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Der Adel

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Inhaltsverzeichnis

Die Edda erzählt, daß Heimdall, einer der Asen, als er einst am Strande des Meeres sich erging, auf menschliche Wohnungen stieß, dort einkehrte und in drei Nächten mit drei verschiedenen Frauen Kinder zeugte. Der Sohn der geringsten wurde ein Sklave, der Sohn der mittelmäßig Begüterten wurde ein Bauer, der Sohn der vornehmen Frau ein Jarl oder Adaling. Der Sklave oder Thräl hatte schwarze Haare, krummen Rücken, gelbliche Haut, der Jarl, dessen Mutter weißer als reiner Schnee glänzte, war blondhaarig, hatte schöne Wangen und blitzende Augen. Wenn auch langdauernde schwere Arbeit und grobe Ernährung den Rücken beugen und die Haut härten kann, so möchte man doch aus dieser Sage schließen, daß die Sklaven der Germanen Angehörige unterworfener Völker waren, als Fremde niederer Art geringgeschätzt. Alle germanischen Stämme außer den Friesen unterschieden einen Adel, Freie von verschiedener Abstufung und Hörige, die gleichfalls in verschiedener Beziehung zu ihren Herren standen. Der Adel war durch das doppelte Wergeld der Freien ausgezeichnet, übrigens standen die Rechte der Freizügigkeit, Schildbürtigkeit, das Fehderecht, das Recht echtes Eigentum zu besitzen, das Recht nur von seinesgleichen gerichtet zu werden, dem freien Manne ebenso wie dem Adligen zu. Der Ursprung des Adels verliert sich im Dunkel der Anfänge; vielleicht entstand er dadurch, daß gewisse Familien, die sich im Kriege, im öffentlichen Leben und etwa auch durch Schönheit auszeichneten, mit den Göttern verknüpft gedacht wurden. Es ist auffallend, wie die Geschichtsschreiber die Schönheit der Personen, von denen sie erzählen, ausführlich beschreiben; besonders von den Kaisern wird der hohe Wuchs, die edle Haltung, das blonde Gelock, der feurige Blick gerühmt, augenscheinlich nicht nur als etwas dem Auge Wohlgefälliges, sondern auch als Wahrzeichen edler Geburt. Von Otto IV., der sich durch geistige Gaben nicht hervortat, wurde angenommen, daß er die fürstlichen Wähler durch seine schöne große Gestalt bestochen habe. Auch an den Mönchen wurde Schönheit als etwas Preiswürdiges hervorgehoben, und mit Staunen wurde vermerkt, wenn gerade im unansehnlichen oder entstellten Körper ein hoher Geist wohnte, wie das bei Hermannus Contractus, bei Walafried Strabo in so hohem Maße der Fall war. Noch jetzt finden sich in Niedersachsen hochgewachsene Menschen mit lichtem blondem Haar und eigentümlichem, Raum und Körper durchbohrendem Seemannsblick der blauen Augen; vielleicht sah so der sächsische Adel in wohlgelungenen Exemplaren aus. Von Adalhard, einem Vetter Karls des Großen, der eine sächsische Mutter hatte, sagten seine Schüler, daß sie vor dem furchtbaren Flammenblick seiner Augen gezittert hätten. Unter den Franken fiel die Eigenart des Mannes auf, der schweigsam und gern allein, unbeugsam fest in seinen Überzeugungen war und Zuverlässigkeit als höchste Tugend schätzte. Der Stolz war bei den Sachsen noch mehr ausgeprägt als bei den anderen deutschen Stämmen: sie waren stolz auf ihre Heimat, stolz auf ihre Geschichte, stolz auf ihre Abkunft. Das Christentum hat diesen Stolz nicht ausgetrieben. Die wegen ihrer Frömmigkeit einer Heiligen gleich geachtete Königin Mathilde berief in das Stift zu Quedlinburg, das sie gründete, nur Personen aus dem höchsten freien Stande, weil sie, wie die Annalen berichten, daran festhielt, daß eine Wohlgeborene selten und nur