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Finding Europe Vorwort

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Ach, Europa - mit diesem Seufzer im Titel ist im Jahr 2008 ein Band mit Essays von Jürgen Habermas erschienen. Das Europa von Habermas ist die „alte Welt“, in der die re:publica das „Neue“ entdecken will. Aber wie ist sie, die alte Welt? Folgt man Habermas und seinen Kollegen, ein Kontinent, der als Ort der Demokratie und Selbstbestimmung, der politischen Vernunft und der Einsichtsfähigkeit der Bürger, ein Gegengewicht zur übermächtigen USA darstellt. Seither sind sieben Jahre vergangen. Sieben Jahre, in denen sich Europa zwar nicht grundsätzlich verändert, aber doch weiter entfernt hat von dem Stabilitätsfaktor, den Habermas diagnostiziert hat.

Wir wissen heute dank Edward Snowden, dass die NSA ganz Europa ausspioniert hat. Wir wissen seit einigen Tagen, dass dies wahrscheinlich mit Wissen, Einwilligung und mit Hilfe der deutschen Regierung passiert ist. Der Grundsatz der Souveränität und Integrität der alten Welt ist grundlegend verletzt. Europas Gründungsimpuls, den Frieden zu sichern durch enge Partnerschaft und Verflechtung, ist seit der Invasion der Russen auf der Krim verletzt. Der Krieg ist an Europas Grenzen herangerückt. Die Staaten der EU sind sich nicht im Mindesten darüber einig, wie hart Russland zu bestrafen ist.

Europa macht seine Grenzen dicht. Die EU schaut einer Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer zu. Mitmenschlichkeit und Humanität haben keine Chance gegen die materiellen Egoismen der Mitgliedsländer. Die alte Welt ist ohne Solidarität eigentlich nicht zu denken. Aber wo bleibt sie im Falle des notleidenden Griechenlands?

Wir sehen den Grundkonsens Europas an vielen Stellen verletzt. Und doch gibt es weltweit keinen Kontinent, auf dem mehr Ordnung, Berechenbarkeit und Stabilität herrscht. Das kann nicht hoch genug geschätzt werden. Und das gilt es, in die neue Welt zu retten. Aber was heißt das? Als die Kanzlerin vor einiger Zeit vom Netz als „Neuland“ sprach, erntete sie Spott, von allen, die sie missverstehen wollten. Bei allem was Europa, das alte Europa, ausmacht, ist das Netz Neuland. Es ist ungeregelt, undemokratisch, willkürlich, unberechenbar. Seine Schwarmintelligenz kann genauso gut eine Schwarmdummheit sein. Es kennt kein Maß und kein Ziel. Es lässt guten Absichten so viel oder wenig Raum wie den Hassreden, den hate speeches. Es ist wild und ungezügelt und erinnert an die Frühzeit der Industrialisierung, als niemand der Macht des Kapitals Grenzen setzte oder Regeln aufzwang.

Noch ist nicht ausgemacht, wer der Käpt`n im Chaos des Netzes wird. Es ist eine Illusion zu glauben, dass jeder Einzelne Herr seiner Daten sein kann. Nationalstaaten werden es auch nicht sein können. So wenig wie das Finanzkapital sich noch an Grenzen hält, tut es das Netz. Eine Weltregierung aus aufgeklärten Bürgern? Das wäre eine schöne Vorstellung. Noch scheint sie illusorisch. Aber das alte Europa ist auch aus den Trümmern einer untergegangenen Welt entstanden.


Brigitte Fehrle,

Chefredakteurin Berliner Zeitung

Facebook.com/brigitte.fehrle

re:publica Reader 2015 – Tag 1

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