Menschen, im Hafen von Erstchen auf den Weg nach Griechenland gemacht hatte, von wo sich damals viel größere Gruppen armer Menschen mit viel größeren Dampfern nach Australien aufmachten. Tonkica war erst zehn Jahre alt: Sie war mit ihren Eltern von Zweitchen nach Erstchen gekommen, um ihren älteren Bruder Zorzi zu verabschieden, und dann hatte ihr Vater von hinten ihre Hüften gepackt, sie auf den Hinterkopf geküsst, angehoben und, ohne sie oder die Mutter zu fragen, buchstäblich in die Höhe geworfen, und zwar in dem Moment, als die Seeleute schon die Taue an Deck zogen, direkt in die Arme des verwirrten, weinenden Zorzi, der sich weit über die Reling gelehnt hatte. So waren die Zeiten, es gab Eltern, die selbst viel kleinere Kinder im letzten Moment auf ähnliche Schiffe warfen, nicht selten in die Arme von irgendjemandem, der an der Reling stand. Der Hunger und das Elend trieben die verzweifelten Menschen zu solchen Taten, die unerträglich schmerzhaft, aber auch grausam rational waren. Egal, wie viel sie auch litten, sie wussten, dass es das Beste war, was sie ihren Kindern zu bieten hatten. Ja, solche Zeiten gab es.

Tonkica mochte Zorzi nicht besonders. Man könnte sogar sagen, dass es ihr irgendwie entgegenkam, dass ihr älterer Bruder irgendwohin ging, von wo er vielleicht nie wieder zurückkehren würde. Tonkica liebte ihre Mutter, ihren jüngeren Bruder und ihr zweijähriges Schwesterchen, und ihren Vater betete sie – in übersteigerter Liebe – regelrecht an. Als ihr Bruder sie aufgefangen und auf dem Deck der »Obilić« abgesetzt hatte, schrie sie heftiger und schmerzvoller auf als in der Nacht ihrer Geburt. Erschrocken sah sie, wie der Vater über den Kai in Richtung Wirtshaus eilte und sich dabei mit den Fäusten gegen den Kopf schlug. Die Mutter stand noch immer wie versteinert an derselben Stelle und presste sich die Hand vor den Mund, während die beiden Kinder tränenüberströmt versuchten, an ihr hochzuklettern. Tonkica riss sich aus Zorzis Umarmung los, rannte durch die Menge aus weinenden Männern, Frauen und Kindern und stolperte über die herumliegenden Bündel, Kisten und Koffer. Sie drehte sich kein einziges Mal um, und als sie das Heck erreichte, sprang sie über die Reling und stürzte sich ins Meer. Nicht um zum Ufer zu schwimmen, denn sie konnte gar nicht schwimmen, sondern um zu sterben.

Der dreizehnjährige Bonino Langfuß stand auf einer Gajeta und winkte seinem Vater zu. Seine Mutter war zu Hause auf Drittchen geblieben, und er, sein Vater und sein Onkel waren einen Tag und eine Nacht lang unterwegs gewesen, mal segelnd, mal rudernd, damit Bonino der Ältere das Schiff nach Australien erreichen konnte, wo er – so hatte er versprochen – nicht einen Tag länger als drei Jahre bleiben wollte. Hals, Kiefer und das ganze Gesicht waren dem kleinen Bonino vom krampfhaften Unterdrücken der Tränen steif geworden, während er winkte und auf den Wellen schaukelte, die die »Obilić« hinterließ. Und dann bemerkte er ein Mädchen, dass über die Heckreling kletterte und ins Meer sprang. Sie fiel irgendwie ungeschickt, wie eine Leiche, und Bonino war sofort klar, dass die Kleine so etwas noch nie getan hatte und dass sie sicher ertrinken würde. Im Nu warf er seine Mütze ab, streifte die Schuhe von den Füßen und schnellte sich vom Boot.

»Boni, no no, pass ouf, propello!«, rief der Onkel, doch der Junge hörte ihn nicht mehr. Er schwamm und weinte, tauchte und schluchzte, bis er das Mädchen erblickte, das bereits leblos auf den Hafenboden sank, langsam, als wolle es sich ausruhen. Er erwischte sie am Haarzopf, zog sie an die Oberfläche und war mit ihr zum Ufer geschwommen, bevor die Boote die beiden erreichten.