aus schweren Gründen entarte. Alle älteren Klöster wurden nur mit Adligen besetzt, die Äbte und Äbtissinnen gehörten oft dem Reichsfürstenstande an. Man wußte wohl, daß Petrus, ein Fischer, gesagt hatte: Bei Gott gilt kein Ansehen der Person, und bekannt waren die Worte, die Paulus an die Galater richtete: »Denn diejenigen, die in Christus getauft sind, haben Christus angezogen. Da ist nicht Jude oder Grieche, da ist nicht Sklave oder Freier, nicht Mann oder Frau, ihr seid alle eines in Jesus Christus«, aber man dachte nicht daran, diese Gesinnung zu verwirklichen. Selbst Bischof Udalrich von Augsburg, der heiliggesprochen wurde, ein schwäbischer Graf von Dillingen, ließ sich auf Reisen, anstatt zu reiten, in einer Sänfte tragen, um nicht mit Leuten aus dem Volke in Berührung zu kommen und durch ihr Geschwätz im Psalmensingen gestört zu werden. Bevor er selbst Bischof wurde, verschmähte er es, in den Dienst seines Vorgängers zu treten, weil derselbe nicht vornehm genug war. Vom Erzbischof Tegino von Magdeburg, der als ein Muster aller Tugenden, als gottesfürchtig, liebevoll, wohltätig, milde, keusch geschildert wird, heißt es gleichzeitig, daß er gern solche um sich hatte, die durch Adel der Geburt und Sitte sich auszeichneten, während er Niedere zwar nicht verachtete, aber sie doch von seinem Umgange fernhielt. Man sieht daraus, daß man Adel der Geburt und Adel der Sitten als selbstverständlich zusammenfallend betrachtete. Als jemand die heilige Hildegard von Bingen fragte, wie sich die Bevorzugung des Adels in den Klöstern mit den Forderungen des Christentums vertrage, sagte sie: »Wer würde sein Vieh zu einer Herde und in einem Stalle vereinigen? Ochsen, Esel und Schafe?« Die Vermischung führe zum Haß, wenn Hochgeborene den Niedriggeborenen weichen müßten. Gott unterscheide das Volk auf Erden, gleichwie er im Himmel Engel, Erzengel, Throne, Herrschaften, Cherubim und Seraphim unterscheide. In späterer Zeit sagte Erasmus von Rotterdam in bezug auf das Domkapitel von Straßburg: »In dies Kolleg hätte Christus ohne Dispens nicht aufgenommen werden können«, und ähnlich ein junger Kanoniker um 1500: »Wenn heute der Herr auf Erden wandelte, würde das Stift von St. Alban (in Mainz) ihn abweisen.« Es ist berechnet worden, daß von 900-1500 von 166 Erzbischöfen 134 edelfrei, 10 von Ministerialadel, 4 bürgerlich waren. Heinrich II. war nach Ludwig dem Frommen der erste Kaiser, der einige Unfreie wegen ihrer Tüchtigkeit zu Bischöfen machte. Man muß zugeben, daß der Adel im frühen Mittelalter die große Nachfrage nach tüchtigen Männern ausgiebig befriedigen konnte.

Es fiel den Zeitgenossen auf, daß unter den benachbarten Völkern eine so strenge Trennung unter den Ständen wie in Deutschland nicht beobachtet wurde. Der Oheim Friedrich Barbarossas, Bischof Otto von Freising, erzählt von den lombardischen Städten, ihrer Freiheitsliebe, ihren Konsuln, die »zur Unterdrückung des Hochmuts«, wie er sagt, aus jedem Stande gewählt wurden. Sie halten es nicht für unwürdig, sagt er, an Jünglinge niederen Standes und Arbeiter verächtlicher, auch mechanischer Gewerbe, welche andere Völker von den edleren und freieren Studien wie eine Pest fernhalten, den Gürtel der Ritterschaft oder den Grad der Würden zu verleihen. Nicht ohne Bewunderung fügt er hinzu, daß die lombardischen Städte an Reichtum und Macht über andere Städte des Erdkreises hervorragen. Die Klöster der kluniazensischen Richtung, die von Westen her eindrang, machten keinen Unterschied zwischen den Ständen.

Der Standeshochmut hat einen verständlichen Sinn, wenn die dienende Schicht sich aus Kriegsgefangenen zusammensetzt, aber schon mit dem 9. Jahrhundert fingen die ärmeren Freien an, in die Klasse von Hörigen herabzusinken, und dieser Vorgang nahm in den folgenden Jahrhunderten zu. Es war ein Unglück, für das anfangs kaum ein einzelner verantwortlich zu machen war. Die Ursache lag hauptsächlich darin, daß sich viele kleine Bauern dem Kriegsdienst, den die beständigen Überfälle durch feindliche Völker erforderten, dadurch entzogen, daß sie ihr Gut geistlichen oder weltlichen Großen zu Lehen auftrugen und von diesen abhängig wurden. Auch ist es so, daß in Zeiten der Naturalwirtschaft die Erde die Menschen entweder zu erblichen Eigentümern oder zu Hörigen macht; sie verwachsen so oder so mit dem Boden. Jeder große Grundbesitzer trachtete danach, möglichst viel hörige Leute zu bekommen, die den Boden bebauten, und wenn er Stücke seines Landes in Erbpacht an Freie austat, so erleichterte ihm die Verwaltung und das Gerichtswesen, sie in Abhängigkeit herabzudrücken. Nicht grundsätzlich, aber tatsächlich fielen Armut und Abhängigkeit meist zusammen. Im 11. Jahrhundert wurden die bedeutenderen Freien noch als zur Huldigung des neuerwählten Königs zugezogen erwähnt; der freie, aber arme Bauer nahm am Schicksal des armen Hörigen teil. Die schwäbischen Bauern, die zur Zeit Heinrichs IV. dem Gegenkönig Rudolf, ihrem Herzog, zuzogen, wurden von den sie besiegenden Rittern entmannt, weil sie, obwohl freie Leute, als unwürdige Gegner angesehen wurden, nicht Feinde, sondern Knechte, die gegen Herren die Waffen zu tragen wagten. Wieviel Großes auch der mittelalterliche Adel in Deutschland geschaffen hat, sein Standeshochmut, der zwischen Hochgeboren und Niedriggeboren eine unüberbrückbare Kluft schuf, wurde Deutschland verderblich; er war die Ursache, daß sich im selben Volke zwei Völker gegenüberstanden, die sich weniger verstanden und mehr haßten als fremde Völker.

Von den Tugenden, mit deren Besitz der Adel seinen Herrschaftsanspruch rechtfertigte, war Tapferkeit die vornehmste. Sie war die selbstverständliche Eigenschaft des Edlen. Rauflust war dabei; aber es gehörte dazu vor allen Dingen die Kraft, Gefahren nicht zu scheuen und dem Tode furchtlos zu begegnen. Ein überschäumendes Kraftgefühl erzeugte die Lust am zischenden Schwert, am sausenden Speer, Rausch des Blutvergießens, das Bewußtsein der Ehre, die stolze Haltung vor dem Feinde, in Todesqualen. Tapferkeit flößte so viel Achtung ein, daß sie auch den Feind, ja selbst den Verräter lieb machen konnte. Den slawischen Prinzen Gottschalk, der auf die Nachricht, daß sein Vater von einem Sachsen ermordet war, das Kloster verließ, in dem er erzogen war, und unter den Sachsen wütete, schonte Herzog Bernhard von Sachsen, in dessen Hände er schließlich fiel, weil er seine Tapferkeit bewunderte, und entließ ihn ungekränkt nach England. Nie vergaßen auch die Mönche, die Geschichte schrieben, Waffenkämpfe mit sichtlichem Anteil zu schildern. Tapfere Taten sicherten unvergängliches Erinnern; von dem Sachsen Heriger, der als Gefangener die Dänen in ein Moor führte, wo sie mit ihm untergingen, wurde lange gesungen und gesagt. Ein griechischer Schriftsteller erzählt uns die folgende Geschichte von einem Deutschen, der während des von Barbarossa unternommenen Kreuzzuges in der Nähe von Ikonium hinter seinen Landsleuten zurückgeblieben war. Er war von riesigem Wuchs und ungeheurer Kraft und zog sein erschöpftes Roß am Zaume