»Tonki, Tonki, Tonki!!!«, schrie die Mutter. Und die Kleine spuckte Wasser, verdrehte zweimal die Augen und blickte dann ganz ruhig und irgendwie zärtlich in Boninos nasses Gesicht, an dem Haarsträhnen klebten:

»Biste mio Angelo – oda biste mio Deifi?«

Nachdem der Vater das Schiff genommen hatte, war Bonino der älteste Mann im Haus und musste arbeiten, als sei er kein Junge mehr. Er ging fischen, half der Mutter im Garten und im Weinberg, arbeitete als Tagelöhner in Weinbergen und Olivenhainen, assistierte Schiffsbauern und Maurern. Am liebsten mochte er es, wenn er eine Arbeit auf Zweitchen fand, denn dann konnte er einige Tage dort bleiben und sah Tonkica jeden Abend in der Kirche und nach der Messe. Bald waren jene drei Jahre vergangen, und der Vater war nicht zurückgekommen. Bonino wuchs zu einem knochigen, zähen jungen Mann heran. Noch einmal vergingen drei Jahre, und Tonkicas Blicke begannen, ihn immer länger, tiefer und merkwürdiger zu durchbohren. Obwohl die Bewohner von Zweitchen ein wenig steife und verschlossene Menschen waren, sahen sie mit Zärtlichkeit und Wohlwollen auf diese jugendliche Romanze, denn sie erinnerten sich an jenen Tag, an dem der mutige Bonino die verzweifelte kleine Tonkica gerettet hatte. Außerdem – darüber sprach niemand, aber alle hatten es im Sinn – konnte diese Ehe dazu verhelfen, endlich die zehnjährige Fehde um die Weinberge der Bewohner von Zweitchen auf Drittchen zu überwinden.

»Domani io ge nach Erstchen, um Ring per te zu holn«, flüsterte eines Abends Bonino, während er Kiefernnadeln aus Tonkicas offenem Haar suchte und sie ihre Bluse zuknöpfte. »Domani Ring, e per Natale Ehring.«

Sie blickte ihn an wie beim ersten Mal, ruhig und zärtlich.

»Mio Angelo«, sagte sie langsam und überzeugt, endlich sicher auf dieser Welt, und dann umarmte sie Bonino, als wollte sie in ihm ertrinken, als hätte er sie erst jetzt gerettet.

Am nächsten Morgen stand sie mit dem ersten Sonnenstrahl auf und eilte überglücklich zum Hafen, um ihm eine gute Fahrt zu wünschen, doch Boninos Boot war nicht mehr in Sicht. Er war also noch im Dunkeln nach Erstchen aufgebrochen, um den Verlobungsring für sie zu besorgen.

Weder am nächsten noch am übernächsten Tag kam er zurück. Er kam nie mehr zurück. Zwei Tage nach seinem Verschwinden fanden Verwandte von Tonkica auf Drittchen Boninos Boot, ordentlich im Hafen von Erstchen vertäut, doch niemand von den Ortsansässigen, weder der Goldschmied noch die Gendarmen, konnte sich an den gutaussehenden jungen Mann erinnern, und zwar weder anhand der Beschreibung noch anhand des Namens. War er auf dem Meer verschwunden oder war er weiter ins Landesinnere gefahren, hatte ihn jemand erschlagen und ausgeplündert, würde er zurückkehren? All diese Fragen und alle denkbaren Antworten darauf strampelten schneller und schmerzhafter in Tonkicas Kopf als das Kind in ihrem Leib. Tante Marta, ihre beste Freundin, der sie ihr trauriges Geheimnis anvertraute, nannte ihr auf der Stelle zwei zuverlässige Arten, um die Schwangerschaft in einem frühen Stadium abzubrechen. Doch Tonkica hatte sich entschlossen, das Kind zu behalten.

»Io weiß, dat nessuno wissen wird, ma io non posso mio Blag gebn«, stellte sie fest und verbat sich jedes weitere Gespräch zu diesem Thema.

ERINNERUNGEN FÜR SPÄTER:

Sie gebar ein wunderschönes Mädchen und nannte es Bonina. Sie wartete auch weiterhin voller Hoffnung.