hinter sich her. Auf einmal erschienen etwa fünfzig ismaelitische Reiter, bildeten einen Kreis um ihn und beschossen ihn von allen Seiten. Er deckte sich mit seinem Schild und ging vergnüglich weiter, unbekümmert um die feindlichen Geschosse, als wäre er ein Fels. Als aber einer der Reiter näher herankam und mit dem Säbel auf ihn einhaute, wurde er ungeduldig, nahm sein Schwert und schlug mit einem Hieb die Vorderfüße des feindlichen Pferdes ab, als wären es Grashalme, dann spaltete er mit einem zweiten nicht nur den Kopf, sondern den ganzen Oberkörper des Gegners, so daß derselbe in zwei Hälften auseinanderfiel, und daß der Schnitt noch tief in den Rücken des Pferdes eindrang. »Wie ein Löwe, der sich auf seine Kraft verläßt, zog er gemächlich weiter, ohne seinen Schritt zu beschleunigen, und traf abends im Lager seiner Landsleute ein.« Offenbar entzückte den Griechen, wie hochmütig er sonst auf die Barbaren herabsah, die grandiose Naturerscheinung solcher Riesenleiber, in denen das Herz friedlich schlägt, während die Faust vernichtende Schläge austeilt. Das Bewußtsein überlegener Kraft ermöglichte dem Namenlosen, auf kahler Ebene mitten durch die Schlacht zu schlendern, als trabe er durch die Dämmerung seines rauschenden Eichenwaldes. Ähnlich war der Thurgauer, der die Wilzen und Avaren wie Gras auf der Wiese mähte und wie Vögelchen auf seine Lanze spießte. »Was soll ich mit diesen Kröten?« sagte er zu den Daheimgebliebenen, die ihn nach seinen Kriegserlebnissen ausfragten, »sieben oder acht oder auch neun spießte ich auf meine Lanze und trug sie hierhin und dorthin, weiß nicht, was sie dazu brummten. Unnützerweise haben der Heerkönig und wir uns gegen solche Würmer abgemüht.« Diese Männer erinnern an die Riesen der Sage, die in aller Gutmütigkeit mit zermalmenden Füßen über die schwächeren Geschöpfe wegschreiten.

Der Pflege ritterlicher Tugenden kam die Pflege des Geistes nicht gleich. Im allgemeinen lernte der Adlige nicht nur nichts, sondern tat sich etwas darauf zugute, nichts gelernt zu haben, um sich gründlich von den bücherlesenden Klerikern zu unterscheiden. Von Otto des Großen Schwiegersohn, Konrad dem Roten, erwähnt der Geschichtsschreiber rühmend, er sei nicht nur ein unwiderstehlicher Recke in der Schlacht, sondern auch klug im Rat gewesen, was bei tapferen Männern selten sei. Schon Karl der Große tadelte die Geringschätzung des Wissens und der geistigen Ausbildung am Adel auf das ernstlichste, und ähnliche Klagen wiederholten sich häufig. Wenn der Adel Interessen hatte, die über Pferde, Waffen und Kampf hinausgingen, so betrafen sie die Landwirtschaft; denn Bauern waren sie ja alle, ob sie nun Großgrundbesitzer oder Pächter oder Kleinbauern waren. Von einem lothringischen Grafen Immo wird erzählt, wie er den Herzog Giselbert von Lothringen dadurch ärgerte, daß er ihm eine Schweineherde entwendete, indem er durch ein Ferkel, das er vor seiner Burg herumführen ließ, das herzogliche Vieh von seinem Wege ab und in die Burg hineinlockte. Aus einem Fenster seiner Burg beobachtete er schadenfroh die Ankunft des feindlichen Schweinehirten und das Gelingen seines Planes. Doch würde es einen falschen Begriff von dem Worte Geist geben, wenn man diese Bauern ungeistig nennen wollte, weil sie nicht lesen konnten und von Grammatik und Theologie nichts wissen wollten. Ihr Kopf brauchte deshalb nicht leer zu sein: sie hatten Erfahrung in allen Verwickelungen des Lebens, konnten sich Menschenkenntnis erwerben, mußten in Rechtsfällen urteilen können, waren in Feld und Wald und Wiese zwischen den Tieren ihres Hofes und den Tieren des Waldes zu Hause; sie hörten die Predigt von den göttlichen Dingen, von Gut und Böse, hörten die Lieder von den Taten der Vorfahren, Himmel und Erde gaben denen Stoff genug zum Nachdenken, die nachdenken wollten. Otto I. lernte in höherem Alter Latein, und sprechen konnte er es nie; dennoch, wieviel größer war er als sein gelehrter Enkel, den man das Wunder der Welt nannte. Die Großen und Begabten bedürfen der Wissenschaft nicht, vielmehr, sie eignen sich davon an, was sie brauchen; aber für die Mittelmäßigen, Unbegabten, Stumpfsinnigen ist Erweiterung des Gesichtskreises durch Lernen notwendig, und diese, nicht die Begabten sind überall in der Mehrzahl. Die Roheit und Unwissenheit des Adels, die ihn nachteilig unterschieden von Italienern, Franzosen und Engländern, wirkten mit dazu, daß die Kaiser sich ihre Mitarbeiter und Ratgeber hauptsächlich im Klerus suchen mußten. Allerdings, auch der Klerus war Adel; man kann ihn im frühen Mittelalter als eine Auslese der Begabten des Adels betrachten.

Wenn der Abfall der großen Vasallen auch so häufige Erscheinung war, daß man sagen kann, die Geschichte der meisten Könige spielte sich am Rande eines Abgrundes ab, so wäre es doch gewagt, daraus zu folgern, die Treue sei bei den Deutschen wegen ihrer Seltenheit so hoch geschätzt worden. Bei den Reichen und Mächtigen wird man im allgemeinen diejenigen Eigenschaften suchen müssen, die im Kampf ums Dasein Vorteil schaffen, vorwärtsbringen, nicht die edleren, die den Nutzen der Ehre nachstellen. Nicht auf den Höhen, sondern in den unteren und mittleren Schichten sind diejenigen Tugenden heimisch, die den Bau der Gesellschaft zusammenhalten. Die Treue und das Pflichtgefühl unzähliger, deren Namen niemand überliefert, erhält die Ordnung, die auf der Geltung des Rechtes und der Heiligkeit des gegebenen Wortes beruht, wenn Machtgier und Habgier einiger Großer die Welt in ein Chaos zu stürzen drohen. Da, wo sich eine Macht gebildet hat, die die Grenze privater Sphären überschreitet, verlieren die privaten Tugenden ihre Geltung; in der Politik setzt sich auch der redliche Mensch über die Gebote der Redlichkeit hinweg, und es müßte ein solches Sichhinwegsetzen über das Recht zu gänzlicher Auflösung führen, wenn nicht Gegenwirkungen vorhanden wären oder sich bildeten. So braucht man denn aus dem Verhalten des hohen Adels gegen die Könige nicht auf Treulosigkeit des deutschen Adels überhaupt zu schließen. Wohl waren aus den Gefolgsleuten des Königs durch die Landverleihung Fürsten und Nebenbuhler des Königs geworden; aber es fehlte doch nie an einem echten Gefolge, das sich für seinen Herren in Stücke hauen ließ. Bedenkt man, wie wenig Mittel vorhanden waren, um das Recht zu stützen, muß man es erstaunlich finden, wie das Recht geachtet wurde. Ein Volk, das fast durchweg bewaffnet und in den Waffen geübt war, in dem jeder Freie dem anderen Fehde ansagen konnte, beugte sich freiwillig vor alten Pergamenten, auf denen alte Privilegien verzeichnet waren, wagte selbst abhängigen Bauern die Abgaben nicht über das Herkömmliche zu steigern, wenn auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen andere geworden waren. Das Heilighalten des Rechtes hängt zusammen mit der Ehrfurcht vor den Göttern; diese beseelte den Deutschen, wenn er auch die christlichen Gebote häufig verletzte. Nicht nur, daß er die äußerlichen Formen des religiösen Lebens mitmachte, die Kirche besuchte, die Messe