Als die Kleine anderthalb Jahre alt war, kam Tonkicas Bruder Zorzi zum ersten Mal nach Hause. Er prahlte schon im Hafen damit, wie gut es ihm in Australien ergangen sei, und gab allen Versammelten das folgende Rätsel auf: »Ratet mal, wer mein Chef ist! Kein anderer als – Bonino Langfuß! Er ist vor zwei Jahren angekommen und hat es schon zum Vorarbeiter im Bergwerk gebracht. Und nicht nur das, er hat auch die einzige Adoptivtochter des Besitzers geheiratet!« Alle schwiegen, und Zorzi zog einen zusammengefalteten Zeitungsausschnitt aus seinem Geldbeutel aus Krokodilleder und faltete ihn direkt vor Tonkica auseinander: Auf dem Foto sah man Bonino in Arbeitskluft, mit einem Hut, den er sich auf den Hinterkopf geschoben hatte. Er stand vor einem Riesenauto, und neben ihm eine elegante, aber nicht besonders schöne Blondine mit einem Baby von ein oder zwei Monaten auf dem Arm.

In dieser Nacht verklebte Tonkica der kleinen schlafenden Bonina zärtlich Arme und Beine, Augen und Mund und warf sie ins Meer. »Geh dann anche tu!« Zorzi ergraute und verlor in derselben Nacht den Verstand.

Seitdem emigriert keiner mehr von Zweitchen nach Australien, sondern nur noch nach Amerika, alle verfluchen sowohl Australien als auch Drittchen. Seit Jahrzehnten hat keiner von den Bewohnern Zweitchens den Boden von Drittchen betreten, und wenn jemand von Drittchen auf ihre Insel gelangt, versuchen sie ihn voll und ganz zu ignorieren.

WICHTIG: BEI TONINO ODER IRGENDWO ANDERS DIESEN SELTSAMEN DIALEKT PRÜFEN.

Tonkica wurde wegen Kindsmords zu elf Jahren Haft verurteilt und trat dann in ein Klarissinnenkloster ein. In hohem Alter kam sie nach Zweitchen zurück. Alle ihre Verwandten waren da schon lange tot. Sie schweigt: Spricht kein Wort und richtet ständig böse Zauberflüche gegen Drittchen. Bisher ohne Erfolg.


Siniša nahm die Finger von der Tastatur des Laptops, griff langsam nach den Zigaretten und dem Feuerzeug und vertiefte sich in seinen ersten Eintrag. Schreckliche Geschichte, ganz grausam.

Morgen würden es anderthalb Monate sein, dass er nach Drittchen gekommen war, und er stand immer noch am Anfang, ohne jegliche Resultate. Alles schien in Bewegung zu sein und, wenn auch vielleicht im Kreis, vorwärts zu schreiten, alles außer seiner Hauptaufgabe, deretwegen er hierhergekommen war. Zwei Wochen lang hatte er versucht, die Bewohner von Drittchen dazu zu bewegen, wenigstens zwei Parteien zu gründen, wenigstens zwei. Die aber wiederholten ständig, dass sie keine Parteien haben wollten, dass diese nur Zwist unter den Menschen säen und das Pharisäertum fördern würden. Erst als er begonnen hatte, die Versammlungen aller Einwohner zu jeder vollen Stunde einzuberufen, vor der Kirche, ganz egal vor welcher, und zwar indem er damit drohte, das Militär und die Militärverwaltung zu Hilfe zu rufen, kamen zwei Männer auf ihn zu und sagten, dass sie es nun geschafft hätten, die DP, die Demokratische Partei, und die TALP, die Tert Ajland Lejbar Parti, zu gründen. Die mit voreiligem Stolz und Hoffnung garnierte Erleichterung, die der Regierungsbeauftragte verspürte, hielt allerdings nur wenige Sekunden an.

»Ma nessuno woul Member werden!«, sagten beide Parteivorsitzenden gleichzeitig, wobei sie ehrliche Besorgnis vorspiegelten.