hörte, die Knie vor dem Allerheiligsten beugte; Weltliche wie Geistliche fühlten sich eingebürgert in dem wunderbaren Reich, das die Erde, den Stern der Mitte, umrundete, in dem das Sichtbare und das Unsichtbare eingegossen war. Das Drüben, wo alle Tränen versiegten, war nichts Fernes, nicht ein entlegener Ort, sondern es war da, wo man stand, ein Meer des Glanzes, das aufblinken konnte, wo immer ein Gläubiger den trügenden Schein der Welt überwand. Kam die Stunde des Todes, so löschte die sterbende Hand das letzte Fünkchen Welt aus, und der Tote tauchte in den Goldgrund der Dinge. Die Verbundenheit mit dem Jenseits bewog so viele Adlige, die diesseitige Welt, nachdem sie ihre Freuden erprobt hatten, plötzlich mit einer heroischen Gebärde von sich zu stoßen, zuweilen jung, vor der Hochzeit, trotz des Flehens der Eltern, zuweilen auf der Höhe des Ansehens und der Erfolge. Gero, der berühmte Markgraf Ottos des Großen, der einen Teil des slawischen Landes zwischen Elbe und Oder eroberte, von dem das Volkslied sang, daß er dreißig slawische Große ermordet habe, endete sein Leben im Kloster. Der Tod seines letzten Sohnes, in dem er auf Erden weiterzuleben gehofft hatte, erschütterte das Herz, das in zahllosen Schlachten nie unruhiger geschlagen hatte. Schon sein Vater hatte geplant, ein Nonnenkloster in der Nähe einer seiner Burgen zu stiften; das führte er nun aus, um die Zukunft der jungen Witwe seines Sohnes zu sichern, die er, wie es scheint, zärtlich liebte. Sie hat 55 Jahre lang der Abtei Gernrode als Äbtissin vorgestanden. Dann ging er, nicht zum ersten Male, nach Rom und legte das zur Bekehrung der Heiden geführte Schwert zu Füßen des Papstes nieder; schon nach anderthalb Jahren starb er. Für den Kriegsmann wie für den Geistlichen war der Übergang von der Erde zum Himmel weniger als ein Schritt, nur ein Schließen der Augen: die irdischen Lichter erlöschen, über der Seele gehen die göttlichen Geheimnisse auf.

Herzog Bernhard zur Lippe, ein treuer Anhänger Heinrichs des Löwen, wurde aus einem gefürchteten Kriegsmann, der vor Beraubung von Klöstern nicht zurückgeschreckt war, ein Kreuzzugsprediger und schließlich ein Bischof. Als Vater von fünf Söhnen und sechs Töchtern trat er in ein Kloster ein nach Überwindung des Widerstandes seiner Frau, die vermutlich weniger gesündigt und mehr gelitten hatte als er. Der religiöse Schwung war so stark, daß, wenn die Klöster entarteten, was immer geschah, sich neue Orden bildeten, die sie reformierten und mit religiösem Leben erfüllten. Im zwölften Jahrhundert gründeten Adlige die vielen Zisterzienserklöster, die so Großes zur Kultivierung des Nordens und Ostens geleistet haben. Graf Brüning von Gleichen trat in das Kloster Volkerode ein, das seine Mutter nördlich von Mühlhausen in Thüringen gegründet hatte, Graf Siegfried von Bomeneburg gründete Kloster Amelungsborn, ein Edler von Wolmundstein, der einen Freund im Turnier verwundet hatte, Kloster Waldsassen, Ritter Ludolf von Wenden das Kloster Riddagshausen bei Braunschweig, Graf Wilbrand von Hallermund in einer Einöde zwischen dem Steinhuder Meer und der Weser Kloster Loccum. Erklärt auch der wirtschaftliche Nutzen, den die Zisterzienserklöster brachten, ihre rasche Aufnahme, so war doch fast in jedem einzelnen Fall ein religiöses Gefühl der Antrieb der Stiftung, Reue über vergossenes Blut, Einsicht in die Flüchtigkeit irdischer Güter oder auch nur die Meinung, daß ein wirkungsvoller Akt der Frömmigkeit zur Vollendung eines christlichen Edlen gehöre.