Wie sollte er legale Wahlen mit Parteien ohne Mitglieder organisieren? Wer würden die Kandidaten sein? Nur diese beiden Schlitzohren? Zehn Tage wartete er darauf, dass sich irgendjemand auf seine handgeschriebene Anzeige hin meldete, die Tonino gewissenhaft an jeder Fassade entlang des Places angebracht hatte, und Mitglied in einer der beiden Parteien wurde. Es meldete sich keine Menschenseele, und dann fiel ihm ein, dass diese unglücklichen Parteien selbst dann, wenn sich ihnen jemand anschließen würde, irgendwie registriert und legalisiert werden müssten. Deshalb hängte er eines Morgens die Aushänge ab und tauschte sie gegen neue aus. Es waren Einladungen zur Gründung unabhängiger Listen. Die unabhängigen Listen waren bedeutend leichter einzutragen, es waren viel weniger Formalitäten notwendig, vor allem in Anbetracht der Abgeschiedenheit dieser lokalen Selbstverwaltungseinheit. Bartul Nassfuß, Gründer, Präsident und einziges Mitglied der TALP, kam gleich am folgenden Tag zu Siniša und brachte ihm einen Zettel mit den zehn Kandidatenunterschriften seiner unabhängigen Liste TAIL, der Tert Ajland Independen List. Doch in den darauffolgenden Tagen geschah genau das, womit Siniša irgendwo in den hintersten Windungen seines Kleinhirns gerechnet hatte: Niemand tauchte mit einer zweiten Liste auf. Der alte Simpson hatte also niemanden, mit dem er hätte wetteifern können, was vermutlich der Hauptgrund für seine blitzschnelle Anmeldung gewesen war. Dieses Gesindel, alles Saboteure! Die Frist für die Anmeldung der unabhängigen Listen lief am folgenden Mittag aus, und mit jedem Ticken der Uhr wurde deutlicher, dass auch dieser Plan immer näher auf sein wenig ruhmreiches Ende zusteuerte.

Dieses Ticken seiner Armbanduhr hörte Siniša nun ständig. Einen Tag nach der ersten Versammlung auf dem Place hatte er begonnen, seine Arbeitszeit (von 9 bis 13 Uhr und von 16 bis 19 Uhr) in dem Büro des Regierungsbeauftragten zu verbringen, in der ersten und einzigen Etage des Dorfgemeinschaftshauses, das sich in der ehemaligen Schule befand, einem schmalen, langgestreckten Gebäude am Ausgang des Dorfes, hinter dem Heilopoli. Unten im Erdgeschoss befand sich in den beiden früheren Klassenräumen ein Gemischtwarenladen, in dem all das angeboten wurde, was die italienischen Schmuggler, die Bonino beziehungsweise seine Foundeischn aus Australien bezahlte, jeden Freitag auf ihren Schnellbooten herbeischafften. Das Geschäft, in dem man alles nur Denkbare kaufen konnte, und zwar zu einem Preis, der unter dem Einkaufspreis lag, leitete Espero Nassfuß, genannt Flinky, ein unglaublich langsames Großväterchen von mindestens achtzig Jahren. Doch so langsam sein Körper auch war, sein Gehirn funktionierte wie bei einem Jüngling, so dass niemand auf die Idee kam, ihn durch jemand Jüngeren und Eilfertigeren zu ersetzen; ungeachtet der Tatsache, dass Flinky die Rechnungen mit der Hand schrieb und sich das einige Minuten hinziehen konnte – und dass die Bestellungen, die für die nächste Lieferung der Italiener aufzugeben waren, zuerst im Drittchendialekt und dann auf Italienisch, sogar noch länger dauerten. Vor dem Eingang in das Dorfgemeinschaftshaus wuchsen vier Bougainvilleen, durch deren Kronen sich wilder Wein rankte. In ihrem wohltuenden Schatten befand sich mit einem vier Meter langen Holztisch der einzige öffentliche Treffpunkt der Bewohner von Drittchen. An der Tischkante waren alle vier Handlängen Flaschenöffner angebracht – solche, die man sonst in Bars hat, man schiebt die Flasche hinein, ein Ruck und der Kronkorken ist ab. Flinky servierte hier nämlich nur Flaschenbier: Bereits Ende der siebziger Jahre hatte er festgestellt, dass es viel leichter war, die Kronkorken zu sammeln und die Flaschen zurück in die Kisten zu stellen, als sich mit Dosen herumzuplagen und volle Säcke zur Starmica zu schleppen, einer bodenlosen Grube, in die seit jeher der Müll von Drittchen entsorgt und die nie voll wurde. Außerdem mochte die Mehrheit der Männer Flaschenbier, »bateld Bia«, lieber als Dosenbier, »kend Bia«.

Das leichte Rumoren der Gesellschaft vor dem Gemeinschaftshaus störte Siniša überhaupt nicht – ganz einfach deshalb, weil er es gar nicht hörte. Als Büro war ihm nämlich das Lehrerzimmer auf der ersten Etage überlassen worden, das zur anderen Seite des Gebäudes hinaus ging. Nach ganz hinten, mit Fenstern zum Friedhof und zu den Weinbergen. Die einzigen Anzeichen des Lebens da draußen, die er von hier aus bisweilen sehen konnte, waren kleine Schaf- und Ziegenherden, die – meist mit einem Großmütterchen als Nachhut, häufig jedoch ohne jede Aufsicht – auf dem Pfad zwischen Weinreben und Kreuzen dahertrotteten und hinter dem Berg im Landesinneren verschwanden. Zurück ging es dann am frühen Abend. Alle anderen Räume auf der Etage waren verschlossen, einer sogar mit zwei Vorhängeschlössern. Ein doppelt isolierter Kader, so beschrieb Siniša in einer seiner Notizen sich selbst: Nicht nur, dass er auf dieser Insel vom Rest der Welt abgeschnitten war, auch die Inselbewohner trennten ihn von sich ab, indem sie ihn auf diese Seite des Gebäudes verbannten. In langen, leeren Stunden voller Erwartung und voller Hoffnung darauf, dass sich vielleicht doch noch irgendjemand für die beiden Inselparteien anmelden würde, und später, dass eine zweite unabhängige Liste gegründet würde, beschäftigte sich der Beauftragte zunächst mit dem Verfassen von Notizen über seine Arbeit, später mit Computerspielen auf dem Laptop und schließlich mit lustlosem Aus-dem-Fenster-Starren, um sich dann endlich dazu zu entschließen, Geschichten und Eindrücke von Drittchen aufzuschreiben. Vor der unvollendet gebliebenen Erzählung »Bonino und Tonkica« hatte er nur die ebenfalls unvollendete Geschichte »Die humanitären Mafiosi« über die Italiener geschrieben, die jeden Freitag mit dem bestellten Proviant auf die Insel kamen, manchmal mit einem flachen Schnellboot, meist aber mit zwei Booten. Die Beschreibung ihrer Physiognomien und ihrer Körperhaltung war ihm ganz hübsch gelungen, und noch hübscher – oder zumindest effektiver – das unkomplizierte Verhältnis, das sie zur kroatischen Küstenwache pflegten, die auf ihre Art mit ihnen Handel trieb: Im Austausch für Informationen über größere Schmuggelhaie und illegale Fischer erlaubten die Küstenwächter diese begrenzten Schmuggelaktionen auf das harmlose Drittchen nämlich. Ja, das war eine gute Geschichte. Siniša wollte sie gerade noch einmal lesen und ein effektvolles Ende schreiben, als er bereits das wohlbekannte Klopfen an seiner Bürotür hörte. Tock! Tock-tock!

»Komm rein, Tonino«, sagte er mit müder Stimme.

»Beautrotto, ich habe zwei Neuigkeiten. Präziser gesagt: eine gute und eine schlechte«, legte Tonino ohne Begrüßung los.

»Ja?«, erwiderte Siniša müde und starrte weiter auf seinen Bildschirm.

»Welche möchtest du als erste hören?«, fuhr Tonino fort, stolz wie Oskar, da er zum ersten Mal auf eine historische Situation zusteuerte.

»Na dann, zunächst die gute, obwohl ich keine Ahnung habe, was hier gut sein könnte …«

»Wir haben eine zweite Liste!«, schoss es blitzschnell aus Tonino heraus. Sein Gesicht strahlte.

»Willst du mich verarschen!? Das ist doch wohl nicht dein Ernst?!«, begeisterte sich der Beauftragte. Endlich wandte er sich seinem engsten Mitarbeiter zu. »Eine zweite Liste? Eine zweite unabhängige Liste für die Wahlen?«

»Freilich!«

»Mein Gott, das ist ja phänomenal! Und wer ist es? Wessen Liste ist es, wer steht dahinter?«

»Selim Ferhatović«, antwortete Tonino in demselben stolzen Tonfall.