Die enge Verbindung des kriegerischen Adels mit der Kirche wird erst recht verständlich, wenn man bedenkt, daß die frühmittelalterliche Kirche einen heidnischen Charakter hatte. Sie hatte ihn nicht nur, weil ihre Glieder zum großen Teil erst kürzlich bekehrte Heiden waren, nicht nur, weil zahlreiche Elemente des Heidenglaubens in die Kirche aufgenommen und übergegangen waren. Christus kam in eine erstarrte Welt, die er das Sterben lehrte. Er ist der Gott des Todes, darum waren seinem Antlitz von Anfang an Züge tiefster Trauer eingegraben. Vielleicht erlebte in ihm die Menschheit zum ersten Male bewußt den Tod. Das junge Germanenvolk war noch nicht erstarrt, sein Dasein vollzog sich jenseits von Gut und Böse, zwischen seinen strömenden Kräften des Hasses und der Liebe, des Frevels und der Reue konnte die Selbstsucht nicht zu hemmender Schranke gerinnen. Der spätere Mensch sieht mit Staunen, wie in der mittelalterlichen Welt entsetzlicher Blutdurst und zarte Himmelssehnsucht, Hochmut und Demut sich kreuzen, wie schwerste Verbrechen durch ein gelindes Priesterwort gesühnt werden, wie hohe Kirchenfürsten ihre irdischen Leidenschaften austoben, ohne sich dadurch beschwert zu fühlen. Blutrote Sünde wusch eine Träne ab. Diese junge Welt, in der der Tod nicht schmerzte, weil sie so voll Leben war, daß der Tod nur ein Überströmen in neues Leben bedeutete, erlebte das Christentum anders als die antike Welt, die vergessen hatte, daß nichts auferstehen kann, was nicht zuvor gestorben ist. Dementsprechend mußte die Kirche sich wandeln.

Das Gudrunlied erzählt, wie nach der blutigen Schlacht auf dem Wülpensande die überlebenden Helden die Toten zu bestatten beschließen, nicht nur die Freunde, sondern auch die Feinde, damit sie nicht den Raben und Wölfen zur Speise werden. Damit ihres tapferen Endes ewig gedacht werde, stiften sie ein Kloster mit einem Hospital, zu dessen Gunsten die Verwandten der Gefallenen Gaben beisteuern. Auch der Armen wird gedacht: ihnen soll der Erlös aus den Pferden, Rüstungen und Gewändern der Gefallenen zugute kommen. Eine Anzahl von Pfaffen, die dem Kloster zugewiesen wurde, soll betend und singend die Seelen der Erschlagenen Gott empfehlen. Vor der Schlacht hatten sie, weil es ihnen an Schiffen fehlte, einer Pilgerschar, die auf der Insel gelandet war, ihre Schiffe weggenommen; diesem Frevel schrieben sie den unglücklichen Ausgang des Treffens zu, und damit sie beim nächsten Gefecht besseres Glück hätten, beeilten sie sich nun, den Schaden zu ersetzen. Dann segelten sie heim, das Herz erfüllt von Rachegedanken, ungeduldig gespannt auf neues Blutvergießen. So war das Christentum der Edlen: zuweilen wurde ein härenes Gewand über den strahlenden Harnisch gezogen, dann, nachdem es wieder im Gepäck versorgt war, schlug das wilde heidnische Herz, ganz eins mit sich, dem nächsten Turnier, der nächsten Fehde, neuen Taten und Untaten entgegen. Die Kirche war mit diesen Söhnen zufrieden, und es ist anzunehmen, daß Gott es auch war.

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