Siniša schreckte jählings auf.

»Tonino … Mein Übersetzer – viel mehr noch, mein amtlicher Übersetzer – fängst du jetzt auch an, mich auf den Arm zu nehmen? Was für ein Slimplim? Und wie weiter? Fer… – wie?«

»Nicht Slimplim, sondern Selim. Selim Ferhatović. Ein Zugezogener. Seines Zeichens Bosnier – ein Moslem. Er ist vor einem Jahr hierhergekommen. Zuerst gab es ein paar Missverständnisse, aber er hat sich sehr schnell eingelebt.«

Der Beauftragte setzte sich wieder und starrte auf den Riss in der Wand unter dem Fenster. Beide schwiegen eine halbe Minute lang.

»Nun gut«, begann der Beauftragte schließlich, sobald der »wahre Siniša« besiegt an Toninos Fersen vorbei unter der Tür hindurch entschlüpft war. »Ist dieser Ferhatović an sich schon die schlechte Nachricht? So scheint es mir jedenfalls. Oder gibt es eine noch schlechtere?«

»Leider ja. Er sagt, dass er seine Liste nur dann aushängen wird, wenn man es ihm ermöglicht, schon vor den Wahlen eine Koalitionsabsprache mit Bartuls TAIL zu vereinbaren.«

»Sag das bitte noch einmal, aber ganz langsam, Tonino …«

»Hm, also Ferhatović hängt seine Liste nicht aus, wenn ihm nicht erlaubt wird, noch vor den Wahlen mit der einzigen konkurrierenden Liste zu koalieren.«

In diesen anderthalb Monaten hatte Siniša bereits unzählige Male gedacht, dass es am besten wäre, Drittchen zu verlassen, alles hinzuwerfen und sein Leben in Zagreb fortzusetzen, so wie er es gewohnt war. Doch sobald ihm solche Gedanken in den Sinn kamen, erinnerte er sich daran, dass das nicht mehr annähernd jenes Leben sein würde, das er in seiner Erinnerung trug. In der Partei würde ihn niemand mehr achten und der Chef würde ihn bestenfalls auf einen Posten unter ferner liefen abschieben, so als hätte es diese fünfzig Tage nach der Affäre nie gegeben … Der Wechsel zu einer anderen Partei, egal ob sie sich in der Koalition oder der Opposition befände, wäre ebenfalls äußert fragwürdig: Selbst wenn ihn jemand aufnähme, ohne der frischen Last seines verheerenden Falls Beachtung zu schenken – welche Position würde ihm schon zuteil werden? Sicher keine verantwortungsvolle oder zumindest symbolisch wichtige. Was auch immer er tun würde und egal wohin er gehen würde, so schloss er jedes Mal, seine Situation wäre wahrscheinlich noch weniger vorteilhaft als hier. Also dann …

»Okay, sag mir, was für ein Spiel spielt dein Slimplim aus Bosnien?«, fragte er nach längerem Schweigen.

»Tja, das würde ich auch gerne wissen. Bisher hat er sich nie blicken lassen. Er kam direkt, nachdem das Mandat deines Vorgängers abgelaufen war, des siebten Beautrotto, und … Nein, warte mal, direkt danach oder direkt davor … Hm.«

»Ey! Hey, Tonino! Hallo!« Der Beauftragte sprang erschrocken vom Stuhl auf. »Hey, versink mir jetzt bitte nicht, das ist definitiv das Letzte, was ich in dieser Situation brauchen kann. Hörst du mich? Hörst du mich, verflucht noch mal?!«

»Natürlich höre ich dich. Was hast du denn?«

»Nichts, sorry, Entschuldigung. Hör mal, wann könnten wir diesen Bosnier mal besuchen?«

»Was mich betrifft, jederzeit.«

In weniger als einer Minute hatten sie sich auf den Weg gemacht, aber auf der Zwischenetage über dem Erdgeschoss blieben sie doch eine Viertelstunde stehen, genau an der Stelle, an der Tonino, der vor langer Zeit hier zur Schule gegangen war, die Erinnerung an eben diese Schulzeit überkam.

Der achte Beauftragte

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